Wir erinnern uns an eine Reihe von unkonventionellen Maßnahmen der EZB im Rahmen der Bewältigung der Finanzkrise. Auf den Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 hat die EZB neben einer Senkung der Leitzinsen auf 1% im ersten Jahr der Krise zur Liquiditätsversorgung des Finanzsystems auf eine ganze Reihe unkonventioneller Maßnahmen zurückgegriffen. Die reichten von Swap-Operationen in Devisen zur Bereitstellung von Fremdwährungsliquidität über die Ausweitung der refinanzierungsfähigen Sicherheiten bis zur unlimitierten Zuteilung von Liquidität zum jeweiligen Hauptrefinanzierungssatz im Rahmen des Tenders1. Mit der Ankündigung des Erwerbs von Pfandbriefen im Ausmaß von 60 Mrd.€ folgte die EZB der Praxis der US-amerikanischen Zentralbank (Fed), die schon seit Längerem bestimmte Finanzmarktsegmente direkt mit Liquidität unterstützte, was zu einer Verschiebung von Wettbewerbsbedingungen der Volkswirtschaften der USA und der Euro-Zone mitunter geführt hat.
Die meisten dieser Maßnahmen zielten einerseits darauf ab, den im Zuge von Finanzkrisen häufig auftretenden Deflationsrisiken wirksam vorzubeugen2. Die konventionelle Geldpolitik als Teil der keynesianischen Nachfragesteuerung wird, wie wir soeben sahen, unwirksam, sobald sie die Nullzinsuntergrenze erreicht hat, die nicht unterschritten werden kann. So geht die allgemeine Lehrmeinung natürlich davon aus, dass auf der Zinsebene keine Deflation stattfinden kann, die sich ergeben würde, wenn negative Nominalzinsen erreicht würden. Denn unsinnig erschien, Gläubigern für das Verleihen von Geld eine Gebühr zahlen zu lassen. Dies galt also aufgrund des Umstands, dass die Geldhaltung eine Rendite von Null hat, als ausgeschlossen. Kein Sparer würde einen negativen Zins akzeptieren, sondern eher Bargeld horten, in das Finanztitel ja jederzeit konvertiert werden können. Aber genbau das ist geschehen. Zwar nicht auf den privaten Geldmärkten, aber bei den Geschäftsbanken.
So stand die EZB vor der Situation, dass bereits kurz nach Ausbruch der Finanzkrise ein angemessener Leitzinssatz gar nicht mehr nach allen Kapiteln der Vernunft angebbar war. Hätte sie die Taylor-Regel3 angewendet, hätte sich für die gesamte EU-Zone eben ein solcher nominell negativer Zinsatz ergeben, aufgrund der außerordentlich hohen negativen Produktionslücke4. So versuchte die EZB durch immer neue, unkonventionelle Maßnahmen, die Deflationsgefahr zu bannen und kam dabei in die Situation, dann doch einen Negativzins für vor allem die sog. overnight credits der Geschäftsbanken zu erheben.
So wie die Notenbank schwer nur die genaue Größe der Produktionslücke bestimmen kann, allenfalls kann dieser geschätzt werden mit einigen größeren Unschärfen, so ist ihr die Taylor-Regel auch schnell zum Hindernis gworden. Ist die Taylor-Regel – eine Weiterentwicklung des IS-LM-Modells – eine Art Handlungsanleitung für Notenbanken, den Zielwert für ihr wichtigstes geldpolitisches Instrument, den kurzfristigen Zinssatz (Federal Funds Rate) auf dem Geldmarkt, festzulegen, ist sie gleichzeitig auch Opfer deren Schwächen. Denn nähert sich der nach Taylor berechnete Leitzinssatz seiner Untergrenze Null für den nominellen Zinssatz, gelingt es der Taylor-Regel nicht mehr, die Bindung des Systems an die geldpolitischen Ziele zu gewährleisten. Es bleiben also keine anderen als unkonventionelle Maßnahmen mehr, um das Deflationsrisiko gering zu halten.
Und dabei ist die Anwendung der Regel in Europa in gewisser Hinsicht leichter als in den USA. Im Gegensatz zur Europäischen Zentralbank strebt die amerikanische Zentralbank neben dem Ziel stabiler Preise auch einen hohen Beschäftigungsstand und moderate, langfristige Zinsen an. Wird also wie in Europa die Tylor-Regel angewandt, dann ist ihre hohe Sensitivität gegenüber bestimmten Variablen und Koeffizienten nicht unproblematisch. Denn die Bestimmung der Koeffizienten mit denen die Produktions- und Inflationslücke gewichtet werden, ist strittig. Legt eine Zentralbank Wert auf eine strikte Inflationsbekämpfung wie etwa die EZB, so wird sie die Inflationslücke höher bewerten als die Produktionslücke. Die Festlegung einer angemessenen Gewichtung lässt sich nicht korrekt bestimmen, da sie von mehreren Faktoren abhängt, wie z.B. der aktuellen „Inflationskultur“ einer Gesellschaft, oder der Arbeitsmarktkonstellation. Beide unterscheiden sich deutlich zwischen den USA und Europa.
Folglich müssen diese Größen geschätzt werden, was sehr riskant sein kann. Es wäre bspw. auch möglich, dass die Gewichtung von der Politik festgelegt werden muss, was aber auch keine wirklich sinnvolle Alternative sein kann.
Im Unterschied zur konventionellen Geldpolitik, bei der die zeitlich begrenzte Versorgung von Banken mit geliehenem Notenbankgeld im Vordergrund steht und diese Liquiditätslücke mit Wertpapiere als Sicherheit hinterlegt ist, erwerben Notenbanken nun Wertpapiere auf direktem Weg5, um spezifische, etwa von Illiquidität betroffene Finanzmarktsegmente zu unterstützen.
Diese, euphemistisch bezeichnete Strategie eines „credit easing“ zielt primär darauf ab, Liquidität zu erhöhen und Risikoprämien zu senken. Aber das heißt konkret, das Notenbanken ganzen Finanzmarktsegmenten als „weißer Retter“ beispringen, ohne den eine Pleite wohl kaum abzuwenden wäre. Und das es auch nicht darum geht, diese Segmente nur zu retten, sondern eine Ausbreitung der Finanzkrise auf fast alle Wirtschaftssegmente zu verhindern, ist es auch nicht mehr angebracht, von „Schocks“ zu sprechen.
So lösten damals auch durch die Herabstufungen hypothekenbesicherter Wertpapiere sowie strukturierter Produkte durch die Ratingagenturen über die Schattenbanken genannten Zweckgesellschaften einen Flächenbrand an Liquiditätsmangel aus, der durch die enormen Kredithebel rasant ins schier endlose gesteigert wurde. Der Verfall von Vermögenswerten traf somit auch besonders jene Institute, die über keine eigene Einlagenbasis verfügten wie die großen Investmentbanken und Zweckgesellschaften.
Einige Banken hatten sich, wie sich herausstellte, benommen wie Elefanten im Prozellanlanden in drogengepushter Feierlaune. Nur war die Party nicht gleich vorbei, als die Eltern zu Hause endlich wieder eintrafen. Verhindern konnten die Notenbanken die Feierlaune nicht. Nun standen sie vor den Folgen der Dionysien. Die dramatische Zuspitzung der Krise im Herbst 2008 hatte beinahe alle Sektoren und Regionen des Wirtschaftsgeschehens mit deutlich negativen Auswirkungen getroffen.Und diese negativen Auswirkungen des Wirtschaftsgeschehens führten nun ihrerseits wiederum zu negativen Rückkoppelungen auf die Bankbilanzen und die Finanzmärkte. Die krisenbedingte Verschlechterung des Finanzierungsumfelds hat die konjunkturelle Situation insgesamt spürbar verschärft.
In so einer Situation ist mit reiner Geldmaktpolitik kaum etwas zu bewegen. Unkonventionelle Maßnahmen mussten ergriffen werden. Und hierbei stehen ganz bestimmten Mitteln ganz bestimmt Problemfelder gegenüber.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Taylor-Regel – Produktionslücke – Inflationslücke – „credit easing“
1 Zinstender – „Tender“ = Ausschreibung)
2 Gerlach, Stefan (2009) : The risk of deflation, IMFS Working Paper Series, No. 21, ebook.pdf
3 Die Taylor-Regel ist eine geldpolitische Regel zur Setzung des Leitzinses durch eine Zentralbank. Benannt wurde sie nach ihrem Erfinder, dem US-Ökonomen John B. Taylor.
4 Der Begriff Produktionslücke (auch Outputlücke, Output gap) bezeichnet die Abweichung des realisierten Bruttoinlandsprodukts (BIP) vom Produktionspotenzial (PP). Wenn diese Lücke verkleinert wird, werden wirtschaftliche Ressourcen effizient im Rahmen ihrer Möglichkeiten (volle Kapazität) verwendet.
Bernanke, B.: The Crisis and the Policy Response, Stamp Lecture, London School of Economics, 2009
Stefan Gerlach
Ben Shalom Bernanke (* 13. Dezember 1953 in Augusta, Georgia, USA)
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