Wir haben vergessen, was Armut ist. Wir, das sind vor allem die Politik, die Wissenschaft und die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, es nicht nötig zu haben scheinen, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Aber Armut gehört zum Leben, ist eine Tatsache wie die Sterblichkeit des Menschen.
Wir kennen Armut nicht mehr, weil wir keine eigene Erfahrung damit haben, weil wir sie verleugnen oder hinter Zahlenrelationen verzaubern. Selbst die sozialpolitischen Zuwendungen an den Sozialstaat legen einen politischen Mehltau über einen vermeintlichen, sozialen Fortschritt, der längst schon zum Stocken kam, füher als manchem politischen Führer und wissenschaftlichem Highflyer lieb ist.
Heute, da die deutsche Wirtschaft noch brummt – deutliche Anzeichen, dass das bald gründlich vorbei sein wird, gibt es zahlreiche, die aber kaum jemanden in Wissenschaft und Politik Ende des Jahres 2018 interessieren – kristallisieren sich zwei völlig konträre Auffassungen über die Wirkungen der sog. Hartz-Reformen aus. Die eine sieht darin einen der wichtigsten Gründe für den Aufschwung, die andere sieht in der Reform des Arbeitsmarktes keine Jobmaschine, sondern eine Armutsfalle.
Wenn Armut heute an die Türen der Arbeitsagentur klopft, dann gilt unter der Maßgabe von „Fördern und Fordern“ das unheilvolle Gesamtpaket der mittlerweile nachreformistischen Zeitenwende: Förderung ist der Staat – Schuld an der Armut resp. Arbeitslosigkeit ist der Mensch. Das erkennt man daran, dass in den Jobagenturen nach ein paar vergeblichen Versuchen, in Arbeit zu kommen, von „Entwicklungshemmnissen“ gesprochen wird. Je mehr jemand sich also bewirbt und Absagen erhält – Gründe sind zweitrangig – desto geringer werden seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die aber für Langzeitarbeitslose, Kranke und ältere Menschen (älter ist man bereits ab 49 Jahren) bei dürftigen, statistischen fünf Prozent und weniger liegen.
Nach der Statistik der Jobcenter liest sich das auf den ersten Blick viel besser und die Quote schwankt zwischen 56,4 und 75,5 Prozent. Den jüngsten Erhebungen zufolge lag sie im November 2016 (das sind die jüngsten Zahlen) für Hartz-IV-Empfänger bundesweit bei 67,1 Prozent. Das heißt: Zwei Drittel der Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos waren und deswegen Arbeitslosengeld II erhalten (auch als Hartz IV bezeichnet) und morgen aus der Arbeitslosigkeit heraus eine neue Stelle antreten, werden statistisch auch noch in einem Jahr beschäftigt sein.
Ja, wenn man nicht nur Bewerbung schreibt und Ablehnungen kassiert, dann kommt man wohl in einen Job; gut gefördert. Aber viele dieser Langzeitarbeitslosen werden als Zeitarbeiter eingestellt. Und die Statistik von den Jobcentern erfasst nicht, bei wie vielen Arbeitgebern der Vermittelte nach einem Jahr und mehr gearbeitet hat. Aber man weiß, Zeitarbeit hat in Deutschland dramatisch zugenommen. So gab es in Deutschland im Jahr 2017 rund 11.500 Unternehmen, die ausschließlich oder überwiegend Zeitarbeit betreiben und einen Vermittlungsumsatz von über 21 Mrd. erwirtschafteten. Die hatten also gut zu tun, die 1.03 Mio. Zeitarbeitnehmer im Jahresdurchschnitt in Arbeit zu halten. Für die Vermittler jedenfalls lohnt es sich, einen Zeitarbeitnehmer gleich mehrfach zu vermitteln. Und so finden wir diese Menschen am Ende der Lohnskala bei den „Relativen Armen“ wieder. Für den Menschen und den Arbeitsmarkt zugleich bedeutet das allerdings, dass man mit Hartz aus einem langzeitarbeitslosen Armen einen Langzeitarmen in Teilzeitbeschäftigung gemacht hat; wie genial.
Wenn also von Entwicklungshemmnissen gesprochen werden muss, dann nicht nur auf der Ebene immer schwerer werdender Vermittlungsfähigkeit am Arbeitsmarkt, sondern auch über die Entwicklungshemmnisse im Prozess des sozialen Fortschritts. Aber immerhin haben die Hartz-Reformen Langzeitarbeitslosigkeit und Armut aus den öffentlichen Diskursen gebracht. Und wie sieht heute das Urteil über eine kausale Beziehung zwischen Reformen und Aufschwung aus?
Wie wir bereits sahen, hat Armut trotz einer stark verbesserten Situation auf den Arbeitsmärkten, zugenommen. Trotz der Einführung des Mindestlohns hat Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Europa. Es gibt mehr als 45 Millionen Erwerbstätige in der BRD, ein Rekord wahrlich. Aber zugleich gelingt es über Jahre nun schon nicht, den Niedriglohnsektor zu reduzieren und q1ualifizierte Beschäftigung auszubauen, nicht einmal zu erhalten.
Von den 5,3 Millionen Arbeitslosen, 12,5 Prozent Jugendarbeitslosigkeit und 1,8 Millionen Langzeitarbeitslosen sind nur etwa 100.000 Langzeitarbeitslose in sozialversicherungspflichen Jobs, meist gering bezahlte gekommen. Bei den anderen beiden Gruppen sieht es erheblich besser aus, wobei auch viele der 5 Millionen vormals Arbeitslosen in prekären Jobs leben. Sog. Qualifizierungsmaßnahmen, oftmals ein Pleonasmus für Beschäftigungstherapie, schönen die Statistik zudem erheblich.
Schauen wir in die Geschichte ein wenig weiter zurück, dann endete jeder Konjunkturaufschwung mit einer höheren Sockelarbeitslosigkeit als der vorangegangene. Und Armut hat dabei stets auch zugenommen, wenn auch umterminiert und verschoben in Bereiche des Arbeitsmarktes, wo sie vorher nicht zu finden waren. Wir halten fest, Arbeit bedeutet noch lange nicht sozialer Fortschritt.
Drei Diskurse beherrschten die Medien zwecks Legitimierung von Handlungen auf den Arbeitsmärkten. Ein auf den sozialen Fortschritt verschobener, keynesianischer Diskurs, wonach Arbeitsmarktpolitik Sozialpolitik sei. Ähnlich wie die „Tonnenideologie“ der Schwerindustrie in sozialistischer Produktionsplanung gaben die arbeitsmarktpolitischen Institutionen mehr und mehr Geld in die Sozialsysteme und Nachqualifizierungs- wie Umschulungsmaßnahmen in dem Glauben, damit dem Problem der Arbeitslosigkeit beizukommen. Nach dem Motto politischer Einfallslosigkeit: mehr Geld, mehr sozialer Fortschritt war das politische Gewissen beruhigt und der Not von Arbeitslosigkeit und Abstiegsangst hinreichend begegnet. Eine Analayse, ob denn die riesigen Summen auch die gewünschte Wirkung hervorrufen gab es nicht, zumal ja die semantische Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit höchst erfolgreich war. Und, man wusste es in der Politik auch nicht beser.
Stellen in den verwaltungs- und ordnungspolitischen Institutionen wurden nicht neu- oder wiederbesetzt. Die Probleme sehen wir heute in den Staatsdiensten, vor allem in Polizei, Bildungssektor und Justiz. Von der Erhaltungsarbeit der gesamten Infrastruktur der BRD bis hin zum militärischen Bereich wollen wir gar nicht sprechen. Schulen bröseln vor sich hin und sind technisch im Bereich der Lernmittel noch auf dem Stand von Tafel und Griffel, Brücken kaputt, Panzer verrostet, Fluggerät Bodenhocker, Verkehrsinfakt überall, eGovernment unsichtbar usw.
Der die reale Wirtschaft adressierende Diskurs war damals komplett verengt auf ein Argument: die Wettbewerbsfähigkeit. Und die hatte man wiederum total verengt auf das Argument der Lohn- bzw. der Lohnstückkosten. Oder anders gesagt, die Politik hattte die Globalisierung entdeckt. Da stand also nun ein deutscher oder europäischer Arbeiter gegen einen vietnamesischen oder chinesischen Arbeiter im Wettbewerb oder eben die entsprechenden Arbeitsmärkte aus der Sicht der Lohn- bzw. deren Stückkostenanteile. Vergleicht man nicht die Qualität (inklusive der Produktivität) der Arbeit, sondern nur die Arbeitskosten miteinander, hat man natürlich sogleich auch eine Relation zu den unterschiedlichen Niveaus des sozialen Fortschritts gesetzt. Passt man die Kosten an, zieht man den sozialen Fortschritt natürlich gleich mit hinunter.
Arbeitsmarktpolitik war damals und oft im harmonischen Gleichklang mit der durch die Ökonomik orchestrierten Diskurse der einfältigen Überzeugung, dass unter den Bedingungen der Globalisierung der Faktor Arbei nicht besser sein muss als in anderen Volkswirtschaften, sondern billiger. Man glaubte, unsere Waren seien zu teuer und dass die deutsche Industrie eben deswegen im Exportgeschäft günstigere Preise braucht. Ergo, die Sozialsysteme müssen gekürzt werden, die Löhne müssen runter, die Beitragssätze resp. Arbeitgeberanteile für den sozialen Fortschritt, also die Lohnstückkostenanteile der Arbeit müssen sinken; schlicht zusammenfasst, die Kosten für die Arbeit müssen runter. Und so geschah es.
Der soziale Fortschritt als der Anteil von existenzsichernder Arbeit in Relation zum wirtschaftlichen Fortschritt wurde nicht nur verringert, sondern auch hinter einem Diskurs gleichsam ausgehebelt, in dem der ökonomische Fortschritt im Prozess der Globalisierung den sozialen Rückschritt in Richtung Armut erfordert. Armut in Europa wurde eine Relation zur Armut in Südostasien und in China.
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Hartz-Reformen – „Entwicklungshemmnisse“
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