Es ist ein Armutszeichen, wenn eine Gesellschaft, deren Wirtschaftssystem nicht nur für ein auskömmliches Einkommen sorgt, sondern dies auch über Jahrzehnte hinweg weiter entwickelt hat, in Teile von arm und reich zerfällt. Und dieser Zerfall zudem an den Rändern von sehr reich und sehr arm seine größte Dynamik entfaltet. Dann ist die Idee und das soziologische Leitbild vom sozialen Fortschritt verloren gegangen, ja sogar ins Gegenteil verkehrt.
Ein weiteres Armutszeugnis ist, wenn man etwa in der Glücksforschung die zunehmende Verlustaversion mit der steigenden Zufriedenheit des neuen Homo Oeconomicus identifiziert. Ja, als der Wald noch der Sehnsuchtsort der Deutschen war, störten den Frieden dort weder Jagd noch Forstwirtschaft. Wenn überhaupt, beeinträchtigten Hobby und Ökonomie bei den sommerlichen Spaziergängen im Schatten und frischer Luft die Sehnsucht nur mäßig.
Ausgerechnet die Glücksforschung hat den Wald nicht mehr im Portfolio wissenschaftlicher Untersuchungsdesigns. Sie findet die Einkommensmitte als den neuen Sehnsuchtsort der Deutschen und konstatiert: Egal, wie viel oder wie wenig jemand verdient, die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger sieht sich als Teil der Mittelschicht. „In Deutschland hat die Bevölkerung eine hohe Affinität zu dieser Schicht.“1 Und wie das Schicksal über die alten Minoer kommt nun die Subjektivität als Forschungsansatz über den Leser, die alles, was als arm und reich zu bestimmen ist, aus einem Meinungsreport heraus beurteilt.
Sozialstaatssurveys wie das stolz genannt wird, dozieren die Ergebnisse repräsentativer Befragungen, zumal noch im Auftrag der Bundesregierung durch geführt. Demnach setzt subjektiv durchschnittlich jener Mensch, der weniger als 1.190 Euro netto im Monat verdient, die Grenze zum Reichtum im Schnitt bei einem Einkommen von 7.669 Euro brutto pro Monat an. Die Armen im Sinne der Einkommensarmut, immerhin dreizehn Millionen Menschen in Deutschland, wovon knapp 3 Mio. über niedrige, 5 Mio. über mittlere und 1 Mio. über eine hohe Bildung verfügen, phantasieren also Reichtum als dasjenige Einkommen, das ein bis zwei Kinder erlaubt, eine schöne Wohnung, ein Auto und ein bis zweimal Urlaub pro Jahr, drei bis vier Sterne Unterkunft, selbstverständlich. Für sie ist also der Mittelstand als soziale Schicht bereits reich.
Entsprechend verhält es sich bei den anderen Einkommensklassen. Wer zwischen 1.700 und 2.378 Euro verdient, für den liegt die Grenze bei 9.121 Euro. Und wer mehr als 2.840 Euro verdient, für den beginnt Reichtum erst bei 11.850 Euro brutto.
Nimmt man dagegen eine andere Tabelle zur Hand2, kommt man zu einer Bestimmung von Reichtum als High Net Worth Individual (HNWI), die international einen Menschen bezeichnet, der über ein anlagefähiges Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar verfügt. Reichtum bezeichnet in der Sozialforschung eine bestimmte Vermögensgröße, deren Schwellenwert zu einer nächsten sozialen Schichtung da liegt, wo die Kapitaleinkünfte aus dem Vermögen für ein mittleres, laufendes Einkommen ausreichen und die Teilnahme am Arbeitsmarkt daher freiwillig ist.
Der sogenannte Einkommensreichtum bezieht sich hingegen nicht auf Vermögen, sondern auf laufende Erwerbseinkommen und wird beim Zwei- oder Dreifachen des mittleren Einkommens eines Landes angesetzt3. Wir sollen demnach zwischen Vermögen und Reichtum unterscheiden und dann noch einmal zwischen Einkommensreichtum und wohlhabenden Menschen resp. entsprechenden, sozialen Schichten. Dann zählen wir in Deutschland etwa 3 Mio. Einkommensreiche resp. „relative Reiche“, die als Single über 4.400 Euro p.m. und als Paare mit Kindern zwischen 8.000 und 9.230 Euro verdienen.4
Die „obere Mitte“ zählt 13 Mio. Menschen, die „Mitte im engeren Sinne“ fast 40 Mio. Menschen. Die „Untere Mitte“ zählt knapp 13 Mio., wobei ein Singlehaushalt bereits mit nur 1.050 Euro p.m. HHNE (Haushaltsnettoeinkommen) nach der Arbeit in sein Miniapartment schleicht, das natürlich weit draußen vor den großen und mittleren Städten im untersten Mietspiegelbereich liegt.5
Es bleibt bei diesen Befragungen und soziologischen Messungen der Oberschicht vorbehalten, sich durch weit mehr als nur durch Einkommen abzugrenzen. In der Oberschicht gibt es Vermögen, materielles wie immaterielles Vermögen. Grenzwertig bis zur Peinlichkeit kommt noch hinzu, dass scheinbar allein in der Oberschicht zum Vermögen auch der persönliche Habitus kommt in Form einer besonderen Lebenseinstellung, das richtige Auftreten in der Society, aus der auch die richtigen Freunde und persönlichen wie informellen Beziehungen stammen.
Es mag stimmen, dass wer reich ist, auch eine Menge Schranzen seine Begleiter nennen darf, aber allein diese Zuordnung verdeutlicht, aus welchem Gedankendickicht die Sozialstaatssurveys hervorgebrochen sind. Die Mittelschicht, und wen wundert es, dass sie bei den Werten „Niedrige Bildung“, „Mittlere Bildung“ und „Hohe Bildung“ die höchsten ausweist, ist sie doch mit fast 40 Mio. Menschen die Hälfte der deutschen Population. Wenn also alles „Mitte“ ist im Untersuchungsdesign, kommt selbstverständlich auch viel Mitte raus im Ergebnis. Natürlich stellt sich ein Angehöriger der Unterschicht, also ein realtiver Armer die Mittelschicht ein wenig wohlhabender und üppiger vor, als sie tatsächlich ist. Aber was sagt das dann aus?
Ist die Mittelschicht wirklich jene Gruppe von Menschen, die beim (Durchschnitts-) Italiener vor der Bestellung nicht mehr auf die Preisliste der Speisekarte schauen muss? In der „Oberen Mitte“ finden wir auch in Deutschland schon Immobilienbesitz, ein Häuschen oder eine schicke Eigentumswohnung. Wenn kein Erbe da ist, sind sie auf Pump gekauft. Und auch die beiden Autos in der Tief- oder der Doppelgarage. Und der Dispo reicht auch dann noch, wenn eines zu einer aufwendigen Reparatur muss, während der Ferienflieger schon wartet. Selbst Reitpferde findet man bei der Dame des Hauses und ein Segelboot für den überbeschäftigten Gatten, falls mal ein Wochende frei vom Home Office ist und ein wenig Wind über das nahe Ijsselmeer bläst.
Nur eins findet man in der Mittelschicht heute wohl nicht mehr, die Sorglosigkeit vor dem sozialen Abstieg. Und in der Oberschicht hat sich auch etwas grundlegend geändert: war vor der Finanzkrise 2007/08 noch eine liquides, also anlagefähiges Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar ausreichend, um nach der Definition eines High Net Worth Individual zu gelten und damit ausreichend, um Kapitaleinkünfte aus dem Vermögen für ein mittleres, laufendes Einkommen zu erwirtschaften und damit die Teilnahme am Arbeitsmarkt in freiwilliger Entscheidung zu fällen, so reicht ein solches Vermögen heute bei weitem dafür nicht mehr aus. Und auch nicht, um selbst bei einem kontrollierten Konsumverhalten ohne Gaul und Golf eine kalkulierte, durchschnittliche Lebenszeit mit den derzeit niedrigen Zinssätzen, ohne erhebliche Risiken an den Finanzmärkten eingehen zu müssen, finanzieren zu können.
Nimmt man die aktuelle Statistik zur Hand, dann rangieren Einkommen oberhalb von 5.450 Euro p.m. bereits oberhalb der Mittelschicht. Das sind Haushalte mit einem oder zwei, teils auch mehr Kindern und insgesamt etwa 13 Mio. Menschen in der BRD. Zieht man dazu noch die Berufsprofile dieser Einkommensgruppe hinzu, dann befindet man sich am absoluten oberen Ende der Berufsskala, also in Berufsfeldern, die nicht nur eine hohe Bildung und Qualifikation erfordern, sondern auch eher selten sind.
Bereits in dieser Grupe zählt man zu den 20% aller Haushalte mit den höchsten Einkommen an der Schwelle zum relativen Reichtum und gilt also als wohlhabend. Das heißt umgekehrt, dass 80%, also vier Fünftel der Deutschen, die nicht so viel Geld haben und für die diese scheinbar relative, materielle Sorglosigkeit bereits den Inbegriff von Wohlstand oder gar Reichtum verkörpern, nicht dazu gehören.
Schaut man auf den Verlauf, den die gesamte Mittelschicht über die Jahre seit 1997 genommen hat, dann stellt man fest, dass der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung seit 1997 um 5,5 Millionen Menschen abgenommen hat, von 65% auf 58%, also um 7% gesunken ist. Im gleichen Zeitraum wuchs laut Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung der Anteil der Erwerbstätigen in den unteren und untersten Einkommensschichten um knapp vier Millionen.
Das Schrumpfen der Mittelschicht und der Zuwachs der „Unteren Mitte“ sowie der „Relativen Armen“, zumal in einer Phase wirtschaftlichen Wachstums, wirft Fragen auf, Fragen, die sich mit Verschiebungen innerhalb der Gesamtpopulation von mehreren Millionen Menschen beschäftigen muss, was politische wie wirtschaftlichen und natürlich auch soziale Veränderungen betrifft; keine Kleinigkeiten also.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Sozialstaatssurveys – Einkommensarmut – High Net Worth Individual – sozialer Abstieg
1 Markus Grabka, Einkommens- und Vermögensforscher vom DIW (Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung) in: Handelsblatt print: Nr. 232 vom 30.11.2018 Seite 052.
2 Vgl. Wolfgang Lauterbach: Vermögensforschung und Sozialer Wandel. Anmerkungen zu einer Soziologie des „Reichtums und Vermögens“. In: Reichtum und Vermögen. 2009 sowie Thomas Druyen, Matthias Grundmann (Hrsg.): Reichtum und Vermögen in Deutschland. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Reichtums- und Vermögensforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
3 Bedarfsgewichtung. Für die Schichtzugehörigkeit werden je nach Haushaltsgröße und Alter der Kinder unterschiedliche Einkommensgrenzen angesetzt. Die erste erwachsene Person im Haushalt hat den Gewichtungsfaktor eins. Um die Kostenvorteile in größeren Haushalten zu berücksichtigen, erhalten weitere Personen ab 14 Jahren ein Gewicht von 0,5. Kindern unter 14 Jahren wird ein Gewicht von 0,3 zugewiesen. Das Haushaltseinkommen einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren wird entsprechend durch den Wert 2,1 geteilt
4 UHNWI oder Ultra High Net Worth Individuals sind Menschen mit einem anlagefähigen Vermögen von 30 Millionen US-Dollar oder mehr.
Wohlhabend sind in der Sozialforschung üblicherweise Haushalte, die mehr als 150 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens eines Landes zur Verfügung haben. Sie machen in Deutschland etwa 20 Prozent der Haushalte aus. Insgesamt wird die deutsche Oberschicht stark von sog. altem Geld, also aus Erbschaften geprägt.
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Frick, Joachim R.; Grabka, Markus M.: Zur Entwicklung der Vermögensungleichheit in Deutschland Article PDF
Markus M. Grabka und Jan Goebel : Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen: Erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit Article PDF
Markus M. Grabka (*1968)
Wolfgang Lauterbach (*1960 in Hof)
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