Blasenschwäche

Krisen, so sieht es aus, sind Schimären, die ihr Aussehen ständig wechseln. Wer früher Schulden hatte, war arm. Heute ist er reich. So sahen wir soeben. Nun schauen wir uns eine Blase an, die strukturell dem Paradox des Schuldenreichtums ähnlich ist: Die Euro-Blase im Dax. Sie hängt damit zusammen, dass billiges Notenbankgeld börsennotierte Unternehmen zu teuren Übernahmen verleitet. Sicherlich auch durch die Not getrieben, überfällige Anpassungen der Geschäftsmodelle und der Wettbewerbsfähigkeit voran zu treiben, sehen Unternehmen einzigartige Gelegenheiten bisweilen in einer Situation so niedriger Zinsen wie heute in 2018.

Teure Übernahmen aber führen nicht zwangsläufig zu einer Anpassung der Geschäftsmodelle und der Wettbewerbsfähigkeit. Sogar so robuste Unternehmen wie etwa SAP haben ihr Wachstum aus sich selbst heraus in den letzten Jahren verloren und versuchen ihr Wachstum durch den Kauf bzw. Fusionen mit Unternehmen zu sichern. Mehr als 20 Übernahmen in neun Jahren ergeben durchschnittlich mehr als zwei pro Jahr. Und allein die Übernahmen von dem Datenbankspezialisten Sybase, dem Handelsnetzwerk Ariba, dem Reisekostenanbieter Concur und dem Cloudspezialisten Successfactors kosteten allein knapp 20 Milliarden Euro. Dies alles geschieht in einer Zeit und Situation, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass Firmen für Übernahmen einen kräftigen Aufschlag, den sog. Goodwill, zahlen müssen.

Steht einmal so der Goodwill, also jene Prämie in der Bilanz des übernehmenden Unternehmens, die als Zukunfts- oder Hoffnungswert bezeichnet wird, so muss ab dem Tag der Übernahmen in der Bilanz das Vermögen des neu erworbenen Unternehmens in seine bilanziellen Positionen zerlegt und berechnet werden; so z.B. in die Positionen: Maschinen, Fuhrpark, Grundstücke, Patente oder Kundenkontakte. Was diese Positionen rechnerisch an Wert darstellen wird vom Kaufwert in Abzug gebracht und ergibt so den Goodwill, wenn das Ergebnis zum Kaufwert geringer ausfällt, was in der Regel der Fall ist.

So sind in den letzten Jahren in den Bilanzen der Dax-Konzerne jene Kennzahlen, die sich zum Goodwill summieren, stark angewachsen, auf etw 267 Milliarden US-Dollar.1 Von 2005 an gerechnet, hat sich der Goodwill in den Dax-Bilanzen von knapp 130 Mrd. Dollar verdoppelt. Der Kauf von Unternehmen in dieser Zeitspanne geschah also, lax gesprochen, zu jedem Preis, was darauf hindeutet, dass viele Unternehmen mit den Übernahmen, also den Anpassungen ihrer Geschäftsmodelle und ihrer Wettbewerbsfähigkeit quasi bis zur letzten Minute gewartet haben, was von keiner weitsichtig strategischen Marktbewertung spricht.

Das wäre nicht ganz so dramatisch, wäre das Jahr 2005 nicht das Referenzjahr für diese Bilanzpositionen, weil vor 2005 überhöhte Firmenwerte innerhalb von zehn Jahren wieder abgeschrieben werden mussten. Nach 2005 wurde diese Abschreibungsregelung weitgehend abgeschafft und führte in der Praxis der folgenden Jahre dazu, dass Unternehmen in ihren Bilanzen bei Übernahmen fast gar nichts mehr vom Goodwill abgeschrieben haben. Diese Anpassungen von Goodwill an einen realen Geschäfts- oder Firmenwert blieben also aus, so dass es in der Folge milliardenschwerer Unternehmensübernahmen bis heute zu einer folgenschweren Überbewertung der Geschäfts- oder Firmenwerte gekommen ist.

Allgemeine Praxis in den Führungsetragen der börsennotierten Unternehmen in Europa und den USA ist nicht, den offensichtlich zu optimistisch ermittelten Goodwill von sich aus über die Jahre hin anzupassen. Kein Management möchte mit einer solchen Form der Abwertung der Firmenwerte, also der Minderung der Gewinne durch Goodwill-Abschreibungen und der folgenden Kursrückgänge des Aktienwertes konfrontiert werden, zumal dies ja auch kaum zum eigenen Nutzen geschähe.
Deshalb schweigt das Management den unverhältnismäßig hohen Goodwill lieber tot, solange es denn geht, also die Kapitalmärkte darauf nicht reagieren. Wenn aber die Kapitalmärkte auf die Goodwillphantasie negativ reagieren, dann kracht es natürlich um so heftiger. Dann werden die Aktienwerte den realen Firmenwerten, ohne Goodwill angepasst und das triff dann die Unternehmen um so härter, zumal dies meist in einer Zeit geschieht, wenn die Aktienmärkte auf „Short“ stehen.

So traf es in Europa die Deutsche Telekom, die Deutsche Bank, E.On und die Credit Suisse und eine Reihe anderer Unternehmen, die nach etwa 1-3 Jahren nach Firmenübernahmen ihre Eigentümer mit Allzeittiefs ihrer Aktienkurse beglückten. Dabei ist am Goodwill an sich nichts verwerfliches, ist doch ein Firmenwert generell nicht immer durch einen materiellen Gegenwert gedeckt, sondern in vielen Fällen auch durch das Know-how der Mitarbeiter, die technologische Innvationskraft und die Entwicklung des Geschäftsmodells u.a. Und dies alles ist in Geld kaum messbar und deshalb nur schwer zu berechnen.

Deshalb kosten gute Unternehmen fast immer etwas mehr, als sie, gemessen an ihren sachwerten Einzelteilen, wert sind. Gegen die übertriebenen Luftbuchungen hatten die Investoren in der Vergangen eine Gewissheit, dass nämlich die heiße Luft nach Übernahmen aus den Bilanzen peu à peu wieder entweicht, wenn die Goodwill-Positionen innerhalb von zehn, spätestens fünfzehn Jahren komplett abgeschrieben waren.
Die Finanzvorstände der börsennotierten Unternehmen definieren seit 2005 auch in Europa selber, ob und wann Abschreibungen fällig sind. Diese Regelung ergibt sich aus den „International Financial Reporting Standards“ (IFRS). Die deutschen Konzerne passten sich damit den internationalen Bilanzierungsstandards an, wie sie an der Wall Street seit 2001 gelten.

Aber nicht nur gelten seitdem die veränderten bzw. gestrichenen Abschreibungsregeln der Wall Street, sondern zugleich gilt jene Praxis für den Goodwill, der sog. Impairment-Test. Dieser „Test“ ist ein für Aktionäre nicht einsehbares Verfahren, das wiederum von Wirtschaftsprüfern testiert wird – deshalb „Test“ – die die Unternehmen jährlich prüfen, ob der Goodwill abgewertet werden muss oder nicht. Da aber diese Praxis nicht sanktioniert ist, außer von den Aktienmärkten schlussendlich selbst, schreiben Unternehmen seitdem fast gar nichts mehr ab. Und dies aus naheliegenden Gründen, denn Abschreibungen mindern den Unternehmensgewinn, die Vergütungen des Managements, den Aktienkurs und die Aktien-Dividende.

Wie in den USA schreiben auch die Unternehmen in Deutschland und Europa kaum noch Firmenwerte aus Übernahmen ab. So verwundert es wenig, wenn sich seit 2005 der Goodwill-Anteil in den Bilanzen der Dax-Konzerne an das Niveau der amerikanischen Unternehmen angepasst hat. So haben die 30 Dax-Konzerne bei einem Eigenkapital von 835 Milliarden Euro insgesamt rund 300 Milliarden Euro überhöhte Firmenwerte in ihren Bilanzen stehen. Das entspricht einer Quote von über 36 Prozent. Das ist sogar im Vergleich zur Wall Street ein noch guter Wert, der dort nämlich mit fast 50 Prozent sogar noch höher liegt. Aber beide Werte sind natürlich ein nicht unerhebliches Bilanzrisiko und zeigen einmal mehr, welche Formen die Krisen der Marktwirtschaft annehmen können. Denn spätestens, wenn Wertberichtigungen vorgenommen werden müssen, wird die Krise, die in den Goodwill-Positionen steckt, virulent.

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GoodwillAbschreibungsregelungIFRSImpairment-Test


1 Vgl. nach Handelsblatt-Berechnungen 11-2018: 297 Milliarden Euro.

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