Politischer Schrittwechsel

Der Sachverstand vieler westlicher Politiker richtet sich bezüglich dessen, was aktuell passiert in Europa wie in den USA, nach rudimentär aufgenommenen, kaum verstandenen ökonomischen Konzepten, wenn es um die Globalisierung geht. Da Globalisierung heute nicht ohne ein Verständnis der Digitalisierung auskommt, wird die Verwirrung fast täglich um so größer. Aber bevor wir auf die Digitalisierung näher eingehen, bleiben wir noch im angesprochenen Kontext, denn der allein schon demonstriert einen Schrittwechsel der Politik in Richtung mehr Kontrolle wirtschaftlicher Prozesse, die sowohl ökonomisch unvernünftig als auch illusorisch ist.

Hatte die politische Ökonomie bislang ein Spiel mit der Ökonomie getrieben, so wechselt sie Rhythmus und Gangart nun zu einem Ringelreihen auf dem Rücken der Ökonomie. Die Finanzkrise war gewissermaßen Auslöser und Ermutung der politischen Ökonomie, so zu tun und ein Tänzchen zu wagen mit einem Partner, der nicht nur versiert auf allen Tanzflächen, sondern auch in den unterschiedlichsten Schrittfolgen internationaler Arten des Solo-, Paar- wie des Gruppentanzes ist. In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruchs der Finanzmärkte wurde Deglobalisierung als Gefahr einer abrupten Zerstörung der weltwirtschaftlichen Verflechtungen, also als eine drohende Krise der Marktwirtschaft verstanden, deren Folge eine schwere globale Rezession und eine handfeste Krise des politischen Neoliberalismus‘ waren.

Mit dem Neoliberalismus, der damals dem Kontrollverlust der politischen Eliten und Institutionen kräftig Vorschub leistete und, dem angelsächsischen Gesellschaftsmodell angelehnt, einem Populismus der freien Entfaltung aller gesellschaftlichen Kräfte, besonders der Kapitalkräfte, das Wort redete, verschwand nach einem kurzen, krisenhaften Einbruch zwischen 2009 und 2011 mit der raschen Erholung der Weltwirtschaft auch der Spuk einer abrupten Deglobalisierung so schnell wie er gekommen war.
Geblieben ist die angst- bis wutbesetzte Formel: Neoliberalismus heißt unkontrollierbare Gefahr aus der Globalisierung. Heißt Rezessionsgefahr durch Hyper-Globalisierung, heißt Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten usw.

Der Neoliberalismus hat die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich diskursiv mit der fatalen, politisch scheinbar unkontrollierbaren Enwtwicklung einer global vernetzten Wirtschaft verbunden. Ihm tritt massiv ein Nationalismus gegenüber, der auf die Kontrolle von transnationalen Geld- und Waren- sowie Dienstleistungströmen und eine Begrenzung von Niederlassungsfreiheit, teilweise Asyl und Wirtschaftsmigration basiert. Nationalismus bedeutet heute in Europa ganz fundamental Gegenbewegung gegen den Supranationalismus der Europäischenn Union. In den USA versucht aktuell die politische Elite den inklusiven Verfassungspatriotismus zu einem, mit der konsequenten Rückbesinnung der republikanischen Tradition auf sich selbst und deren ethnischen Elementen zu transformieren1.

Die Elemente der „ethnischen Demokratie“, die man in Europa wie in den USA unschwer erkennen kann sind nicht die Beweggründe des neuen Nationalismus. Sie sind Diskurselemente der politischen Ökonomie, insofern sie als Folgen der Globalisierung instrumentalisiert werden. Die Globalisierungsängste, die von den „Wutbürgern“ und den rechtsextremen Gruppen in den USA artikuliert werden, haben aber im freien Handel und in der vernetzten Produktion, also in der Globalisierung der Wirtschaft ihren eigentlichen Grund.

Sie sind gewissermaßen die neuen, illegitimen Rechtsnachfolger einer politischen Deglobalisierung, die als eine politische Alternative zur Globalisierung von transnationalen Konzerninteressen verstanden worden war. Die aktuelle Bewegung des Nationalismus wendet sich weder gegen europäische, noch gegen US-amerikanische Super-Konzerne; im Gegenteil. Sie gehören zum Stolz einer neuen nationalen Identität, zum Fundus einer ganzen Reihe von nationalen Unterscheidungsmerkmalen, die als hauptsächlich kulturelle und ethnische Merkmale zur Staatsangehörigkeit hinzutreten. Getragen wird der neue Tempel der Nation von der Illusion einer in den Grenzen eines Staatsgebietes autonomen politischen Ökonomie.

Die neue politische Ökonomie steht inmitten eines gegenläufigen Prozesses der Globalisierung, der seit der Finanzkrise nach wie vor mit dem politischen Kalkül der Angst vor einer zunehmend nationalistischen Wirtschaftspolitik, vor steigenden Zinsen, vor eskalierenden Handelskonflikten, die die globale Ökonomie in einen Abgrund reißen könnten und dem Verlust bürgerlicher Freiheiten ins Feld zieht.

Wie Demokratie und segregative Herrschaftstechniken, also auf ethnische Zugehörigkeit basierende, soziale, ökonomische und rechtliche Ausgrenzungen, so stehen sich regelbasierter Freihandel und staatlich kontrollierte Volkswirtschaft gegenüber; nicht verwunderlich sind die fast bewundernden Hinwendungen westlicher „Konservativer“ zur Staatswirtschaft nach chinesischer Machart. Auch Russland wird als Partner und partikulares Vorbild von angewandten Herrschaftstechniken ins politische Kalkül gezogen.
Italien neuerding flirtet auf offenen Bühne gemeinsam mit Europas Rechter im anti-europäischen Konzert mit dem russischen Nationalismus und ökonomischen Dirigismus.

Wie groß muss die Angst der politischen Eliten sein, wenn Nationalismus und Protektionismus zu Instrumenten der Rettung werden? Und wovor hat die politische Ökonomie Angst? Bestimmt nicht vor Wirtschaftszyklen und Rezessionen. Schauen wir auf den Prozess der Neuformierung der politischen Ökonomie, dann dauerte er kaum zehn Jahre und fand in dieser kurzen Zeit zu einer Bewegung, die fast keinen Staat im Westen verschont ließt, auch solche, die weder dem Euro noch der EU angehören.
Europa, China, die USA, Brasilien, die Türkei, sogar Schweden und die Niederlande, es gibt kaum einen Winkel auf diesem Globus, der nicht mittlerweile zum Teil geistig und politisch besetzt ist vom neuen, ökonomischen Nationalismus, gleichwohl die Deglobalisierungsbewegung ein historischer Trend ist wie die fortschreitende Globalisierung.

Wir haben es historisch also nicht mit einem entweder-oder zu tun, mit einem Streit und einer Wahl zwischen Globalisierungsgegnern und -befürwortern, sondern mit einem sowohl-als-auch und einem entweder-oder und das gleichzeitig.

Beide Bewegungen versuchen den politischen Diskurs wie eine politische Wahl bzw. wie eine soziale Option zu gestalten, in der die unterschiedlichsten inklusiven wie exklusiven Aussageelemente Typologien des sozial-ökonomischen Nationalismus entwerfen. Immer dabei, ethnische Aussagen, die die jeweilige Nation als eine Art Schicksalsgemeinschaft gegen ökonomischen Niedergang durch ethnische Überfremdung darstellen.

Kulturelle Elemente des Diskurses stehen für einen Nationalcharakter des jeweiligen Volkes, das seine Selbstverwirklichung allein aus einer nationalen Identität und Loyalität zum Staat verwirklichen kann. Die Loyalität zum Staat steht über allen anderen Loyalitäten und stellt sich als Selbstbestimmungsrecht des jeweiligen Volkes dar. Religiöse Elemente ziehen ein scharfe Trennung zwischen den Glaubensgemeinschaften, sind aber erst dann in unserem Sinne nationalistisch, wenn der religiöse Diskurs die Loyalität zum Nationalstaat in Frage stellt.

Was aber im nationalistischen Diskurs überhaupt nicht repräsentiert ist, ist ein klares ökonomisches Element, sind explizite Aussagen zur ökonomischen Entwicklung. Sie bleiben nebulös, haben keine analytische Dimension, nur eine ideologische. Weil dem nationalistischen Diskurs die ökonomische Grundlage fehlt, können gegenläufige Diskurs-Typologien kaum sich gegenseitig beschädigend neben einander stehen. Im staatsbürgerlichen Nationalismus westlicher Prägung lebt so ein ethnischer Nationalismus, ein Liberalisimus steht neben einem Autoritarismus, Individualismus neben sozial-religiösem Kollektivismus.

Im Kern behauptet sich ein ideologischer Nationalismus als bürgerliche und ethnische Koexistenz, die all‘ die unsinnen Fragen nach der Integration von Christentum und Islam z.B. längst beantwortet hat. Gleich einer Zwei-Staaten-Identität existieren religiöser Eifer und monetärer Egoismus, demokratische neben autoritären Auffassungen und Einstellungen usw. locker neben einander.

Scheinbar unbeschadet von diesen fast auch schon global koexistierenden ethnischen Demokratien fokussiert die Ökonomik ihren Diskurs fast völlig jenseits der politischen Ökonomie. Sie folgt dabei dem Prozess der Ökonomie selbst, die als eine Form der ökonomischen Inklusion sich global ausbreitet und die auf ihrem expansiven Weg durch die Volkswirtschaften der Erde ihre monetären Risiken, ihre ökonomischen Krisen und ihre ökologischen Katastrophen weltweit verteilt.

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Neoliberalismusethnische Demokratiesegregative Herrschaftstechnikenökonomischer Nationalismus


1 Auf den Soziologen Sammy Smooha geht der in diesem Zusammenhang geprägte Begriff einer „Ethnischen Demokratie“ (ethnic democracy) zurück.


Sammy Smooha: The model of ethnic democracy, PDF Archived 2010-06-02 at the Wayback Machine, European Centre for Minority Issues, ECMI Working Paper#13, 2001, p24.


Sammy Smooha (*1941, Bagdad, Irak)

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