Es ist schon verwunderlich und man reibt sich die Augen, dass ausgerechnet in einer Zeit von maßlosem Egozentrismus, von Lüge, krimineller Energie hohen Ausmaßes im Unternehmensmanagement Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu einer wahren Renaissance ansetzen. Wir glauben zwar nicht, dass dieser Renaissance ein nachhaltigeres Schicksal als jener historisch vergangen beschieden sein wird, aber in unserem Kontext ist die Klage um deren Verlust in der Praxis von Unternehmensentscheider durchaus erhellend und aufklärend.
Wie soll einer Gesellschaft und den engagierten Aktionären glaubhaft gemacht werden, dass ein Manager an einer ehrlichen Bilanz seines Unternehmens interessiert ist, wenn er selbst in Krisenzeiten wie etwa der vergangenen Finanzkrise keine Wertberichtigungen bzw. Goodwill-Abwertung in seiner Unternehmensbilanz vornimmt? Spätestens seit Beginn der weltweiten Finanzkrise hätte man davon ausgehen können, dass es in Kreisen des Managements – und auch bei Wirtschaftsprüfern – zu einem Umdenkprozess in die Gegenrichtung kommt; falsch gedacht.
Kommt ein Unternehmen mit hohem Goodwill beizeiten in echte Kalamitäten, dann kommt es in der Regel zum großen Knall und jeder Ausweg ist versperrt. Die Wertberichtigungen sind dann immer dramatisch und zunehmend für die Unternehmen existenzgefährdend, inklusive für deren Belegschaft und den in den Wertschöpfungsketten produzierenden Unternehmen und Menschen.
Bleiben solche Wertberichtigungen aus, dann verlieren Konzerne zunehmend in der Öffentlichkeit, bei privaten und institutionellen Anlegern an Vertrauen und Glaubwürdigkeit. So wie Vertrauen zur Glaubwürdigkeit in einem Verhältnis von Dauer und Ereignis steht, so riskieren Unternehmen eine existenzbedrohende Kapitalflucht schon bei zahlenmäßig immer geringeren Fällen von Glaubwürdigkeitsverlust durch Verschleierungsmaßnahmen in der Bilanzerstellung und Kommunikation zwischen Management und Ratingagenturen.
Die mangelnde Bereitschaft zur Abschreibung überzogener Goodwill-Positionen in der Bilanz steht auf einer Ebene mit nachhaltigem Verlust der Glaubwürdigkeit des Managements durch dessen semantische Verschleierunsphantasie durch konzerneigene Bilanzbegriffe und Bilanzierungstricks. Bilanzen bzw. Geschäftsberichte nehmen immer mehr Formen von Intransparenz an für Aktionäre oder auch für Menschen, die ihre materielle Existenzsicherung durch private Vorsorge über Aktien- oder Anleiheinvestements unterstützen oder breiter aufstellen möchten.
Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern, aber vor allem zu den USA, ist dieses Mißverhältnis zwischen Vertrauen und intransparenter Unternehmensführung auf der Ebene der Abschreibungspraxis von Goodwill eklatant. So suggerieren europäische Unternehmen einen stetigen Wertanstieg ihrer Firmenwerte, wo keiner ist, es sei denn, alle ihre Übernahmen rechneten sich für immer und ewig.
Das Mißtrauen der Investoren in die Bilanzen und damit auch in die Ertragskraft der Unternehmen schwindet, wenn Glaubwürdigkeit in der Marktkommunikation und Unternehmensführung sukzessive verletzt werden. Der Vertrauensverlust der Investoren, der oft eine Gegenreaktion der Aktienmärkte und vor allem der sog. Market Maker provoziert, ist nicht selten Auslöser existenzbedrohender Kapitalflucht und Gegenspekulation gegen die Konzern. Dies gilt auch für Staaten, wie wir das am Beispiel von Griechenland bereits besprochen haben.
Die Glaubwürdigkeit der Unternehmenskommunikation ist aber nicht nur durch den Umgang mit dem Goodwill bedroht, sondern, wie wir sahen, auch durch weitere semantische Narrative bei der Bilanzerstellung. Dabei an vorderster Stelle steht neuerdings der Ausdruck: AEBITDA1. Beim Ebitda geht es in der Bilanz um den aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit eines Unternehmens sich ergebender Gewinn ohne Berücksichtigung von Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen sowie auf immaterielle Vermögensgegenstände und sonstigen Finanzierungsaufwendungen. Das A von adjusted deutet auf eine Bereinigung der Bilanz um „außerordentliche Erträge und Kosten“ hin. Solche Kostenpositionen bzw. Ertragspositionen können alles und jedes sein, sowohl Ausgaben bzw. Rückstellungen für Rechtsstreitigkeiten, Kosten für Aktienoptionen (vor allem für Vorstände etc.) oder Marketingaktionen und zusammen erhebliche Summen ausmachen.
Bei den als „adjusted“ signifizierten Bilanzeinträgen handelt es sich um wahre Verschleierungsprosa gegenüber den Eigentümern der Unternehmen und es liegt ausschließlich im Ermessen des Vorstands, ob und welche Einträge, also Ausgaben wie Erlöse, vorgenommen werden. Diese Ermessensentscheidung liegt also nicht nur in der Höhe und Art der Einträge, sondern auch in der Verwendung des Ausdrucks wie in der zeitlichen Gültigkeit dieser Positionen. Wenn als verschleiert wird, was dort eingetragen wird, wenn solche Kennzahlen und kreativen Finanzbegriffe zunehmend beliebig und inflationär gebraucht werden und wenn dazu noch diese Narrative in unterschiedlichen Zeiträumen befiniert werden, dann ist eine Vergleichbarkeit von Bilanzen und mithin der Qualität der Unternehmensführung nicht mehr möglich.
So werden also nicht nur negative Entwicklungen in Unternehmen semantisch verschleiert, sondern auch unternehmerische Entscheidungen kaschiert. Auch solche zum eigenen, privaten Nutzen des Managements. Bis zu welcher Dimension solche Verschleierungen ansteigen können, zeigt jüngst der Fall des Carlos Ghosn, seit 2017 Aufsichtsratschef bei Renault-Nissan, der mithilfe eben von solchen Bilanzpositionen seinen Arbeitgeber um mehr als 40 Mio. Euro geschädigt haben soll.
Zur Zeit werden täglich neue Details der Veruntreuungsmasche bekannt. Laut der Wirtschaftstageszeitung „Nihon Keizai Shimbun“ (Nikkei), die ihre Information offenbar von der Staatsanwaltschaft erhalten hat, wurde der Betrug in Form von Wohnhäusern in verschiedenen Städten über unterschiedliche Firmen abgewickelt. Ein von Nissan in den Niederlanden gegründetes Unternehmen habe wiederum eine Tochterfirma auf den britischen Jungferninseln etabliert, die für 500 Millionen Yen eine Villa in Rio de Janeiro gekauft haben soll. Mit einem eine Milliarde Yen teuren Anwesen in Beirut war demnach noch eine weitere Firma betraut. Man ahnt, mit wie wenig Semantik Gelder, die eigentlich den Aktionären von Renault-Nissan zustehen, das Management von Unternehmen diese zur privaten Verwendung umlenken und die Umlenkung verschleiern kann.
Die Personalie Ghosn wäre, wenn nur ein Fall für die Staatsanwaltschaft, in unseren Überlegungen unbedeutend. Bedeutend aber wird sie als ein Paradigma für den Niedergang der Glaubwürdigkeit von Konzernmanagement und Vertrauen in die Marktwirtschaft. Leidet die Glaubwürdigkeit des Managements von Konzernen zunehmend durch diese Art der Verletzung der „Corporate Gouvernace“ in eine prinzipiellen Weise, wird die Frage relevant, welche Motivation diese Verhaltensweise antreibt? Wir stellen die Antwort darauf zurück, weil wir den gesamten Kontext, aus dem sich die Antwort ergibt, noch nicht hinreichend erörtert haben.
Werfen wir also dann erneut einen Blick auf einen jener übergeordneten Zusammenhänge, in den die heutige Marktwirtschaft eingebettet ist und den wir als politische Ökonomie bezeichnet haben; nun im Kontext europäischer Finanzpolitik.
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1 adjusted Ebitda
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