Schwankender Relativismus

Armut wird vorgestellt als eine Fließkommazahl. Wir sprechen heute nicht mehr von reeller oder absoluter Armut, wenn wir auf eine Volkswirtschaft schauen oder mehrere mit einander vergleichen; wir sprechen von relativer Armut. Wir sprechen immer von Relationen im Sinne von Anteilen an etwas, etwa den Vermögen, den Einkommensgrößen in von-bis-Relationen. Arm und reich sind Realtionen und wie alle Relationen relativiert sich Armut und Reichtum für den, der darüber spricht, insofern er darüber spricht.

Relationen kommen ohne ein komplementäres Verhältnis absoluter Termini, sagen wir in diesem Zusammenhang: Aggregate, nicht aus. Arm und reich sind also komplementäre Aggregate einer Realtion, die ihre Grenzwerte, eben die Aggregate, als abolute Werte, also außerhalb ihrer Operation hat. Was also arm und reich absolut, reel oder tatsächlich ist, werden wir nur darin nicht finden.

Realtionen beschreiben also Phänomene in ihrer Beziehung zu einander und keine Ursachen. Arm und reich sind aggregierte Variablen und damit das Ergebnis einer schier unüberschaubaren Vielzahl an Tätigkeiten und Transaktionen, von Motivationen und Einstellungen, von sozialen und persönlichen Zufällen und einer Reihe anderer Faktoren, innerhalb einer konreten gesellschaftlichen und historischen Situation. Wie man aus aggregierten Variablen Ursachen ableiten kann, ist allerdings schleierhaft.

Wenn wir von arm und reich sprechen, sprechen wir daher von Phänomenen, nicht von Ursachen. Das Gerede von den Ursachen von Armut als Mangel, Mangel an Arbeit, Mangel an Motivation oder Bildung usw. läuft immer auf eine Tautologie hinaus, die etwa so klingt: die Ursache der Niederlage der deutschen Nationalelf im Fussball lag ursächlich und eindeutig daran, dass sie zu wenig Tore geschossen hat; klar?

In den USA ist man offiziell arm, wenn man unter 24.000 US-Dollar im Jahr verdient. Das sind über 26.000 Euro und erscheint recht viel. Schaut man sich die Situation in den USA genauer an, dann erkennt man schnell, dass Armut längst nicht nur ein Phänomen der working poor ist. Heute gehören zu den sog. working poor sieben Prozent der arbeitenden Bevölkerung, die trotz eines Vollzeitjobs unter der Armutsgrenze bleiben, also im wahrsten Sinne des Wortes working poor.

Prekäre Beschäftigung, also Menschen, die aufgrund ihres Status als Erwerbstätige mit einem regelmäßigen Einkommen eigentlich in einer sicheren monetären Situation sein sollten, es aber nicht sind, hat viele Facetten weltweit. In den USA kann eine dieser Facetten sein, dass man im Notfall, etwa durch Krankheit, in der Lage sein sollte, innerhalb von 30 Tagen 2.000 Dollar für Arztkosten aufzutreiben. Eine Studie1 zeigt, dass 40 Prozent der Befragten es ganz ausschlossen, über diesen Betrag verfügen zu können, 19 Prozent gaben an, dafür Besitztümer verkaufen oder einen Kleinkredit aufnehmen zu müssen. Selbst bei Haushalten mit einem Einkommen von 100.000 bis 150.000 Dollar war es noch fast ein Viertel, also 25 Prozent.

Nach der traditionellen Definition müssten alle diese Menschen also arm sein, da ihre Notlage nicht zeitlich begrenzt, sondern für ihre Lebenslage bestimmend ist. Man unterscheidet in der Definition also nach Lebenssituation und Lebenslage und meint eine anhaltende, bestimmende Situation. Wenn das Einkommen demnach also nicht für einen Arztbesuch oder für die Reparatur eines Autos, für eine gute Bildung der Kinder etc. reicht, dann ist man arm. So hat man die Kategorie Einkommen auf die der Teilhabe an und die Integration in nicht monetär vermittelte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erweitert. Armut wäre dann auch eine Form der Ausgrenzung, der Segregation, vom sozialen Lebenskontext.

In einem Einzelschicksal betrachtet können Menschen, gleichwohl sie studiert haben, mehreren Jobs nachgehen oder sogar in Vollzeit manchmal bis zu 16 Stunden pro Tag arbeiten, keine 400 US-Dollar für einen Arztbesuch oder eine Autoreparatur aufbringen. Solche Ergebnisse, immerhin in einer Studie der Federal Reserve (2015)2 veröffentlicht, lässt aggregierte Variablen in einem völlig anderen Licht, einem nicht relativierten Zwielicht statistischer Verfahren erscheinen. Gründe für diese Formen der Armut geben sie deshalb aber auch noch nicht an.

Aber ein Phänomen besticht in seiner Relation; weil es in den USA einfacher ist, auf Pump zu leben, als zu sparen, nimmt die Armut zu. Fast die Hälfte aller Bürger kann sich eine Autoreparatur von 400 Dollar oder einen Besuch beim Zahnarzt nicht leisten. Kaputte Autos und kaputte Zähne scheinen komplementäre Begleiterscheinungen der amerikanischen Form der Marktwirtschaft zu sein. Aber sie verweisen auf etwas anderes, auf eine besondere Spielform der Marktwirtschaft.
So resumiert Lusardi: In den USA sei es grundsätzlich weniger üblich, große Summen zur Seite zu legen. Die Amerikaner verließen sich für größere Anschaffungen auf ihre Kreditkarten. Entsprechend lebten viele von einem Gehaltsscheck zum nächsten und hätten nur wenig Puffer für Notfälle. Die Schuld liegt dabei laut der Ökonomin nicht nur bei den Konsumenten. In den USA sei es schlicht einfacher, auf Pump zu leben, als zu sparen.3

Wie man in den USA die meisten Superreichen (Milliardäre und Multimillionäre) zählen kann, ist auch die Kinderarmutsquote in den USA tatsächlich viel höher als in anderen entwickelten Ländern. Auf dem Höhepunkt der Rezession im Jahr 2012 lebte fast jedes vierte amerikanische Kind in Armut. Heute sind es immer noch etwa 15 Millionen Kinder.
Wir sehen, in einer Rezession, also aus Gründen des amerikanischen Wirtschaftssystems, steigt die relative Armut bei Kindern etwa auf ein Maß, das eine Einkommensarmut zu einer sozialen Armut erweitert. Eltern ohne Kinder wären demnach in vielen Fällen wohl nicht arm, was anzeigt, dass allein die Kategorie Einkommen nicht hinreicht für eine Bestimmung von Armut.

Während die Superreichen trotz Rezession damals noch reicher wurden, blieben die Armen arm und mit ihnen ihre Kinder. So ist die Kinderarmutsquote in den USA tatsächlich viel höher als in anderen entwickelten Ländern und eine ganze Reihe von Faktoren spielen dabei ein Rolle4. Betrachtet man allein nur diese u.a. Faktoren inklusie der Konsumschuldenkultur in den USA wird deutlich, dass Armut resp. Kinderarmut in den USA keine Ursache in der Marktwirtschaft, sondern in einer US-amerikanischen Spielart dieses Wirtschaftssystems und einer Gesellschaftsidee hat, die im bedingungslosen, wirtschaftspolitischen wie sozialpolitischen Liberalismus hat.

Ist die Soziale Marktwirtschft also eine bewusst sozial gesteuerte Marktwirtschaft, so ist das amerikanische System einer Marktwirtschaft bedingungslos der Freiheit des einzelnen Wirtschaftsakteurs, ob als Produzent oder als Konsument verdankt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch sowohl auf der Seite der Unternehmen wie der Konsumenten, wir haben darüber ausführlich gehandelt, beide Seiten stark fremd finanziert sind. Die amerikanischen Schulden von Unternehmen wie Konsumenten wären in dieser Höhe, ohne den Dollar als Leitwährung und die durch Außenfinanzierung periodisch überkapitalisierten Finanzmärkte undenkbar.

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

Aggregateworking poorPrekäre Beschäftigung


1 Annamaria Lusardi: Measuring financial fragility in: 2012 FINRA Investor Education Foundation’s National Financial Capability Study (NFCS) Annamaria Lusardi Measuring financial fragility PDF>
2 Vgl: Report on the Economic Well-Being of U.S. Households in 2014, published May 2015 PDF.
3 zeit.de
4 Die föderale „Armutsgrenze“ im Jahr 2014 für eine vierköpfige Familie (2 Erwachsene + 2 Kinder unter 17 Jahren) liegt bei 24.000 $. Aber Sozialforscher sagen, es würde ein doppelt so hohes Einkommen erfordern, um eine finanzielle Grundsicherung zu erreichen. US Census Bureau.
1 von 5 Kindern lebt in Armut, verglichen mit 1 von 8 Erwachsenen. Das sind 15,5 Millionen verarmte Kinder in den USA – ebenda US Census Bureau
Kinder in den USA erleben höhere Armutsraten als Kinder in den meisten anderen entwickelten Nationen. Nur Griechenland, Mexiko, Israel und die Türkei haben höhere Kinderarmutsraten als die USA – Organisation for Economic Co-operation and Development

Fast 40% der amerikanischen Kinder verbringen mindestens 1 Jahr in Armut, bevor sie 18 werden. – Urban Institute
Zwischen 2012 und 2014 fielen die Ausgaben des Bundes für die Bildung, Ernährung, soziale Dienste und frühkindliche Bildung und Betreuung der Kinder. Die Regierung gibt nur 10% des nationalen Budgets für Kinder aus – ein Bruchteil dessen, was andere Industrieländer ausgeben. – Urban Institute, Child Trends
Arme Kinder haben eher Hunger. Ernährungsunsicherheit hat eine lebenslange Wirkung: niedrigere Lese- und Mathematikleistungen, mehr körperliche und geistige Gesundheitsprobleme, mehr emotionale und verhaltensbezogene Probleme und eine größere Chance auf Fettleibigkeit. – Feeding America
24 Bundesstaaten und der District of Columbia haben Armutsraten höher als der nationale Durchschnitt von 14,8%. Die Mehrheit der Armen leben im Süden. Center for American Progress
Quelle: children.org.


Annamaria Lusardi (*1962, Italien)

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