Ceteris paribus, die Grundlage aller kriterialen Analysen wirtschaftlicher Zusammenhänge, kommt selten vor in der Wirklichkeit der Ökonomie. Ihre analytische Berechtigung hat die Formel: „Übrige gleich bleibend“ in der Wirtschaft wie in der Politik dann, wenn die äußeren Rahmenbedingungen von hohem Grad an Stabilität sind, dabei will sie aber im Gegenteil eine immanente Stabilität hochrechnen bzw. in die Zukunft projizieren. Die Projektion von Ursachen und Wirkungen aus der Vergangenheit in die Zukunft, so weiß die Ökonomik mittlerweile sehr genau, gelingt in der traditionellen Weise nur bei relativ wenigen Größen und über kurze Zeiträume.
Allein ein Blick auf die Historie der Konjunkturzyklen und Konjunkturkrisen wie sie sich auf den internationalen Finanzmärkten grafisch repräsentieren, zeigt, dass über lange Zeiträume, die mehrere Jahrzehnte umfassen, Konjunkturschwankungen in einem Bereich von mehr als dreißig Prozent an Wertverlusten im Aktienbereich (Index) üblich sind. Langfristige Wertverluste sind auch ein Ausdruck dafür, dass Investitionen langfristig nicht rentierten, also unterhalb der für den Zeitraum realisierten Kapitalmarktzinsen lagen. Wir haben soeben gesehen, dass bereits die Reduktion der Finanzmärkte auf mikroökonimsche Kriterien nicht verfangen. Staaten verlieren an Kapital, obwohl deren Haushalte durchaus positiv sein können. Der Finanzmarkt ist nur schwer zu vergleichen mit einem Unternehmen, gleichwohl in den Indizees nur Unternehmen und also einer Unternehmensbewertung durch die Finanzmärkte enthalten sind.
Nun gibt es seit der Einführung der Spieltheorie und deren mangelnder Abgrenzung zwischen Mikroökonomie und politischer Ökonomie den verführerischen Versuch der emirischen Reduktion der politischen auf die marktwirtschaftliche Ökonomie. So tut der IWF seit langem und immer wieder neu in seinem Fiscal Monitor1 und kommt jüngst zu dem Schluss, dass staatliche Schulden staatlichen Vermögenswerten gegenübergesetzt werden sollten. Und dass bei dieser Gegenübersetzung den schuldenfinanzierten, staatlichen Investitionen ein deutlich größeres Augenmerk gewidmet werden sollte.
Der IWF, immerhin die wichtigste Institution, wenn es um staatliche Haushalts- und Krisenpolitik der Staaten auf unserem Globus geht, begeht nicht nur einen fatalen Irrtum, sondern begibt sich auch noch in einen politischen Diskurs, wo er partout aus Gründen der schlichten Unkenntnis und Untalentiertheit nichts zu suchen hat; wie übrigends die Ökonomik selten gut beraten ist, den Weg ins politische Feld zu suchen.
Es sei denn, man betrachtet das Feld der Ökonomie und der Politik zusammen als ein Feld der politischen Ökonomie. Dann gilt schon prima vista ein entscheidender, nicht reduzierbarer Unterschied: Schulden sind in der Unternehmensbewertung eine rein ökonomische Größe, in der politischen nicht. In jedem Unternehmen werden Schulden als positiv, also als wertsteigernd bewertet, wenn, wie oben gesagt, der Ertrag einer Investition größer ist als der Zins, der für die Aufnahme von Fremdkapital aufgewendet werden muss.
Dabei sollte nicht vergessen werden, dass bei der Unternehmensbewertung, spätestens bei den Due Dilligences auch die Fage eine entscheidende Rolle spielt, für was das Fremdkapital verwendet wurde, ob also die jeweils spezielle Mittelverwendung Aussicht auf Rendite in der Zukunft hat.
So moniert der IWF, dass in der EU nach solchen Kriterien nicht gefragt wird, weder in den Maastricht-Kriterien noch in staatlichen Gesetzen zur Schuldenbegrenzung. Da stehen allein monetäre Richtgrenzen für öffentliche Defizite und Schulden, aber keine Größen, die die investiven Aktivitäten einer Regierung abbilden. Und so, beklagt der Fonds weiter, wird durch die „Konzentration auf Schulden […] illusorischen Fiskalpraktiken Vorschub geleistet.“2
Dass mit der Konzentration auf die sog. „Schwarze Null“ in Deutschland z.B. zwei fatale Prozesse in Gang geraten sind, erstens Investitionen z.B. in die Infrastruktur zu vernachlässigen und zweitens, Privatisierungen zu forcieren, scheint offensichtlich. Alles führt auf die schwarze Null, indem man durch Verzicht auf Instandhaltungsmaßnahmen und -investitionen der Infrastruktur das Defizit senkt und gleichzeit durch Privatisierung Einnahmen für den Staat erhöht wie z. B. durch Privatisierung großer Teile des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau.
Das Fazit solchen Tuns: Senkung der staatlichen Schuldenquote z.B. in Deutschland auf unter 60% des BIP.
Das alles klingt gut, allein der Vergleich mit Unternehmen in der Marktwirtschaft hinkt an allen Ecken und Enden. Die Ecken gewissermaßen sind die Schwierigkeiten, genau zu bestimmen, was investive und was konsumptive Staatsausgaben sind. Investive Ausgaben, so besagt die goldene Regel der politischen Ökonomie, sollten durch Schuldenaufnahme, konsumptive durch die laufenden Staatseinnahmen, also Steuern und Abgaben finanziert werden.
Was jahrzehntelang als goldene Regel galt und haushaltspolitisch „usus“ war, ist heute eine Minderheitsmeinung unter Politikern wie Ökonomen. Hatten beide noch vor zehn Jahren argumentiert, dass die Befolgung der goldenen Regel, mithin also die politischen Bemühungen zur Haushaltskonsolidierung am Ende dazu führt, dass der Haushalt von der Substanz, also vom Vermögen des Staates lebt, in dem der Staat sehenden Auges die Infrastrukturinvestitionen unter die Abschreibungen (etwa 3% jährlich vom Volumen) fallen läßt. Selbst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung will heute so nicht mehr argumentieren.
Der Streit aber, der sich heute um die Vermögenswerte des Staates, genauer um die Bwertung des Staatsvermögens dreht, wendet sich unversehens einer anderen Frage und Ebene zu. Dort geht es grundsätzlich um ein „langfristiges ideologisches Projekt des IWF, Staatsfinanzen so zu behandeln wie die von kommerziellen Unternehmen“ und dabei die politische Ökonomie auf ihr ureigenstes Feld der Politik zu reduzieren. Und dahinter steht ein Eingriff des Fonds in die Hoheitsaufgaben der Politik, sofern sie konsumptiver Natur sind. Sie zu begrenzen, also den „Sozialstaat“ anzugreifen und in seiner Ausgabenverliebtheit zu behindern, ist das Ziel des IWF.
Was ist an diesem Ziel eigentlich unrichtig oder verwerflich? Schauen wir genauer hin. Der IWF hegt nicht die Absicht, das Vermögen des Staates zu mehren; im Gegenteil. Haushaltsdisziplin sollte durchaus dem Ziel dienen, staatliche Güter und Dienstleistungen zum Bürger hin zu erbringen, so weit die Vermögenswerte des Staates es zulassen. Was der IWF anstrebt ist, wie in einem Unternehmen zu einer echten, kaufmännisch rechtmäßigen Bilanzierung staatlicher Einnahmen und Ausgaben zu kommen. Dazu sind alle ‚Bilanztricks‘ zu vermeiden, die durch Verzicht auf Investitionen und Privatisierungen etc. eine positive Leistungsbilanz manipulieren, die ohne sie ein sog. „negatives Nettovermögen“ ausweisen würde.
Will man eine kaufmännisch redliche Bilanz des Staatsvermögens aufstellen, sind natürlich alle einst investiven Ausgaben für Straßen, Gebäuden der Verwaltung wie von Museen, Goethe-Instituten und so weiter durch eine Abzinsung und Abschreibung auf den ursprünglichen Vermögenswerte zu beziffern und zu kontieren; das ist beim Staat durchaus so möglich wie in einem Unternehmen.
Anders sieht es dann aus, wenn staatliche Versorgungsverpflichtungen wie etwa Pensionsverpflichtungen für Staatsbedienstete und andere Vermögenswerte aus dem Finanzvermögen bewertet werden sollen3.
Weder können alle Vermögenswerte aus dem Verwaltungs- noch alle aus dem Finanzvermögen nach der Cash-Flow Methode o.a. abgezinst werden. Wir haben gesehen, dass mit der Cash-Flow Methode ein Zinsfuß auf zukünfte Erträge und Kosten auf einen Gegenwartswert verdichtet werden. Das geht gut bei Anlagen und Immobilien und wird um so unschärfer, wenn man Auslastung und Mietzinsen mit einbezieht; als reine Sachwerte sind sie in der Unternehmensbilanz aber durchaus vernünftig kontiert.
Aber wie verändern sich Pensionen? Wie verändert sich die Pensionspyramide durch eine bessere, effektivere Medizin und Verschiebung von harter körperlicher Arbeit zu mehr Büro- und Verwaltungsarbeit. Wie groß sind die Veränderungen durch andere Formen von Arbeit und Produktivität etwa durch Digitalisierung kompletter Arbeitsprozesse und Verlagerung etwa in home offices?
Wenn aktuell der IWF zu der ‚Berechnung“ eines negativen Nettovermögens von 31 Ländern kommt, die ein positives Nettovermögen selbst ausweisen, darunter Länder wie Deutschland, Österreich, England und Frankreich (das Land mit dem größten negativen Vermögenswert sind nach dem IWF die USA), dann stehen weniger die Berechnungsmethoden und die Bewertungsmodelle des IWF in der Kritik, die detailversessen an jeder Einzelposition durchgeführt wird. Es steht vielmehr die Frage im Raum, warum der IWF durch die Reduktion politischer Haushalte auf Unternehmensbilanzen mehr oder weniger allen Staaten der westlichen Welt eine restriktive Haushaltspolitik auf die Zukunft hin gleichsam wie ein Medikament verordnen will? Und gegen welche Krankheit diese Medikation eigentlich heilend helfen soll?
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Fiscal Monitor – Investive Ausgaben – goldene Regel der Haushaltspolitik
1 Fiscal Monitor International Monetary Fund
2 John Weeks, Progressive Economy Forum. Siehe auch transform! europe
3 Das gesamte Staatsvermögen setzt sich aus dem Verwaltungs- und dem Finanzvermögen zusammen. Das Verwaltungsvermögen gilt als unveräußerlich (lateinisch Res extra commercium) und besteht aus den unmittelbar der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben und öffentlichen Zwecken dienenden Anlagen wie Straßen, Flüsse, Kanäle, Meeresanteile, Inseln, Verwaltungsgebäude, Schulen oder Krankenhäuser.
Dabei dient das interne Verwaltungsvermögen dem internen Gebrauch durch die Staatsorganisation (Verwaltungsgebäude, Fuhrpark, militärische Anlagen), während das externe Verwaltungsvermögen (Infrastruktur, Wald, Behörden, Schulen, Friedhöfe) der Bevölkerung zur Verfügung steht.
Das Finanzvermögen setzt sich zusammen aus Betriebsvermögen, Kapitalbeteiligungen oder Forderungen (Devisenbestände, Goldbestände, Sonderziehungsrechte, Wertpapiere). Das Verwaltungsvermögen ist einer Kommerzialisierung entzogen, zumal für viele seiner Bestandteile kein aktiver Markt existiert und ein Verkehrswert nicht vorhanden ist. Das Finanzvermögen dient nicht direkt den Staatszwecken, sondern versetzt die Regierung in die Lage, durch seinen Kapitalwert oder seine Erträge einen Teil der aus den staatlichen Aufgaben entstehenden Kosten zu bestreiten. Das Finanzvermögen erleichtert damit die Erfüllung der Staatsaufgaben (Wikipedia).
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