Europa ist in der Krise. So sagt man überall, hört man von allen Seiten. Deshalb gehört der Absatz über das europäische Modell auch genau an diese Stelle der Philosophie des menschlichen Daseins. Die europäische Krise bewegt seit dem Jahr 2010 Millionen von europäischen Bürgern und eine ungeschätzte Zahl außerhalb Europas weltweit. Wenn wir den Beginn der Krise ins Jahr 2010 legen und damit den Ausbruch der griechischen Staatsschuldenkrise datieren, ist das nicht ganz willkürlich, gleichwohl der Anfang der Krise weit hinter diesem Datum zurück liegt.
Aber dieses Datum 2010 scheint alle die wesentlichen Vorgänge zu versammeln, die etwas Neues in einer alten Geschichte vorstellen, einen Einschnitt gewissermaßen, der damit einen neuen Anfang markiert, nämlich die Möglichkeit, dass westliche Industriestaaten pleitegehen können. Und so viel schon vorab; Griechenland zeigt, dass, wenn wir einen scheinbar ökonomischen Diskurs führen, insofern es ja durchaus um eine Pleite im ökonomischen Sinn geht, die Gründe in diesem Diskurs durchaus als hochgradig verschleiert gelten dürfen. Denn eins hat die Beinahe-Pleite des Ägäis-Staates bewiesen: Pleiten müssen nicht ökonomisch, sondern können durchaus auch politisch begründet sein.
Aber kurz zurück zu der Idee des europäischen Modells, die aus der Erfahrung zweier Weltkriege auf europäischem Boden – die unzähligen Kriege vorher lassen wir einmal an dieser Stelle unberücksichtigt – entstand. Das moderne Europa begann mit der Begegnung von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im September 1958, dreizehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und stand unter der Leitidee: Deutsch-Französische Freundschaft. De Gaulle war seit einigen Wochen französischer Ministerpräsident und hatte in einer demonstrativen Geste den deutschen Bundeskanzler in sein privates Landhaus nach Colombey-les-deux-Églises eingeladen, etwas, was er nie zuvor einem anderen Politiker hat zuteilwerden lassen und auch nach diesem Treffen unterließ.
Das europäische Modell, über das wir hier handeln, begann gewissermaßen mit einem Ende, dem Ende von Kriegen, Konflikten und zahllosen, wechselseitigen Demütigungen zwischen Frankreich und Deutschland, das 1945 al völlig unvorstellbar erschien. Unvorstellbar, dass Deutschland und Frankreich jemals eine Friedensweg würden einschlagen können. Um so überraschender war, dass bei den nach 1962 erfolgten Besuchen De Gaulles und Adenauers im jeweiligen Nachbarland bei beiden Bevölkerungen so viel Begeisterung auslösten. Und es waren eben die Aussicht auf ein Ende der Feindschaft zwischen beiden Staaten und die Möglichkeit einer konstruktiven Versöhnung, die die Bürger beider Länder auf den Straßen zum Ausdruck brachten, die zu den berühmten, gleichnamigen Verträgen geführt hatten, die dann am 22. Januar 1963 im Élysée-Palast in Paris von beiden Staatsoberhäuptern unterschreiben wurden.
Die Élysée-Verträge bildeten und bilden bis heute die Grundlage für die deutsch-französischen Freundschaft und sind zugleich die Grundlage für den Frieden in Europa. Das sollte man nicht vergessen und daran hielten sich auch fast alle nachfolgenden Staatsoberhäupter von Frankreich und Deutschland: Kohl und Mitterrand, Schröder und Chirac, Merkel und Sarkozy bzw. Hollande und Macron.
Deutsche Volkswirte, von Fuest1 bis Sinn2, würdigen diese Geschichte stets, auch wenn es um die Analyse scheinbar rein volkswirtschaftlicher Themen in Europa geht; Sinn hat die Idee sogar im Titel seines neuesten Buches: Der Euro – Von der Friedensidee zum Zankapfel. Diese Friedensidee steht also am Anfang des modernen Europas und dieser Anfang ist bestimmt als ein Anfang und Fortbestand zweier Nationen, wobei die eine, Deutschland, eigentlich ihre staatliche Autonomie und politische Selbstbestimmung 1945 verloren hatte. Deutschland stand unter dem Viermächtestatus, als es den europäischen Friedenprozess begann und erlangte über die Aussöhnung mit Frankreich einen quasi-autonomen Status in Hinblick auf die Integration in die europäische Staatengemeinschaft und europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die alliierten Siegermächte, also auch die USA und Großbritannien ließen Deutschland und Frankreich gewähren.
Der europäische Friedenprozess ist bis heute nicht abgeschlossen und stand immer unter der militärischen Schirmherrschaft der USA und der Nato. Dies ist deshalb wichtig, weil die europäische Integration bis heute, vor allem, wenn man die baltischen Staaten und Osteuropa hinzunimmt, nicht ohne die USA hätte stattfinden können; damals im Jahr 1990, als am 3.Oktober der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland vollzogen worden war, waren beide Voten, das der USA und von der damaligen Sowjetunion notwendig, wenn gleich die Stimmen aus England und Frankreich sicherlich die Wiedervereinigung hätten erschweren, aber kaum gegen die beiden militärischen Großmächte hätten verhindern können.
Das moderne Europa mit den baltischen Staaten, Polen, Teilen des ehemaligen Jugoslawien sowie den ehemaligen Balkanstaaten, die auf dem Weg in die EU sind, begann als ein Friedensprozess, dessen grundlegende, politische Bestimmung in der Souveränität jedes einzelnen Mitgliedstaates der EU zu finden ist. Zum Frieden der Völker gehört wesentlich deren Recht auf Selbstbestimmung. Das wird jenseits des Atlantiks mühelos übersehen, wenn es um Good Old Europe und dessen Versuch einer Wirtschafts- und Währungsunion geht. Dann spricht man gerne davon, dass eine Währungsunion, ohne eine politische Union oder eine Art Zentralstaat nicht funktioniere; was für ein Blödsinn. Und selbst wenn es sich herausstellte, dass der Euro wie die EU den Bach runtergehen, wäre es Unsinn, den Versuch nicht zu wagen, und Blödsinn, bereits jetzt darüber zu räsonieren und zu urteilen, wo der Prozess weder abgeschlossen ist, noch Glaskugel-Volkswirte wie Francis Fukuyama überhaupt wissen können, wie ein solcher Versuch ausgeht.
Krisenpropheten, denen der Verkauf ihrer mit waghalsigen Thesen und in der Regel unterdurchschnittlich informierten Spekulationen über Europa (und die Welt) nur so gespickten Bücher offensichtlich zentral am Herzen liegen, erwähnen wir hier nur, um deutlich zu machen, dass das europäische Modell ein Experiment ist, von dem niemand, weder in Europa noch unter solchen Thesentouristen weiß, wie es zuende gehen wird.
Das europäische Experiment – übrigens; so waghalsig wie oft gemeint, ist es gar nicht – kann und muss auf der Autonomie der Mitgliedsstaaten aufbauen und hat damit eine Grundbedingung, die jede Form von politischer Entscheidung als eine im eigenen wie im Gemeinsinn zu treffen hat; nichts ist politisch schwieriger als das.
Neben der Grundlage autonomer Entscheidungen der Staaten steht die Einhaltung der Aufnahme- bzw. Beitrittskriterien in die EU als gleichwertige Grundlage dieses Experiments. Diese sog. „Kopenhagener Kriterien“ müssen alle Staaten erfüllen, die der EU beitreten wollen:
Das „politische Kriterium“: Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.
Das „wirtschaftliche Kriterium“: Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.
Das „Acquis-Kriterium“: Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen das heißt: Übernahme des gesamten gemeinschaftlichen Rechts, des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“ (Acquis communautaire)3.
Diese Beitrittsbedingungen setzten als Grundbedingungen und nicht als gegebene Voraussetzungen auf einen, in den einzelnen Beitrittsstaaten in Gang gesetzten, politischen Integrationsprozess, der auch die Mitgliedsstaaten jederzeit zur Anpassung aus Vernunft anhält, ist also kein starrer, vorgegebener Prozess, sondern ein lebendiger Integrationsprozess.
Das ist er auch allein schon deshalb, weil ein Beitritt nicht nach starren Kriterien, sondern nach in die Einzelstaaten hin offenen, d.h. an diese staatlichen Besonderheiten angepassten Bedingungen vonstattengeht. Jedes Beitrittsabkommen ist also zunächst zu unterscheiden von einem Vertrag im völkerrechtlichen Sinne.
„Die Bedingungen für die Beitritte werden grundsätzlich in Abkommen festgelegt. Diese Beitrittsabkommen werden zwischen der Union und den Beitrittskandidaten kapitelweise ausgehandelt. Derzeit sind dies 35 Kapitel, die alle Rechtsbereiche umfassen. Bestandteil der Abkommen sind meist Übergangsregelungen, um den Beitritt eines Landes für beide Seiten verträglich zu gestalten. Diese Verhandlungen dauern normalerweise mehrere Jahre.
Die EU-Kommission legt jährlich so genannte Fortschrittsberichte vor. Darin wird der Stand der Verhandlungen und die Entwicklung des Beitrittskandidaten in Bezug auf die Anpassung an die EU-Anforderungen beschrieben.
Das Europäische Parlament muss zunächst den Beitrittsabkommen mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder zustimmen. Danach muss der Rat zustimmen, und zwar einstimmig. Die Unterzeichnung der Abkommen obliegt dann den Staats- und Regierungschefs der EU und der Beitrittsländer. Jedes Beitrittsabkommen muss als völkerrechtlicher Vertrag von den EU-Mitgliedstaaten und den Beitrittsländern gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften „ratifiziert“ werden. Mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden ist das Beitrittsverfahren abgeschlossen und die Abkommen treten in Kraft. Das Beitrittsland wird dann zum Mitgliedstaat.“(2019 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)
Man kann also kaum von einem grundsätzlichen Hasardeurtum sprechen, wenn man den Prozess des Beitritts zur EU bis zur völkerrechtlich bindenden Ratifizierung des Beitrittsvertrages vor Augen hat – ebenso wenig ist ein „Austrittsvertrag“ wie aktuelle im Falle des Brexits ein beliebig verhandelbares Kompendium; wie kommen darauf zurück. Mit dem Acquis-Kriterium ist ein weitreichender, aber zeitlich offener Integrationsprozess aller bestehender Mitgliedsstaaten in Gang gesetzt im Gegensatz zu den politischen wie ökonomischen Kriterien, die Voraussetzungscharakter haben.
Natürlich erscheint vielen das wirtschaftliche Kriterium als ein Widerspruch zur staatlichen Autonomie und dies nicht ganz zu Unrecht. Wenn es den einzelnen Staaten im europäischen Modell anheimgestellt bleibt, z.B. autonom über ihre Steuergesetzte zu entscheiden, dann kann sich allein daraus schon eine enorme Spannung unter den Mitgliedsstaaten ergeben, die bei oberflächlicher Betrachtung das Potenzial zur Krise bzw. Zerreißprobe des Zusammenhalts hat. Fiskalpolitische Alleingänge wie wir sie in Irland und den Niederlanden kennenlernen durften, werden nicht unerwähnt bleiben. Und immer wieder konfrontieren gerade die USA aus Kreisen der Ökonomik das europäische Modell gerade in diesem Punkt: Die Krise der EU hat eine ihrer Ursachen in der uneinheitlichen Steuerpolitik der Länder und wird sich deshalb in Zukunft sogar noch weiter verschärfen. Stimmt das?
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Élysée-Verträge – „Kopenhagener Kriterien“
1 Clemens Fuest, Johannes Becker : Der Odysseus-Komplex: Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. Hanser Verlag, München, 2017
2 Hans-Werner Sinn: Der Euro – Von der Friedensidee zum Zankapfel. Hanser, 2015, ISBN: 9783446444683
3 Bedingungen für den Beitritt zur Europäischen Union. 2019 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.
Clemens Fuest, Johannes Becker : Der Odysseus-Komplex: Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. Hanser Verlag, München, 2017
Hans-Werner Sinn: Der Euro – Von der Friedensidee zum Zankapfel. Hanser, 2015, ISBN: 9783446444683
Yoshihiro Francis Fukuyama (* 27. Oktober 1952 in Chicago, Illinois)
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