Gehen wir weiterhin davon aus, dass Griechenland ein Teil der EU bleibt, dann sind Griechenlands Schulden ähnlich wie die Japans von Brüssel aus betrachtet Inlandsschulden. Insofern die EZB Staats- und Unternehmensanleihen Griechenlands (in unbegrenzter Größenordnung) kauft, ist der griechische Staat vor allem als Wohlfahrtsstaat, sind die griechischen Unternehmen tendenziell in der Zukunft und faktisch bereits zu einem großen Teil in eine von uns als moderne Form der Verstaatlichung beschriebenen, politischen Ökonomie Europas transformiert.
Wie weit diese Transformation gehen kann, sehen wir bereits in Japan. Und diese Transformation der sozialen Marktwirtschaft in eine umfassende politische Ökonomie ist die Form der Ökonomie, die sich parallel mit der Globalisierung der Wirtschaft entwickelt. Das bedeutet gleichzeitig, dass damit die eingeschränkte Autonomie wirtschaftlichen Handelns auf der Grundlage der Freiheit bürgerlicher Verfassung, wie sie in der sozialen Marktwirtschaft ihre ökonomische Realität findet, ebenso transformiert wird.
Während also im amerikanischen Modell das Modell der liberalen Marktwirtschaft sich immer schneller fort entwickelt und sich in protektionistischen Märkten, Binnenmärkten mit starker Verkäufer-Orientierung bzw. dominanten Verkäufermärkten einerseits und andererseits in ökonomisch hegemonialen Großkonzernen auf den Weltmärkten bzw. bei den Schlüsseltechnologien der Zukunft realisiert, begleitet von der politischen Adäquatio hegemonialen Großmachtstrebens, geht das europäische Modell einen anderen Weg, der oberflächlich mit Multilateralismus und Konsensualismus umschrieben wird – wir kommen auf die Unterschiede, auf die Gegensätze beider Modelle noch zurück, fokussieren aber im Moment auf die Besonderheiten des europäischen Modells.
Das europäische Modell, welches wir ja bislang als ein Experiment bestimmt haben, wurde de facto erst am 11. Februar 2010 auf einem EU-Sondergipfel in Brüssel angestoßen. Der damaligen griechischen Regierung drohte eine dramatische Kapitalflucht und damit ihr Untergang im Strudel der „Spreads“ ausländischer Kapitalmärkte1. Hinter diese Marktreaktion darf man den dramatischen Verlust der Handlungsfähigkeit der griechischen Regierung unter Papandreou erkennen. Die Spreads lagen bei der Einführung des Euro in der gesamten Eurozone auf etwa Null. Im Jahr 2007 waren die Spreads beider Länder noch etwa gleich, dann fiel er kontinuierlich in Deutschland von 4,22 auf 0,45% und stieg in Griechenland von 4,50 bis auf 22,5% in 2012 um nun bei 4,19% in 2018 sich einzupendeln.
Die nackten Zinssätze aber sprechen von einer langen, fatalen Entwicklung, an deren Ende ein griechischer Staat steht, der seine autonome Handlungsfähigkeit verloren hat. Griechenland ist zwar formal ein autonomer Staat in der EU, de facto hat es aber keine Haushaltshoheit mehr. Das bedeutet natürlich sehr viel, engt es den Spielraum der Regierung eigentlich dahingehend ein, die durch die EU-Institutionen vorgegeben und von der griechischen Regierung beschlossenen Reformen durchzuführen und dies, ohne sich ein politisches Mandat dafür einholen zu können. Die griechische Regierung ist damit de facto ausführende Institution Brüsseler Austeritätspolitik.
Ganz im Sinne experimentellen Verhaltens sind heute die Befürworter der Austeritätspolitik ein wenig klüger, als zurzeit, als man diese beschlossen hatte. Ein wenig verwundert, dass man in Brüssel die Dramatik dieser Politik nicht hat vorab wissen können, aber wahrscheinlich wusste man sehr wohl, was auf Griechenland zukommen würde, hat es aber kalkuliert unausgesprochen gelassen.
In den acht Jahren Austeritätspolitik hat das Griechenland nicht nur ein Viertel seiner Wirtschaftskraft eingebüßt, sondern auch zahlreiche Menschen ans Ausland verloren. Insgesamt mehr als eine halbe Million. Viele davon werden nie mehr, einige erst nach vielen Jahren wieder zurückkehren. Es braucht wohl eine Generation, bis dieser Exodus kompensiert sein wird.
Das liegt auch daran, dass die Wachstumspolitik, hauptsächlich durch die Europäische Investitionsbank (EIB) gefördert, Jahre brauchen wird, bis dass aus zahlreichen, gleichwohl noch zu wenigen Projekten der EIB, wirklich Wachstum und Arbeitsplätze geworden sind. Projekte für die Modernisierung im Verkehrs- und Energiesektor, Autobahnen und Straßen sowie in Kommunikationssysteme laufen an, sind aber aufwendig in der Verbindung einzelner Landesteile und vor allem in der Anbindung der zahlreichen Inseln mit dem Festland.
Mit dem Ende der Kreditfinanzierung des Landes am 20.August 2018, die dem Land zu der Voraussetzung verhelfen sollte, sich wieder aus eigenen Mitteln zu finanzieren, also als autonomer Staat auf den Finanzmärkten auftreten zu können, ist die Austeritätspolitik nicht zugleich als beendet zu sehen und damit auch nicht von einer Rückgewinnung staatlicher Autonomie zu sprechen. Das liegt vor allem daran, dass Griechenland bereits einen Zahlungsaufschub für die fällige Rückzahlung eines Teils der Schulden bis 2032 ausgehandelt hat, was im engeren Sinne wiederum eine verkappte Finanzierung durch die EU-Kreditgeber darstellt.
Unter Premierminister Tsipras wurden vom Darlehensvolumen des dritten Kreditprogramms laut Angaben des ESM etwa 61 Milliarden Euro bereits ausgezahlt, weitere laut Vertrag bereitstehende 24 Milliarden Euro wurden aber von der griechischen Regierung bislang nicht abgerufen, die als ein Finanzpuffer der Vorgängerregierung Samaras 2014 für das damals geplante Ende der Kreditprogramme eingeplant und von den Kreditgebern eingeräumt worden sind.
Finanzpolitisch ist dieses Verhalten recht fragwürdig, aber staatspolitisch durchaus zu verstehen. Gleichwohl also Kreditfinanzierung des Landes offiziell beendet ist, reicht die Austeritätspolitik noch weiter in die Zukunft, gilt vertragsgemäß noch bis mindestens 2060. Die Milestones auf diesem langen Weg sind das Jahr 2022, bis dahin der griechische Staatshaushalt Primärüberschüsse von 3,5% als Untergrenze erreichen muss und das Jahr 2060, bis dahin 2,2% nicht angestrebt, sondern erreicht werden müssen. Dies alles vor dem Hintergrund, dass Griechenland kein Schuldenschnitt mehr gewährt wird, sondern dass Griechenland seine Staatsschulden abbaut.
Als Griechenland im Jahr 2010 bei den institutionellen Kreditgebern vorstellig wurde, lagen seine Staatsschulden Ende 2009 bei 127,9 Prozent des BIP und nominell bei knapp 300 Milliarden Euro. Diese Werte galten damals bereits als nicht mehr kreditwürdig und in keinem Fall tragbar. Heute beträgt die Schuldenquote 180,4 Prozent des BIPs und nominell 323 Milliarden Euro, was bei genauerer Betrachtung eine Differenz von 50 Mrd. Euro von den tatsächlichen Schulden rein rechnerisch bedeutet, faktisch als nicht zu den Staatsschulden zählende Verbindlichkeiten betrachtet werden.
Das Schuldenwachstum im griechischen Haushalt war hauptsächlich in der beispiellosen Rezession seit 2010 zu suchen, muss aber aus Sicht der gesamten Euro-Staaten betrachtet werden. Bei dieser Betrachtung, die auf das letzte Quartal 2017 zurückblickt, verzeichneten laut EuroStat2 12 Länder eine Erhöhung der Staatsschulden mit dem Spitzenreiter Belgien mit 2,9 Prozent, Griechenland mit 1,8 Prozent, Italien mit 1,6 Prozent, Slowenien mit 1,4 Prozent und Tschechien mit 1,1 Prozent.
Sechzehn EU-Staaten konnten ihre Schuldenquote vermindern. Die besten Ergebnisse lieferten Lettland mit -4,4 Prozent, Litauen mit -3,5 Prozent, Zypern mit -2,8 Prozent und Schweden mit -2,6 Prozent.
Für Griechenland bedeutet dieses Ergebnis, dass das Land unter einem sog. Metamemorandum steht, das es bis ins Jahr 2060 unter quartalsmäßig durchzuführenden Inspektionen der Kreditgeber stellt. Dieser Zeitraum, der auch als Enhanced Surveillance Programm bezeichnet wird, terminiert eine Überwachungsperiode, die bis zum Erreichen eines Abbaus der Schulden um 75 Prozent dauert.
Von den Eurokrisenländern hat dieses Schuldenziel bislang nur Spanien geschafft. Portugal steht noch bis 2026 unter Beobachtung, Zypern muss bis 2029 Inspektionen über sich ergehen lassen und Irland hat die Troikaner bis 2031 im Land. Dass einzig Griechenland die Inspektionen alle drei Monate über sich ergehen lassen muss, zeigt als wie dramatisch die Krise in diesem Land angesehen wird. Schaut man in die Details, wird einem schwarz vor Augen.
Mehr als 5.000 sozial einschneidende Gesetze und Regelungen sowie die Kapitalverkehrskontrollen bleiben, obwohl die Kreditfinanzierung des Landes offiziell zu Ende ist, in Kraft. Damit nicht genug, sobald Griechenland von den vereinbarten Vorgaben des Primärüberschusses abweicht oder davon abzuweichen droht, können die Kreditgeber weitere Maßnahmen verordnen. Dass diese Situation als demütigend und bevormundend empfunden wird, verwundert nicht.
Obwohl deutsche Banken bei der Verursachung der Krise nicht unbeteiligt waren, war Deutschland die treibende Kraft bei der Kontrolle der griechischen Banken nach dem Ende der Kreditfinanzierung. So bekommen griechische Banken nach wie vor keinen Zugang zu dem QE-Programm der EZB, was mit höheren Kosten für die Finanzierung der griechischen Banken zu Buche schlägt. Das ist eine Benachteiligung, die ungerechtfertigt und auch nicht notwendig ist, aber die Rückkehr der griechischen Wirtschaft erschwert und verzögert. Zudem müssen die Banken die sog. „roten Kredite“ abbauen, was in einer hohen Zahl Finanzierungskredite für Immobilien sind und somit in der Konsequenz dem Land und vielen normalen Bürgern Zwangsversteigerungen zumuten wird.
Auch in diesem Zusammenhang sind rein ökonomische Erwägungen weder sinnvoll noch notwendig und werden wohl auch bald korrigiert – wir kommen etwas weiter auf die Edis, die europäische Einlagensicherung zu sprechen. Denn den Haushalt als die in der Vergangenheit sich entwickelte Lebensform, die heute dem griechischen Oikos fast schon wieder gleichkommt, aufzulösen, wird am Ende mehr kosten, als mit Zwangsversteigerungen als Rettungsanker für griechische Banken einzutreiben ist.
Eine andere Form von Zwangsversteigerung ist besser bekannt als Privatisierung. Die trifft besonders Staatsbetriebe, Häfen und Flughäfen, kommunale Betriebe für Erdgas und Wasser etc. Diese Form der „Enteignung“ griechischen Eigentums zeichnet nicht per se die gewünschten Resultate. Der Verkauf des größten, griechischen Hafens von Piräus an die chinesische Großreederei Cosco kann sich bald auch als ein strategischer Fehler der europäischen Politik erweisen, wie man leider andernorts gerade erleben durfte. In Sri Lanka durfte die EU vor Kurzem den Lehrfilm chinesischer Kreditfinanzierung betrachten, die dem kleinen Inselstaat zwar groß-volumig den Ausbau seiner wichtigsten Infrastrukturträger, den Hafen von Hambantota und den Flughafen von Mattala gestattete, ihn aber nun für 99 Jahre in fast komplette Abhängigkeit durch die Gewährung der Nutzungsrechte für diesen langen Zeitraum bringt2.
Die chinesischen Kredite über etwa 1,12 Mrd. US-Dollar ermöglichten zwei exaltierte Prestigeprojekte mit fragwürdiger Wirtschaftlichkeit. Und als die Umsätze ausblieben, die Rückzahlung der Kredite sich erschwerte, griff die chinesische Strategie der One-Belt-One-Road-Initiative, die dem Land der Mitte über systematische Beteiligungen an strategischer Infrastruktur den Zugang entlang der Land- und Seehandelsrouten nach Westen garantiert; man darf Piräus als den bislang westlichsten Handelsstützpunkt Chinas betrachten, der den Zugang in die europäischen Exportgebiete stationiert.
Es ist eben ein Unterschied zwischen einer rein privatwirtschaftlichen Privatisierung von privatem oder öffentlichem Vermögen bzw. Eigentum oder eine staatspolitisch-strategischen Privatisierung3.
Welchen Aspekt im Zusammenhang mit den griechischen Staatsschulden man auch immer betrachtet, Austeritätspolitik, Bankenreformen, Privatisierungen usw., alle Aspekte münden schließlich in einer Betrachtung der griechischen Schulden – und dies gilt generell für alle Schuldenpolitiken – als einmal die explizite und einmal die implizite Staatsverschuldung. Die explizite ist die im Falle Griechenlands bis dato angehäufte Schuldensumme durch die Euro-Kreditgeber. Die implizite Staatsverschuldung summiert die staatlichen Leistungsversprechen an die Bürger, ist also eine Summe in der Zukunft, deren größte Positionen sich in den Pensionen und Renten, den Gesundheitssystemen sowie dem Finanzierungsbedarf für den zukünftige Betrieb staatlicher bzw. kommunaler Unternehmen und Liegenschaften finden.
Und es gehört in die Rubrik virtuoser, mathematischer Rechenkünste, die dann als Ergebnis ausweist, wie gut die EU-Länder, was deren Stabilität der Staatsfinanzen betriff, für die Zukunft gerüstet sind. Dabei wirken wie immer virtuos diese Berechnungen auch bewerkstelligt sind, die Ergebnisse dieser Rechenkünste einiges in der öffentlichen Diskussion und sogar auf den Finanzmärkten. Da besonders die Finanzmärkte nicht mit aktuellen, sondern mit prognostischen Zahlen und Bewertungen arbeiten, ist hier der sog. Nachhaltigkeitsfaktor der Staatsfinanzen auch von besonderer Bedeutung. Und der errechnet sich nun mal aus der Summe der expliziten plus der impliziten Staatsausgaben.
Es ist nicht unsinnig, einen Blick auf versteckte Schuldenlasten der Staaten zu werfen, anstatt lediglich auf die explizite Verschuldung in Relation zur Wirtschaftsleistung. In jener Perspektive fallen vor allem Renten und andere Leistungen der staatlichen Wohlfahrt ins Gewicht und demnach ist die Aussicht Griechenlands durchaus nicht mehr ganz so trübe. Der Teil der Austeritätspolitik, der sich mit den Renten beschäftigt, muss aus heutiger Sicht in die Zukunft feststellen, dass Griechenland einen großen Teil verdeckter Staatsschulden abgebaut hat, da kaum noch nicht gegenfinanzierte Renten in den Haushalten versteckt sind; im Vergleich mit Deutschland sieht der griechische Zukunftshaushalt bzw. das griechische Zukunftsguthaben exzellent aus.
So würde, wenn es mit den harten Sozialreformen so weiterginge bzw. sich daran nichts ändern würde, Griechenland in Zukunft mehr Steuern und Sozialabgaben einnehmen, als es für Schuldendienst und öffentliche Ausgaben bezahlen muss. Der aktuelle Alterungsbericht der EU-Kommission errechnet auf der Grundlage der expliziten plus impliziten Schulden für das zur Zeit am höchsten verschuldete EU-Land einen langfristigen Überschuss von 105% des BIP, was nichts anderes heißt, als dass Griechenland rein rechnerisch im Nachhaltigskeitsranking auf dem zweiten Platz aller EU-Staaten liegt, noch vor Litauen und Lettland und nur wenig hinter Rumänien.
Diese Länder prognostizieren für ihre heute jungen und mittelalten Einwohner laut Alterungsreport so geringe Renten, dass von den Staatseinahmen in Zukunft jedes Jahr mehr übrig bleiben wird. So kommt Italien auf Rang elf, drei Plätze besser als Deutschland, was seine impliziten Schulden, vor allem gegenüber Rentnern und Pensionären betrifft. Deutschlands Nachhaltigskeitsbilanz sieht mit den jüngsten Sozialreformen eingedenk dabei wesentlich schlechter aus.
Was aber die ganzen nationalen Alterungsreports und die Berechnung der impliziten Schulden wert sind, darf in der Sache stark bezweifelt werden. Dass die EU damit die Finanzmarktkommunikation zu beeinflussen versucht, ist unstrittig. Ob sich mit solchen höchst fehlerhaften und untereinander nicht abgestimmten Bevölkerungsprognosen aus den Meldungen der statistischen Ämter der EU-Staaten die Finanzmärkte beeinflussen lassen und ob dieser Weg überhaupt notwendig ist, ist ebenso zweifelhaft. Wo ist die Grenze zwischen einem durchaus sinnvollen, wenn seriös ermittelten Nachhaltigkeitsfaktor und kreativer Haushaltsanierung per Rechentricks?
Selbst für die Finanzmärkte, allem voran die Rating-Agenturen, ist die politische Interpretation der Erhebungen der statistischen Ämter der Staaten nicht immer transparent, zumal, wenn einige Daten der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durchaus der Richtigkeit entsprechen. Nachhaltigkeitsrankings, die sich in Europa an der sog. „Drei-Prozent-Defizitgrenze des Stabilitätspakts“ orientieren haben aber etwas vom Hütchen-Spiel; man weiß nie, unter welchem „Hut“ die Wahrheit versteckt ist.
[sidebar]
[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Multilateralismus und Kensensualismus – Metamemorandum – Austeritätspolitik – implizite Staatsverschuldung
1 Hier der Abstand der Renditen griechischer gegenüber den als sicher eingestuften deutschen Staatsanleihen.
2 Eurostat.
3
Vgl. dazu NZZ-Artikel: China zeichnet die Weltkarte neu.
[/sidebar]