Aufstand des Marktes

Es klingt ein wenig seltsam, von einem Aufstand des Marktes sprechen zu wollen, aber es hat darin seine ErklĂ€rung, dass die Assoziation zwischen Aufstand und Personen, die den Aufstand wagen, nicht als grundlegend angenommen werden soll. Grundlegend ĂŒber solchen heroischen Denkmustern setzte sich im europĂ€ischen Feudalismus eine zivilisatorische Entwicklung, getragen von den StĂ€dten, durch. Im antiken Griechenland erkennt man den Untergang der athenischen Kolonialisierung, die den Attischen Seebund1 tatsĂ€chlich trug und in der eine Form von Tyrannis sich mit experiementellen Formen der Volksherrschaft abwechselte, an der Unterbindung der Entwicklung der zum Bund gehörenden, ĂŒber hundert StĂ€dte und Stadtstaaten auf den Ă€gĂ€ischen Inseln durch Athen.

FĂŒr Marx war der europĂ€ische Feudalismus eine Vorform des Kapitalismus‘. Er wĂŒrde sich ordentlich wundern, wenn er erkennen mĂŒsste, welch‘ großen Raum an Remanenz feudale Strukturen mitten in der ‚kapitalistischen‘ Wirtschaftsform sich heute erhalten bzw. weiter entwickelt haben. Allein die sog. sozialen Netzwerke und Plattform-Ökonomien weisen derartige, neofeudale Strukturen auf, dass sie auf alle anderen nationalen wie internationalen MĂ€rkte großen Einfluss ausĂŒben.
Parallel zur Entwicklung der StĂ€dte verlor die Allmende der bĂ€uerlichen Subsistenzwirtschaft an Bedeutung und wurde feudalisiert. D.h. die bis dato freien Bauerngemeinschaften, die noch große Ähnlichkeit mit dem klassischen Oikos im antiken Griechenland hatten, wurden als Leibeigene unter Grundherrenrecht gezwungen. Der Absolutismus verlor in der bĂŒrgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland nicht nur seine Machtbasis, sondern auch seine Herrschaftsbasis.
Feudale Herrschaftsstrukturen waren unheitlich in Europa. Im Norden von Frankreich existierte ein feingliedriges Netz an Subinfeudationen, in SĂŒdfrankreich, Spanien und Italien blieb Land bzw. der Boden nicht lehnsgebundenes Allod2. In Schweden konnte sich der Feudalismus nicht durchsetzen, in England wiederum verschwand die autonome Volksgerichtsbarkeit nie vollstĂ€ndig, wodurch sich das Common Law besser und am schnellsten in ganz Europa entwickeln konnte.
In Italien und dem Languedoc zeigte sich eine deutliche Remanenz antiker Zivilstrukturen in der fast ununterbrochenen BlĂŒte der StĂ€dte und die Geschichte al-Andalus‘ mit der Vorherrschaft des Islam auf europĂ€ischen Boden zeitigte eine ganz besondere Staats- und Lebensform, die viel spĂ€ter erst sich in ganz Europa durchsetzte und unter ‚Renaissance‘ bekannt wurde.

Mit allen diesen Wandeln verbunden ist eine Marktausweitung, die sich, getrieben von zunehmenden Formen des Privateigentums, ausser in der Landwirtschaft, die noch lĂ€ngere Zeit Remanenzen von Allmende zeigte, in den StĂ€dten ausdifferenzierte. Dort in den StĂ€dten entstand die neuzeitliche Eigentumsgesellschaft mit dem freien Lohnarbeiter und dem permanenten technischen Fortschritt als deren sichtbare Zeichen. Denn Eigentumsgesellschaften als solche sind ‚unsichtbar‘, da es sich hierbei lediglich um einen Grundstock von Rechtstiteln, genauer gesagt, von Schuldtiteln handelt.

WĂ€hrend der Handel, der schon von Beginn der Neuzeit an globale Ausmaße hatte, sich entwickelte und seine Handelskriege und Kolonialisierung gleich mit ausbreitet, wurde diese Synthese aus Entwicklung und Unterwerfung an Land gewissermaßen kleinteiliger und vor allem immanenter, wenn wir Immanenz zunĂ€chst ganz einfach als Beschreibung eines geografisch begrenzten Wirtschaftraums gegen den globalen Handel unterscheiden. Wenn man also von einer Entwicklung von MĂ€rkten spricht kommt man nicht umhin, den Fokus dabei auf den technischen Wandel zu legen, aber dann sollten auf jedenfall auch die unsichtbaren Bedingungen fĂŒr den technischen Fortschritt, die Entwicklung des Privateigentums, die wir ausgiebig dargelegt haben, nicht aus den Augen gelassen werden. Allein von einem technischen Fortschritt zu sprechen, wĂ€re zu kurz gedacht. Und gar die EngfĂŒhrung zwischen technischem Fortschritt und Wirtschaftswachstum anzustrengen, machte sich nicht die MĂŒhe daran zu erinnern, dass inmitten des fast infenitesimal kleinen Zwischenraums zwischen Fortschritt und Wachstum stets auch die Krise genug Raum fand, um sich zu entwickeln und auszubrechen.

Heute sprechen wir von Disruption, um den Aufstand der MÀrkte zu markieren. Disruption, weil gegen eine Entwicklung gedacht wird, weil eine Entwicklung in eine Krise, zu einer ZÀsur findet. Weil z. B. disruptive Technologien Innovationen sind, die lediglich als Optimierung bestehender Technologien falsch verstanden wÀren, weil sie die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie, eines bestehenden Produkts oder einer bestehenden Dienstleistung ersetzen oder diese vollstÀndig vom Markt verdrÀngen. Man braucht wenig Phantasie, um hierin einen Widerspruch zu erkennen, der darin besteht, dass etwas, was eine Entwicklung beendet bzw. stört und unterbricht, zugleich ein Fortschritt sein soll, auf dessen Grundlage Wachstum aufbaut. Bis heute wird diesem Widerspruch in politischen Phrasen von der Sicherung von ArbeitsplÀtzen viel Raum eingerÀumt und disruptive Praxis bekÀmpft bzw. politisch wie wettbewerbsspezifisch einiges an Hindernissen in den Weg gelegt. Bis nach einer ZÀsur Entwicklung wieder stattfinden kann.
Wir sehen, dass Wettbewerb allein nicht unbedingt Motor fĂŒr Fortschritt, Entwicklung und Wachstum bedeutet. Wettbewerb kann den Aufstand der MĂ€rkte auch lange Zeit behindern und auch ganz zum Erliegen bringen; zumindest fĂŒr eine ganze Zeit.

Es war Schumpeter, der den ernsten Versuch startete, technischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum nicht nur zusammenzubringen, sondern auch als eigenen Produktionsfaktor berechenbar zu machen. Und der damit in deutlichen Widerspruch zu Karl Marx trat. FĂŒr Marx war die Technik aus ökonomischer Betrachtung lediglich ein Produktionsmittel und somit nur in den HĂ€nden der Arbeit, also der ProduktivkrĂ€fte ein Faktor fĂŒr Wachstum.
FĂŒr Schumpeter ist Technik keineswegs nur ein Produktionsmittel, sondern im Gegenteil, nur durch technischen Fortschritt wird ein langfristiges Wirtschaftswachstum ermöglicht.
In Schumpeters sog. endogener Wachstumstheorie wird der technische Fortschritt auch gleich als Produktivfaktor berechnet. Demnach ist der technische Fortschritt rechnerisch jene unerklĂ€rliche Differenz im gesamtwirtschaftlichen Wachstum, die seit Schumpeter als „Residuum“ oder RestgrĂ¶ĂŸe bezeichnet wird.

UnerklĂ€rlich deshalb, weil auf diese GrĂ¶ĂŸe, auf die sog. „Totale FaktorproduktivitĂ€t“ nur logisch geschlossen werden kann. Sie ist seither als volkswirtschaftliche Kennzahl ein Maß fĂŒr die ProduktivitĂ€t und gibt an, welcher Teil des Wachstums der Produktion (BIP) nicht auf ein Wachstum des Einsatzes der Produktionsfaktoren – in der Regel Arbeit und Kapital – zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann, sondern sozusagen als unerklĂ€rter Rest ĂŒbrig bleibt. Nach Schumpeter bietet es sich an, als Ursache fĂŒr diesen Teil des Wachstums des Produktionsergebnisses den technischen Fortschritt anzunehmen und, etwa seit dem Jahr 1994 liegen auch Zahlen fĂŒr das Ausmaß von technischer Entwicklung und Wirtschaftswachstum vor. Demnach wird, je nach Berechnungsart, in empirischen Studien der Beitrag, den die technische Entwicklung zum Wirtschaftswachstum erbringt, zwischen 40% bis 60% festgestellt; wir kommen darauf spĂ€ter zurĂŒck (Harabi 1994).

Wir haben bereits aufgezeigt, dass spĂ€testens seit Schumpeter sich zwei weitere Faktoren fĂŒr die Berechnung des Wachstums als GesamtgrĂ¶ĂŸe der ProduktivitĂ€tsentwicklung herangezogen werden mĂŒssen: einmal die so schön klingende Humankapitalakkumulation3 und der Lernkurveneffekt4. Interessant in diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass unter den Annahmen der neoklassischen Wirtschaftstheorie das Wachstm gerade aufgrund eines sinkenden Grenznutzens, verursacht durch Lernen im Umgang mit Maschinen und Prozessen sowie durch Bildung resp. Fortbildung, also dem besseren und schnelleren Erfassen moderner Produktionsweisen stets an seine Grenzen kommt, die es im technischen Fortschritt nicht gibt.

Vergleicht man natĂŒrlich den technischen mit dem Fortschritt des Menschen in Bildung und ArbeitsfĂ€higkeiten, sprich beruflichen Kompetenzen, dann hat eine Maschine, die nicht schlĂ€ft, krank wird und nur geringen Reproduktionsbedarf hat, selbstverstĂ€ndlich rein rechnerisch einen höheren Grenznutzen. Das Dumme an diesem Taylorismus aber ist nicht, dass man hier zwei völlig abstrakte Zeitebenen mit einander vergleicht, Maschinen- und Lebenszeit eines Menschen, was nichts anderes ist, als Äpfel mit Birnen zu vergleichen und sich dann wundern muss, wenn Mus dabei herauskommt; das wĂ€re zu verkraften.
Schwerer, viel schwerer wiegt, dass man einer „fetischistischen Verkehrung“ mit weitreichenden Folgen auf den Leim gegangen ist, einer „Personifizierung der Sache und Versachlichung der Person“, die in der Maschinerie „technisch handgreifliche Wirklichkeit“ gewonnen hat (MEW, Bd. III, S.518 f).
Marx beschreibt mit dem Begriff der Fetischisierung, den er als Fetischierung der Warenwelt entwickelt hat einen Vorgang, der nicht nur bedeutend ist im Kontext wirtschaftlicher Praxis, sondern auch durch die heutige Ökonomik nicht mehr erfasst wird, eher einfach vergessen wurde. Das mag auch daran liegen, dass Marx selbst den Begriff außerhalb der Warenwelt weitgehend im Unklaren ließ und er aber denselben hĂ€ufig in Anspruch genommen, quasi als eine Allzweckwaffe benutzt hat, um etwas zu beschreiben, was sich auch seiner starkt eingegrenzten ‚Faktortheorie‘ immer wieder logisch entzog, die ontologische Dimension moderner Technik.

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

heroische DenkmusterAllodProduktionsfaktorProduktionsmittel„Residuum“„Totale FaktorproduktivitĂ€t“Fetischisierung


1 Der Attische Seebund (auch Delisch-Attischer oder Attisch-Delischer Seebund) war ein BĂŒndnissystem zwischen Athen und zahlreichen Poleis in Kleinasien und auf den vorgelagerten Inseln. Die Athener hatten dabei in militĂ€rischer und organisatorischer Hinsicht von vornherein eine gewisse FĂŒhrungsrolle, die sie im Zuge ihrer innergesellschaftlichen demokratischen Umgestaltung zu einer erdrĂŒckenden Vormachtstellung ausbauten. Die dementsprechende Originalbezeichnung des Seebunds lautete: „Die Athener und ihre Alliierten“ (ÎżáŒ± áŒˆÎžÎ·ÎœÎ±áż–ÎżÎč Îșα᜶ ÎżáŒ± ÏƒÏÎŒÎŒÎ±Ï‡ÎżÎč) Wikipedia).
2 Das Allod, auch Eigengut oder Erbgut oder freies Eigen, bezeichnete im mittelalterlichen und frĂŒhneuzeitlichen Recht ein Eigentum (fast immer Land oder ein stĂ€dtisches GrundstĂŒck respektive ein Anwesen), ĂŒber das dessen Besitzer (Eigner, auch Erbherr) frei verfĂŒgen konnte. Als Familienerbe unterscheidet es sich darin vom Lehen und vom grundherrlichen Land. (Wikipedia).
3 Einfach gesprochen, die Senkung der StĂŒckkosten bei Steigerung der Produktion aufgrund von Erfahrung der ArbeitskrĂ€fte.
4 Z. B. Steigerung des Bildungsgrades durch Fortbildung der Mitarbeiter.


Najib Harabi: Technischer Fortschritt in der Schweiz: Empirische Ergebnisse aus industrieökonomischer Sicht. ZĂŒrich, 1994, S. 9.

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