Nach Walras und den weitesten Kreisen der Neoklassik gibt es das Allgemeine Gleichgewicht des Tauschmarktes in Wirklichkeit selten bis gar nicht. Marktversagen war recht schnell zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand der Theorie geworden. Einzig die Börse avencierte in deren Theorie als empirische und schöne Wirklichkeit, in der sich die Gleichgewichtstheorie unter lauter Marktversagen behauptete wie das kleine, legendäre Gallierdorf im Nord-Westen Frankreichs inmitten römischer Belagerung.
„Der Tauschwert stellt sich auf ganz natürliche Weise ein, wenn man dem Markt nur den Kräften der Konkurrenz überlässt. In seiner Eigenschaft als Käufer wird jemand die anderen überbieten und in seiner Eigenschaft als Verkäufer wird er einen Rabatt anbieten, so dass der Wettbewerb zu einem bestimmten Tauschwert der Waren führt, der manchmal steigt, manchmal sinkt oder gleich bleibt. Je nach dem, ob der Wettbwerb besser oder schlechter funktioniert, ergibt sich ein mehr oder weniger eindeutiger Tauschwert. Die im Hinblick auf die Konkurrenz best funktionierendsten Märkte sind jene, wo der Verkauf und Kauf durch Zuruf von Agenten wie etwa Börsenhändlern, Maklern oder Zurufern realisiert wird, die sie so in Übereinstimmung bringen, dass kein Tausch stattfindet, bevor nicht die Bedingungen angekündigt und bekannt gegeben wurden und bevor nicht die Verkäufer einen Rabatt und die Käufer ihr Angebot erhöhen konnten. So funktioniert die Börse mit Staatsanleihen, die Handelbörse, die Getreidemärkte, die Fischmärkte etc. Außer diesen Märkten gibt es noch andere, wo der Wettbewerb, wenn auch weniger reglementiert, noch auf eine zweckerfüllende und zufriedenstellende Art funktioniert, wie zum Beispiel die Obstmärkte, die Gemüsemärkte, die Geflügelmärkte. Die Straßen einer Stadt, wo sich die Läden und die Bäckerläden, die Metzgereien, die Lebensmittelläden, die Schneidereien, die Schuster befinden, sind weniger gut organisiert, jedenfalls was den Wettbewerb angeht.“1
In Zeiten elektronischer Börsen sind die Stunden der Auktionatoren gezählt wie die Dichte der zitierten Straßenläden von Tante Emma durch Supermärkte und eCommerce. Was Walras über die Börsen, hauptsächlich über die Warenterminbörsen anmerkt, hat mit diesen fast nicht zu tun. Das Bild, das er vor Augen hat, entspricht eher einem orientalischen Basar, als Finanzmarktplätzen; ein wenig eigene Empirie hätte seiner Theorie nicht geschadet.
Aktien oder gar Optionen auf Commodities haben mit Rabatten als Scharnier der Preisstellung nichts gemein. Strukturell sind die Funktionsweisen von Börsen und Warenproduzenten nicht zu vergleichen. Kann ein Hersteller durch flexible Anpassung der produzierten Mengen auf Marktveränderungen reagieren, geht dies bei Börsen so ohne weiteres nicht.
Der 5. Februar im Jahre 1637 war für die Tulpenhändler im niederländischen Alkmaar ein besonders schöner Tag. Bei einer Auktion wurden alle 99 angebotenen Tulpenzwiebeln reibungslos versteigert und unglaubliche 90.000 Gulden in die Kassen der Verkäufer gespült, was einem heutigen Gegenwert von etwa 1 Mio. Euro entspricht.
Begonnen hatte die Konjunktur des Liliengewächses in der Mitte des 16. Jahrhunderts, als der Wiener Gesandte in Konstantinopel sich in die farbenprächtigen Tulpenfelder des hiesigen Sultans verliebte und ein paar der Zwiebeln an den heimischen Kaiserhof schickte. Tulpen fanden schnell Liebhaber an Höfen und bei höfischen Apologeten in ganz Europa. Ganz besonders in den calvinistischen Niederlanden wurde die Zwiebel fast andachtsvoll verehrt, zunächst in der Oberschicht, die allenorts Tulpenbeete in ihren Gärten anlegte. Hinzu kam, dass infolge des blühenden Ostindienhandels in ganz Holland eine reiche Kaufmannsschicht entstanden war, die nach Reputation und Anerkennung gierte. Reiche Händler, sogar Kapitäne der Ostindienroute sahen in der Tulpe fortan ein geeignetes Statussymbol und heizten die Nachfrage nach deren Zwiebel an. Für seltene und besonders verwegene Züchtungen, die dem Statussymbol auch noch eine gewisse Alleinstellung einbrachten, wurden atemberaubende Preise gezahlt.
Nicht nur die Verkäufer, auch die Käufer in Alkmaar waren am 5. Februar 1637 besonders guter Dinge und ohne Zweifel davon überzeugt, dass sie die erworbenen Zwiebeln noch vor deren Lieferung mit deutlichen Gewinnen würden weiterverkaufen können.
So wurden an der gerade erst gegründeten Börse von Amsterdam und in Alkmaar Obligationen auf Knollen versteigert, auf Zwiebeln, die keiner der Börsentrader je gesehen hatte, die, so glaubte man, noch in der Erde ihrer Blüte und somit ihrem Wert entgegen wuchsen. Eine Blume, eine Pflanze aus der Gattung der Liliengewächse, war in kurzer Zeit zu einem Spekulationsobjekt geworden, ähnlich einer Warenterminoption. Und wie wenig hat sich bis dato geändert.
„Alle Welt glaubte, die Gier nach Tulpen würde nie gestillt werden und die Begüterten der Welt würden jeden Preis zahlen, um Tulpen aus den Niederlanden in ihren Besitz zu bringen.“ (Charles MacKay, schottischer Literat).
Was daraus entstand, wird heute unter dem Ausdruck: Tulpomanie geführt.
„Adlige, Bürger, Bauern, Handwerker, Seeleute, Lakaien, Dienstmädchen, selbst Schornsteinfeger und Flickschneiderinnen. Alle liquidierten ihr Vermögen, um Investitionskapital zu haben.“ (s.o.)
Für damalige Verhältnisse enorme Summen an liquidiertem Vermögen – nebenbei vermerkt, hat ein damaliger schottischer Literat wesentlich mehr von der Triebkraft der Vorläufer unserer Marktwirtschaft verstanden, als so mancher Zeitgenosse in aktuellen akademischen Würden – wurden nun in Anbau und Züchtung des „Underlying“ sowie, der größere Teil, in das Finanztrading und in den Derivatehandel gesteckt.
Vorläufer von Warentermingeschäften wurden ein erstes Mal und in begrenzter Ausdehnung zum Massenphänomen, das den Traum, ohne Arbeit reich zu werden, austräumte. Preisabsprachen auf zukünftige Produkte, ja sogar darauf basierende ‚Vorauszahlungen‘ hat es bereits in der griechischen Antike und älteren Kulturen gegeben. Vielleicht sogar ähnliche Geschäfte wie unsere „Leerverkäufe“, also börsengestützter Optionshandel mit geliehenem Geld.
Was es damals nicht bgab, war ein feinmaschiges, operatives Finanztrading auf einer eben solchen Rechtsgrundlage. Damals war alles eben wie auf einem orientalischen Basar organisiert. Ein Verkäufer ging ein Geschäft ein, eine Absprache, eine Ware oder ein Wirtschaftsgut noch vor seiner Fertigstellung zu einem bestimmten Preis weit vorab zu kaufen, in der Hoffnung, dass das Gut dann zu einem höheren Preis auf dem Markt wieder veräußert werden kann.
Damals gab es kein eigentumsrechtlich abgesichertes Wirtschaften, also keinen Zugriff oder Rechtstitel auf nicht-liquidiertes Vermögen bzw. Anrechte auf das in Warentermingeschäften disponierte „Underlying“. Die „betrogenen“ Schornsteinfeger und Dienstmädchen hatten am 6. Februar 1637 nicht nur ihr ganzes Geld verloren, als die Preise für Tulpen in den Keller rauschten. Sie standen zudem buchtsäblich mit leeren Händen da, weder Zwiebel noch Tulpen gehörten ihnen und konnten Küche oder Garten schmücken oder zur Grundlage für eine eigene Tulpenzucht werden.
Gerne wird die Tulpomanie als die „Mutter aller Spekulationsblasen“ zitiert. Aber Basar- und Börsengeschäfte haben wenig bis nichts gemeinsam. Außer, man betrachtet beide, wie gesagt, als reine Tauschmärkte. Und dabei sieht man doch bereits am Beispiel der Tulpenbörse in Amsterdam, dass einige Störfaktoren anscheinend existierten, die ein Gleichgewicht auf dem Tulpenmarkt damals bereits verhinderten.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Commodities – Tulpomanie – „Leerverkäufe“
1 „La valeur d’échange laissée à elle-même se produit naturelle- ment sur le marché sous l’empire de la concurrence. Comme acheteurs, les échangeurs demandent à l’enchère, comme vendeurs, ils offrent au rabais, et leur concours amène ainsi une certaine valeur d’échange des marchandises tantôt ascendante, tantôt d’escendante et tantôt stationnaire. Selon que cette concurrence fonctionne plus ou moins bien , la valeur d’échange se produit d’une manière plus ou moins rigoureuse. Les marchés les mieux organisés sous le rapport de la concurrence sont ceux où les ventes et achats se font à la criée, par l’intermédiaire d’agents tels qu’agents de change, courtiers de commerce, crieurs, qui les centralisent , de telle sorte qu’aucun échange n’ait lieu sans que les conditions en soient annoncées et connues, et sans que les vendeurs puissent mettre au rabais et les acheteurs à l’en- chère. Ainsi fonctionnent les Bourses de fonds publics , les Bourses de commerce, les marchés aux grains, au poisson, etc. A côté de ces marchés , il y en a d’autres où la concurrence, quoique moins bien réglée, fonctionne encore d’une manière assez convenable et satisfaisante : tels sont les marchés aux fruits et légumes, à la volaille. Les rues d’une ville où se trouvent des magasins et des boutiques de boulangers, de bouchers , d’épi- ciers, de tailleurs, de bottiers, sont des marchés d’une organi- sation un peu plus défectueuse sous le rapport de la concurrence.“
Aus Léon Walras, Elements d‘ economie politique pure ou theorie de la richesse, Section II, 9° Leçon
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