Wir beschäftigen uns, zur Zeit noch rein theoretisch die Voraussetzungen klärend, mit der Frage, ob es denkbar ist, wie die Ökonomik gerne bestätigt wissen würde, dass die Reproduktions- und Entwicklungsprozesse einer Gesellschaft durchgängig als Marktwirtschaft funktionieren können? Oder, ob eine Gesellschaft ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte alle Formen der gesellschaftlichen Praxis, alle Beziehungen, die sie innerhalb und außerhalb ihrer nationalen Grenzen unterhält in solche Beziehungen zwischen Marktakteuren transformieren kann bzw. muss und dass diese Transformation sowohl die gesellschaftliche Wohlfahrt mehren wie deren kulturelle Entwicklung beeinflussen kann.
Wir können alle diese Fragen, die damit zusammenhängen auch zusammenfassen zu der Frage: Kann die Marktwirtschaft grundsätzlich zum alleinigen, zum umfassenden Organisations- und Entwicklungsprinzip einer Gesellschaft erklärt werden?
Die Apologeten der Marktwirtschaft beantworten diese Fragen unisono positiv. Wer sind diese Apologeten? Wir behaupten, dass es in den politischen wie in den ökonomischen Institutionen weltweit außer Apologeten niemanden von Relevanz mehr gibt, dem dieser Status nicht zukäme. Das, was man unter Marktwirtschaft versteht, wenn gleich auch unterschiedlich in den Staaten der Erde ausdifferenziert, hat sich zum globalen Prinzip erhoben, das auch kriterial darüber mitentscheidet, welche Voraussetzungen kulturelle Entwicklungen nehmen können bzw. nicht nehmen können.
Wenn also die Marktwirtschaft einen großen Einfluss ausübt auf kulturelle Prozesse, dann müsste man sie daran erkennen, dass Kultur den marktwirtschaftlichen Bedingungen ausgesetzt ist wie umgekehrt sich Kultur marktwirtschaftlichen Bedingungen anpasst.
Diese Dialektik wechselseitiger Beeinflussung teleologisiert sich final zu einer wechselseitigen Affirmation, zu einer symbiotischen Bestätigung von Kultur durch den Markt wie den Markt durch die Kultur. Das sehen wir allenorts bestätigt.
Warum also der Dialektik von Kultur und Marktwirtschaft noch weiter hinterherdenken? Wenn doch alles so sehr ineinander verwoben zu sein scheint, dass eine Differenz, eine Öffnung in diesem scheinbar geschlossenen System (Luhman) nirgends sichtbar ist?
Für uns kommt der Dialektik von Kultur und Markt eine ganz zentrale Stellung zu. Allein deshalb lohnt ein Blick auf diesen Prozess, der sich aus einem negativen Verhältnis zwischen Kultur und Markt entwickelt und als dieses das treibende Moment unserer modernen Geschichte ist.
Als eine Dialektik der Negativität, die mithin als die bewegenden und erzeugenden Prinzipien in der Kultur wie in der Marktwirtschaft historisch gesehen ihre wesentlichen Triebfedern hat, beeinflussen sich beide wechselseitig, aber nicht so, wie klassische Dialektik, ausgehend von ihren griechischen Anfängen bei Platon und Aristoteles bis dann zu Kant und letztlich zu Hegel in ihr die spiralförmige Vereinigung von Gegensätzen zu einem höheren Dritten verstehen will.
Kultur und Marktwirtschaft bilden vonseiten der menschlichen Praxis her betrachtet, keinen Prozess, der Gegensätze vereint, auch kein aktives, dysfunktionales Verhalten in Interaktion, sondern einen Prozess der historischen Durchsetzung, wobei damit noch nicht gesagt ist, dass sich die besseren Verhältnisse gegen die aktuell politisch stärkeren durchsetzen. Kulturelle Entwicklung will bessere Verhältnisse. Das will Marktwirtschaft auch. Marktwirtschaft glaubt über die Verbesserung der materiellen Verhältnisse, also durch höheres Geldeinkommen, Besitz und Eigentum zugleich den Prozess der kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft ganz wesentlich bestimmen zu können. Im Verein mit der modernen Wissenschaft und der Technik glauben die Apologeten der Marktwirtschaft nicht nur an die kulturelle Verbesserung der Gesellschaft, sondern auch daran, dies umfassend, also für alle Mitglieder der Gesellschaft und in einer optimalen Zeit, das zählt innerhalb einer Generation, bewerkstelligen zu können.
Ihre wissenschaftlichen Vertreter zweifeln mittlerweile zunehmend an den Kriterien, die zur Messung der Entwicklung herangezogen werden; trotzdem sind bis heute Einkommen, also Lohnsummen und Bruttosozialprodukt die Kernmessgrößen für die zunehmende bzw. abnehmende Zufriedenheit der Gesellschaft mit ihrer Entwicklung in Richtung generativer wie individueller Verbesserung der Lebensituation und -aussichten.
Wenngleich in einigen Fachzeitschriften der Volkswirtschaftslehre zunehmende Zweifel an dieser kriterialen Ausrichtung der Ökonomik in Richtung einer Entwicklung zum Besseren auszumachen sind, weder haben wir neue und bessere Kriterien noch kompensieren die Studien der sozialwissenschaftlichen Glücksforschung die wissenschaftlichen Lücken der Ökonomie.
Aber was sind die Kriterien der kulturellen Entwicklung? Gibt es solche? Wenn heute ehemalige Konzernvorstände wie etwa der einstig Personalchefvorstand der Deutschen Telekom, Sattelberger, mehr Disruption1 in den Abteilungen und Funktionsebenen deutscher Konzerne fordet, mag man die Not, aber auch die Richtung erkennen, mit der den bestehenden, marktwirtschaftlichen Strukturen gerne zu Leibe gerückt würde. Ganz generell kann man mit Sattelberger sagen, dass Disruption nicht verwechselt werden darf mit einem politischen Begriff wie die Revolution; revolutionäre Ambitionen ehemaligen Unternehmenslenkern zu unterstellen, griffe dann doch wohl ein wenig zu weit.
Mit dem Begriff der Disruption werden allein Unternehmen, keine politischen Systeme betrachtet. Wenn Unternehmen existenzbedrohend Geschäftsfelder bzw. Geschäftsmodelle verlieren, durch technische oder systemische Innovationen, dann können Unternehmen, ja sogar ganze Brachen untergehen oder zumindest lokal verschwinden, die Marktwirtschaft als ganze ist dabei noch nicht bedroht.
Diesen disruptiven Prozess als notwendig für eine funktionierende Weiterentwicklung des Marktes zu verstehen, soll aber die Entwicklung an sich nicht unterbewerten; im Gegenteil. Diese Entwicklung ist dialektisch, also Teil der Kultur wie diese auch Teil des Marktes ist. Beide stehen in diesem negativen Verhältnis zueinander und Kultur bildet insofern einen nicht notwendig affirmativen Teil der Marktentwicklung, weil jene disruptiven – ein ungeeignetes Wort – Kräfte nicht selbst wiederum Teil des Marktes per se sind.
Sie gehören zur kulturellen Entwicklung, weil alle Erneuerungen auf dem Markt nicht ohne Wissen auskommen. Reflexionen, nachdenken darüber, was es gibt und was es geben könnte, wie etwas ist und wie etwas besser sein könnte, sind die notwendigen Voraussetzungen für kulturelle und ökonomische Entwicklungen. Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle kurz mit dem Wissen aus Sicht der Ökonomik und der Ökonomie beschäftigen.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
1 Der Begriff „Disruption“ leitet sich von dem englischen Wort „disrupt“ („zerstören“, „unterbrechen“) ab und beschreibt einen Vorgang, der vor allem mit dem Umbruch der Digitalwirtschaft in Zusammenhang gebracht wird: Bestehende, traditionelle Geschäftsmodelle, Produkte, Technologien oder Dienstleistungen werden immer wieder von innovativen Erneuerungen abgelöst und teilweise vollständig verdrängt.
Der Unterschied zwischen einer normalen Innovation, wie sie in allen Branchen vorkommen kann, und einer disruptiven Innovation liegt in der Art und Weise der Veränderung. Während es sich bei einer Innovation um eine Erneuerung handelt, die den Markt nicht grundlegend verändert, sondern lediglich weiterentwickelt, bezeichnet die disruptive Innovation eine komplette Umstrukturierung beziehungsweise Zerschlagung des bestehenden Modells.
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