Neue Wachstumstheorien

Fast unbemerkt hat sich ein zweiter Wandel vollzogen. Mit dem Wandel von Produktivkraft und Produktionsmittel zu einer differenzlosen Einheit im Faktor Arbeit, hat sich auch die Betrachtung der Produktivkraft hin zu Wachstum verschoben. Die Denkrichtung bzw. die Analyse der wirtschaftlichen Kräftefaktoren geht nicht mehr aus von der Produktivkraft zum Wachstum, sondern in umgekehrter Richtung vom Wachstum zur Produktivkraft.

Die Antwort auf die erste der drei zentralen Fragen: hat sich die Richtung des Denkens mit der Gleichsetzung von Produktivkraft und Wachstum geändert, hat sich damit bereits ergeben. Die zweite damit verbundene Frage: hat mit dem Richtungswechsel auch zugleich ein Paradigmenwechsel stattgefunden, sind also neue Bedingungen in die Analyse eingeführt worden bzw. kann man im Denken dieser Einheit von Produktivkraft und Wachstum einen Fortschritt im Denken der modernen Ökonomik erkennen? muss uns nun beschäftigen.

Nach den Auffassungen der modernen Wachstumstheorien gründen alle Ansätze auf einer impliziten oder expliziten Theorie des Technischen Fortschritts, die wiederum in einer endogenen Auffassung des Wachstums selbst versammelt sind. Endogen heisst, dass alle Erklärungen von Wachstum nicht auf modellexogenen Eigenschaften der empirischen Analysen, sondern auf modellendogenen, also auf die innerhalb eines Modells verwendeten Eigenschaften beruhen, also vom Modell und nicht nur in empirischen Analysen auch erfasst werden. Das klingt widersprüchlich und den wissenschaftlichen Geist empirischer Untersuchungen zu konterkarieren, ist aber weitaus trivialer, trotzdem signifikant.

Modellendogene Ansätze in der modernen Theorie zur Erklärung von Wachstum, also auch zu den Produktivfaktoren, gehen an die Analysen mit den gleichen oder ähnlichen Modellannahmen wie die Neoklassik selbst, oder weichen fundamental von diesen neoklassischen Annahmen ab. Während die einen von Gleichgewichten und vollkommenen Märkten ausgehen, gründen die anderen auf der Annahme, das gerade Marktunvollkommenheiten dauerhaftes Wachstum erklären. Prima vista erscheint der Unterschied epistemologisch trivial, findet ja in vollkommen Zuständen kein Prozess der Veränderung mehr statt, bzw. nähert sich jede Isoquante tangential bei Annäherung an ein Maximum ihrem Minimalwert Null.

Analysieren die einen Wissenschaftler die unterschiedlichsten Faktoren bzw. Produktivkräfte, also bleiben innerhalb eines makroökonomischen Modells, so gehen andere über makroökonomische Modelle hinaus. Dabei ist es nicht einfach, genaue Demarkationslinien zwischen den modell-immanenten und den modell-transzendenten Ansätzen zu ziehen.
Im wesentlichen aber unterscheiden sich beide Denkrichtungen paradigmatisch, wobei die einen sich innerhalb eines Feldes unterschiedlicher Produktivkräfte resp. sozialwirtschaftlicher Faktoren wie Humankapital, Wissen, Forschung und Entwicklung (F&E), Produktvielfalt1, struktureller Faktoren wie z.B. neue Produktionsverfahren und variante Marktstrukturen sowie wirtschaftspolitischer Faktoren wie vor allem wirtschaftspolitische Stabilität, fiskalbedingte, moderate Wohlstandsunterschiede, oder ungehinderter internationaler Handel durch stabile Verträge und Sanktionen bewegen. Damit haben wir auch Frage zwei nach einem Paradigmenwechsel beantwortet.

Ohne auf die einzelnen, inhaltlichen Bestimmungen der Faktoren einzugehen, soll festgehalten werden, dass die neuen Wachstumstheorien in ihrem paradigmatischen Wechsel mit der Ausweitung des Modells auch den Fragehorizont ausweiten. Es soll nun nicht mehr nur erklärt werden, wie Wachstum entsteht, sondern zugleich auch wie die am Wachstumk beteiligten Faktoren erzeugt bzw. optimiert werden.
Wiederum zur Illustration sei der Einfachheit halber angemerkt, dass alle klassischen Wachstumstheorien, die, angefangen bei Marx, allein die Arbeitskraft als wertschöpfend bestimmt haben bzw. bestimmen, wenig bis nichts darüber aussagen können, wie denn dauerhaftes Wachstum gesichert wird. Wie ein Technischer Fortschritt überhaupt zustande kommt und welche Einflüsse und Bedingungen dafür maßgeblich sind? Von sich aus investiert weder ein Arbeiter noch ein Unternehmer in Bildung, Forschung und Entwicklung etc.

In diesem Zusammenhang kurz vermerkt sei auch, dass die Hinzunahme von unternehmerischer Tätigkeit zu den Produktivkräften eben solche theoretischen Schwierigkeiten macht. Nicht nur, dass Unternehmensinteressen wie auch die Interessen deren organisatorisch obersten Entscheidungsvertreter oftmals nur als kurzfristige Bilanzinteressen existieren, sondern dass deren Verhalten, entgegen einer Sicherung nachhaltigen bilanziellen Wachstums wie im sog. Diesel-Skandal zu sehen, sogar zu erheblichen Schäden für das Unternehmen und darüber hinaus indirekt in einer ganzen Branche bzw. Volkswirtschaft führen kann.
Das eingesetzte Humankapital hat sich in diesen Fällen in der Automobilwirtschaft, privater wie öffentlicher Banken und Versicherungen, der Immobilienwirtschaft etc. mehr als schlecht rentiert.

Wenn also Bedingungen und Einflüsse auf Wachstum analysiert werden, dann gilt es also nicht nur, makroökonomische Kennzahlen zu erklären bzw. zu bestätigen, sondern Einflüsse auf makroökonomische Kennzahlen, jenseits solcher Kennzahlen zu identifizieren. Man könnte hypothetisch auch davon ausgehen, dass, wenn sich makroökonomische Kennzahlen über eine angemessene Zeitraumbetrachtung nicht bestätigen lassen, die Einflüsse aus anderen Feldern, also nicht den ökonomischen Bedingungen zugerechneten, erhöhen.

Das Feld der makroökonomischen Kennzahlen lässt sich beispielhaft mit den sog. Kaldor-Fakten eingrenzen2 und gilt als die Grundlage der sog. Balanced-Growth-Theory, wonach in neoklassischen Analysen ein stilisierter Faktenkatalog von Faktoren den Wachstumsprozess trägt; unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei um die beiden Grundfaktoren Kapital und Arbeit handelt. Eben so unschwer zu erkennen aus heutiger Sicht ist, dass alle Faktoren der Balanced-Growth-Theory sich als unrichtig erwiesen haben, was uns dazu bringt, unserer Vermutung, dass die „externen“ Faktoren eventuell an Einfluss gewonnen haben müssten.

Zwei Ansätze, solche Einflussfaktoren zu identifizieren, bieten jene modernen Wachstumstheorien, die sie in den Einkommensunterschieden innerhalb einer Volkswirtschaft sowie zwischen Volkswirtschaften finden, oder generell in den divergenten Einkommensverläufen über einen längeren Zeitraum betrachtet. Dabei betrachtet der Ansatz des sog. Directed Technological Change den Technischen Fortschritt aus dem Blickwinkel von Qualifizierung bzw. Bildung und erkennt im Ergebnis, dass das Verhältnis von qualifizierten zu unqualifizierten Arbeitskräften über einen Zeitraum von sechzig Jahren gestiegen ist, aber andererseits nicht beobachtet werden konnte, dass das Verhältnis der Löhne für qualifizierte und unqualifizierte Arbeit gesunken wäre.
Es verwundert ein wenig, dass Acemoğlu hier allein auf neoklassische Ansätze, wie den von Angebot und Nachfrage vertraut, also ähnlich wie im Romer-Modell vorgeht, um externe Faktoren zu identifizieren. Die Differenzierung zwischen qualifizierter oder unqualifizierter Arbeit und deren strukturelle Gleichsetzung mit einem Wachstumsmodell auf der Basis von Technischen Wachstum führt zwar zu einer feineren Justierung, verlässt aber das neoklassische Modell paradigmatisch nicht wirklich, da auch hier mit der substitutiven die traditionellen Annahmen nicht überschritten werden.

Nach Acemoğlu werden Technologien komplementär zum Faktor Arbeit entwickelt, hier differenziert nach qualifizierter und unqualifizierter Arbeit. Wäre dies so, dann stünde es auch im fundamentalen Interesse eines Unternehmens, finanzielle Ressourcen in die Entwicklung neuer Technologien kompelementär zum jeweiligen Produktionsfaktor Arbeit zu lenken, wofür der wachsende Grad an Atomatisierung im industriellen Zeitalter spricht. Angenommen, die Motivation bzw. der Anreiz, in bestehende technische Entwicklungen zu investieren wäre gegeben, dann wäre sie von zwei Effekten abhängig, dem Preis- und dem Marktgrößeneffekt. Setzt man die Eigenschaft komlementär gleich mit substitutiv, dann stimmt die Formel, dass, wenn sich – wie im Beispiel der Entwicklung der Computertechnologie gerne aufgezeigt – das Verhältnis von qualifizierter zu unqualifizierter Arbeit erhöht, der Markt für Innovationen komplementär zur qualifizierten Arbeit relativ größer wird. Dem Marktgrößeneffekt entspricht dann auch der Preiseffekt, insofern die relativen Profite im Einsatz solcher Technologien auch steigen, wenn der Marktgrößeneffekt dominant gegenüber dem Preiseffekt bleibt, da ja der relative Preis der produzierten Güter nach diesem Modell sich reduzieren muss.

Wir sehen, dass nur dann der Marktgrößeneffekt gegen den Preiseffekt zum Tragen kommt, wenn die Substitutionselastizität zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit hinreichend groß, der Marktgrößeneffekt also dominant ist. Die Richtung des technischen Fortschritts verlagert sich dann nachhaltig zugunsten von qualifizierter Arbeit. Damit steigt auch die Produktivität von qualifizierter Arbeit relativ zur unqualifizierten Arbeit, so dass auch ein Anstieg des relativen Lohnes für qualifizierte Arbeit beobachtet werden kann.
Warum in Gottes Namen war dann die Einführung und die Entwicklung der Computertechnologie in den westlichen Industriestaaten so unterschiedlich verlaufen?
Warum verlaufen die Investitionen selbst in bereits bestehende technische Entwicklungen auch heute noch so markant unterschiedlich in den westlichen Ökonomien?
Warum erkennen wir signifikante Divergenzen bei der Einführung neuer Technologien wie etwa Künstliche Intelligenz (KI) in diesen Volkswirtschaften?
Kann eine Theorie, die nicht mehr am Paradigma des endogenen Wachstums festhält, mehr Klarheit bezüglich der Faktoren, die maßgeblich sind für Wachstum beitragen?

Oded Galor entwickelte hierzu den Ansatz der ‚Unified Growth Theory‘ und fand heraus, dass es in einer langfistigen, also einer historischen Betrachtung, weder ein, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, signifikantes Wirtschaftswachstum gegeben hat, wie auch im gleichen Zeitraum im internationalen Vergleich nahezu keine Einkommensunterschiede festzustellen waren. Aber allein die empirische Basis zu verbreitern und den unterschiedlichsten historischen Ausprägungen des Wachstumsprozesses bzw. dessen treibenden Kräften nachzuforschen ist methodisch wie auch historisch höchst fragwürdig. Daran ändert auch nichts, wenn als grundlegendes Kriterium das Zusammenwirken von demografischer Transition und wirtschaftlicher Entwicklung angestzt wird.
Die Veränderungen im Bevölkerunmgswachstum mit dem wirtschaftlichen Wachstum in Verbindung zu setzen, ist grobschlächtig und außer in Tautologien mit keiner sinnvollen Schlussfolgerung verbunden3.

[sidebar]
[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

endogenes WirtschaftswachstumMarktunvollkommenheitenKaldor-FaktenBalanced-Growth-TheoryDirected Technological ChangePreis- und Marktgrößeneffekt‚Unified Growth Theory‘


1 Nach dem sog. Romer-Modell (1990). Anders als in der neoklassischen Wachstumstheorie, welche fortwährendes Wachstum des Outputs pro Kopf nur durch exogenen technischen Fortschritt generieren kann, wird dieser hier erstmals endogenisiert. Technischer Fortschritt ist das Ergebnis von gewinnorientierten Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E), mit dem Ziel die Variitäten von Inputs (Maschinen) zu vergrößern. Mit zunehmender „Ausdifferenzierung“ des Maschinenbestandes steigt die Arbeitsteilung und damit die Produktivität der Arbeit. Da die Herstellung eines bestimmten Typs einer Maschine zunächst deren Entwicklung voraussetzt, fallen Fixkosten an, die bei vollständiger Konkurrenz nicht gedeckt werden könnten. Infolgedessen muss die Annahme der vollständigen Konkurrenz bei den Maschinenproduzenten (Zwischenproduktsektor) aufgegeben werden.(Gabler)
2 Vgl. Nicholas Kaldor:
(1) Der Pro-Kopf Output wächst über die Zeit.
(2) Die Kapitalausstattung pro Kopf (Kapitalintensität) wächst über die Zeit.
(3) Die Verzinsung des Kapitalstocks ist nahezu konstant.
(4) Das Verhältnis von physischem Kapital zu aggregiertem Output ist konstant. Damit wachsen beide Aggregate mit gleicher und konstanter Rate.
(5) Die Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital ist nahezu konstant, d.h. die Lohnquote und die Profitquote sind nahezu konstant.

3 Es gilt als stilisiertes Faktum, dass in jedem Land auf der Erde der wirtschaftliche Entwicklungsprozess durch eine demografische Transition begleitet wird und wurde. Eine demografische Transition besteht aus einem Anstieg der Fertilitätsraten (begleitet durch sinkende Mortalitätsraten bei Kindern), gefolgt von sinkenden Fertilitätsraten und steigender Lebenserwartung in der letzten Phase. Der Anstieg der Fertilitätsraten wird durch einen Produktivitätsanstieg infolge der industriellen Revolution erklärt. Das Sinken der Fertilitätsraten durch steigende Humankapitalinvestitionen von Eltern in ihre Kinder, weil die Beschleunigung des technischen Fortschritts auch zu komplexeren Technologien und Arbeitsabläufen führt(e). In dieser Phase wird also sinkendes Bevölkerungswachstum mit steigenden Humankapitalinvestitionen verknüpft, welches wiederum den Weg für steigendes Pro-Kopf-Einkommen ebnete. Dieser Prozess ist demnach für die Divergenz der Pro-Kopf-Einkommen in der Welt verantwortlich. Internationale Einkommensunterschiede liegen in unterschiedlichen Zeitpunkten des Einsetzens wirtschaftlicher Entwicklung und demografischer Transition begründet. (Gabler)


Paul M. Romer (1990): Endogenous Technological Change. In: Journal of Political Economy. Band 98, Nr. 5, Teil 2, Oktober 1990, S. S71–S102


Paul Michael Romer (* 7. November 1955 in Denver)
Nicholas Kaldor, Baron Kaldor (Káldor Miklós; * 12. März 1908 in Budapest; † 30. September 1986 in Papworth Everard, Cambridgeshire)
Daron Acemoğlu (* 3. September 1967 in Istanbul)

[/sidebar]