Ökonomie und Freiheit

Kein Zufall, dass die Frage nach der Freiheit in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem sich hier stellt, wo es um die Marktwirtschaft geht. Das hat Milton Friedman, der neben John Maynard Keynes als der einflussreichste Ökonom des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen wird, richtig gesehen; die Marktwirtschaft ist mehr als ein Wirtschaftssystem. In ihr bestimmen sich nicht nur Tausch- und Gebrauchswerte und marktgängige Verkehrsformen der Menschen untereinander, sondern auch die Wirtschaftssubjekte selbst und zwar weit über ihre rein materiellen Beziehungen hinaus.

Über Arbeit und Konsum bestimmen sich aber nicht nur die materielle Reproduktion der Menschen innerhalb konkreter politischer und sozialer wie technischer Bedingungen, sondern auch deren Beziehung zum Staat. Diese Beziehung erschöpft sich nicht in Wahlen. Sie wird in den Bereichen Arbeit und Konsum tagtäglich erlebt.

In seinem, oft als Hauptwerk zitierten: Kapitalismus und Freiheit kommt die Grundhaltung von Milton Friedman schnell auf den Punkt und überall zum Ausdruck: die grundsätzlichen Vorteile eines freien Marktes gegenüber staatlicher Regulierung und vielfältiger Eingriffe in den Markt. Die stete Forderung nach einer Minimierung der Rolle des Staate, um Raum und Entwicklungsmöglichkeiten individueller wie sozialer Freiheiten zu schaffen, war immer im Denken Friedmans mit der Marktwirtschaft verbunden und überlebt in den angelsächsischen Volkswirtschaften vornehmlich bis heute.

Es ist auch deshalb schon kein Zufall, dass die Allgemeine Gleichgewichtstheorie mit ihren mathematischen Ableitungen im Monetärkeynesianismus und dort im Prinzip der Gewinnmaximierung ihren theoretischen Höhepunkt fand. Die sozialen und politischen Grundlagen aber dieser Ausprägung des Montärkeynesianismus wurden im Jahr 1947 in der Mont Pèlerin Society (MPS) in Genf, Schweiz, gelegt1. Neben Friedmann war wohl v. Hayek der geistige Urvater dieses radikalen Neoliberalismus, den er als die konsequenteste Weltanschauung und als das dominierende Prinzip sozialer Organisation über die MPS weltweit durchsetzen wollte.

Wahrscheinlich noch unter dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, dem Schock des deutschen Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs stehend, gingen die Gründungsmitglieder der MPS davon aus, dass auch in einer Demokratie politische Entscheidungen nur entfernt über Wahlen getroffen würden. Ja, dass Politik insgesamt nicht in der Lage sei, die wesentlichen intellektuellen Strömungen zu beeinflussen und zu kanalisieren, wie dies, nach Auffassung v. Hayeks in ihrer Öffentklichkeitswirksamkeit eher die Presse, die Journalisten und die Lehrer können.
Er unterschied logisch folgerichtig, dass die Produzenten der später öffentlichkeitswirksamen Theorien die „Original Thinkers“ seien, während die „Second Hand Dealers“ die Ergebnisse der Ideologieproduktion in der Gesellschaft wirksam werden lassen könnten. Die Rolle der „Second Hand Dealers“ ordnete Hayek den bis heute noch so bekannten wie beliebten Think-Tanks zu, die aber heute die Rolle des „Original Thinkers“ gerne gleich mit übernehmen möchten.

Walter Euken war maßgeblich für die Diskussion um eine zeitlich nahe nach dem Kriegsende durchzuführende Währungsreform in Verbindung mit einer völligen Freigabe der Preise als Grundlage und Bedingung für einen wirtschaftlichen Aufschwung im Nachkriegsdeutschland. Dies wurde bekanntermaßen am 21. Juni 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen als „Die Währungsreform von 1948“ bekannt und zählt bis heute in Verbindung mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft2 als Richtschnur wirtschaftspolitischen Handelns ab 1949 zu den bedeutendsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Soziale Marktwirtschaft im Sinne Müller-Armacks und freie Marktwirtschaft im Sinne v. Hayeks und Friedman wurden in den 1950er und 1960er Jahren des letzten Jhd. zu den beiden dominierenden weltanschaulichen Gegensätzen – nach dem Verfall der sozialistischen und kommunistischen Weltanschauungen – innerhalb der westlich dominierten, volkswirtschaftlichen „Original Thinkers“.3
Die Auseinandersetzungen zwischen dem amerikanischen Flügel um von Hayek, von Mises und Milton Friedman einerseits und dem deutschen Flügel andererseits, wurden immer vehementer geführt. Der vornehmlich von Müller-Armack, von Rüstow und Röpke vertretene deutsche Flügel brachte die Soziale Marktwirtschaft gegen die vom amerikanischen Flügel präferierte „adjektivlose“ freie Marktwirtschaft in Opposition und trat, ganz in der Tradition von Keynes für eine aktivere Verantwortung des Staates im Rahmen einer umfassenden Sozial- und Gesellschaftspolitik sowie einer staatlichen Intervention bei Wirtschaftskrisen ein.

Sie warfen dem amerikanischen Flügel letztlich Verrat an den eigentlichen Zielen des Neoliberalismus vor und betonten die Gefahren eines moralisch „abgestumpften und nackten Ökonomismus“, von dem Karl Popper, der bis zu seinem Tod bei seiner humanitären und sozial-philosophisch statt marktorientierten Grundüberzeugung blieb, als ein „Nonsens, das Prinzip freier Märkte zum Götzen zu erheben,“4 sprach.

Innerhalb der MPS wie auch im akademischen Diskurs der Volkswirtschaftslehre hat sich das amerikanische Denkmodell als Projekt zur Verwirklichung von mehr Markt, mehr Wettbewerb und mehr individueller Freiheit in den folgenden Jahrzehnten durchgesetzt, heute deutlich erkennbar in seiner Rückbesinnung auf die Grundideen von Keynes – wir kommen darauf zurück. Nicht nur, wie bereits besprochen, wurde Friedmans geldpolitischer Ansatz der Krisenanalyse wie der Krisenintervention, der im krassen Gegensatz zu Keynes stand, eine zeitlang führend, wonach die wahren
Auswirkungen auf Konjunkturzyklen in der Geldmengenänderung bestehen. Damit bestritt er diesen, bis heute nachhaltenden Aspekt gegenüber der keynesianische Erklärung der Weltwirtschaftskrise, die nach Friedman nicht auf die Instabilität des privaten Sektors, sondern auf die Geldmengenreduktion des Federal Reserve System zurückzuführen ist.

Friedman avencierte zum dem Vertreter des ökonomischen Liberalismus. Für ihn stand die Freiheit des Einzelnen im Zentrum der Argumentation. Er hielt die freie Wahl des Einzelnen für nutzbringender als staatliche Regelungen. Er unterstützte aktiv als politischer Mensch und „Influencer“ die Reduktion der Staatsquote, freie Wechselkurse, den Wegfall staatlicher Handelsbeschränkungen, die Aufhebung der Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Berufsgruppen und eine Reduktion staatlicher Fürsorge.

Damit wurde Friedmans Liberalismus Theorem gewissermaßen und ungewollt zur Bestätigung des Arrow-Paradoxon. Die Individuen haben nur scheinbar qua Präferenzrelationen eine verallgemeinerbare, mithin gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion. Nur scheinbar ist der Nutzen vieler Menschen zugleich auch ein gesellschaftlicher Nutzen. Nur konsequent, wenn Friedman eine „sinnvolle“ Beziehung zwischen Individuen und Staat im Sinne einer Wohlfahrtsökonomie gleich ganz in Frage stellt.

Die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion nach Arrow, die nach einem Verfahren sucht, individuelle Präferenzordnungen in gesellschaftliche Rangordnungen zu transformieren, zählt fünf Eigenschaften, die erfüllt sein müssen, um zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Nach den Berechnungen von Arrow ergibt sich bereits in dem Fall, dass mindestens zwei Individuen und mindestens drei Entscheidungsvarianten vorliegen, kein Mechanismus, der aus den individuellen Entscheidungen eine kollektive Entscheidung ableiten könnte, die allen fünf Axiomen genügt, existiert5.

Was in der direkten Nachfolge dieses sozialstatistischen Verfahrens zum „Schwachen Pareto-Prinzip“ wurde, nimmt im Kern den Gedanken der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie nebst allen „Anomalien“ wieder auf und versucht, nicht ganz unambitioniert, ökonomisches und gesellschaftliches „Gleichgewicht“ vereinbar und messbar zu machen.

Das ökonomische Gleichgewicht. Dieses kann auf unterschiedliche Weise beschrieben werden, die aber alle im Grunde auf das Gleiche hinauslaufen. Man kann sagen, dass das ökonomische Gleichgewicht jener Zustand ist, der unendlich lange bestünde, wenn er nicht durch eine Veränderung der Bedingungen, die auf ihn einwirken, verändert würde. Wenn wir nun aber nur auf die Stabilität des Gleichgewichts abstellen, können wir sagen, dass es immer dann stabil ist, wenn es, nachdem es nur leicht verändert wurde, dazu neigt, sich wieder einzustellen und in den vorherigen Zustand zurückzukehren. Beide Definitionen sind gleichwertig6.

Die Herstellung eines ökonomischen wie eines sozialen und politschen Gleichgewichts, ist das überhaupt wünschenswert? Das Pareto Optimum beschreibt einen Zustand, bei dem der Tausch allein durch den Nutzen7 bestimmt ist und ungehindert möglich sein soll. Es bestimmt keine Nutzensteigerungen, da es auch keine Nutzenzuwächse miteinander vergleichen lässt. Es bestimmt somit und eigentlich auch weniger die utilité, also den Nutzen im engeren Sinne, als die ofelimità, also die Substitutionsrate oder den reinen Warentausch, worin es per definitionen keine anderen, weiter bestimmenden Faktoren geben darf.

Aber so ist ein Pareto Optimum im Kern eine nutzlose Angelegenheit. In seiner Vorläufervariante, dem Modell von Walras, zeigt es uns lediglich und mit gigantischem Aufwand an mathematischen Berechnungen, was wir ohnehin wissen. Im Gleichgewicht ist der Grenznutzen bzw. der Grenzertrag des Geldes in allen Verwendungen gleich. Geld fließt solange von einer in eine andere Verwendung, bis sich ein Gleichgewicht einstellt. Aber das geht nicht über den „natürlichen Preis bzw. den Marktpreis bei Adam Smith hinaus.

Die Aussagekraft des Pareto Optimums ist ebenfalls sehr bescheiden. Zum einen beschreibt es, wie das walrasianische Gleichgewicht, einen reinen Tauchmarkt. Die Produktion von Gütern wird zwar mit einer ähnlichen Logik wie der Tauschmarkt, analysiert, jedoch in einer isolierten Btrachtung. Wurden bei der Analyse des Tauschmarktes Isonutzenkurven verwendet, also Linien, die alle Kombinationen aus zwei Waren liefern, die gleichen Nutzen stiften, so werden bei der Analyse der Produktion Isoquantenkurven eingesetzt, also Linien, die alle Kombinationen aus (zwei) Produktionsfaktoren darstellen, mit denen der gleiche Ertrag erwirtschaftet werden kann.

Was auf der Seite der Märkte vielleicht noch angeht, nämlich die Frage zu stellen, ob ein „Tauschgleichgewicht“ auch ein Indikator für einen freien und somit fairen Tauschprozess ist, geht auf der Seite der Produktion nun gar nicht mehr. Im Grunde aber funktionierte bereits der Tausch selbst nicht, da alle Fragen der „Ungleichgewichte“ ausgeschlossen waren. Selbst wenn es nur darum ginge, ein faires Verhältnis zwischen vier Äpfeln und drei Birnen zu finden, ist der mit den Äpfeln, so er über einigen Wohlstand verfügt, immer im „Vorteil“ gegenüber dem mit den Birnen, so der ein armer Schlucker ist. Ökonomische, soziale, kulturelle, berufliche sowie strukturelle Unterschiede zwischen Anbieter und Käufer außer Acht zu lassen, kommt immer im Ergebnis darin aus, dass Äpfel und Birnen addiert werden.

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Mont Pèlerin Society„Original Thinkers“Think-Tanks„Die Währungsreform von 1948“ökonomischer Liberalismus


1 Teilnehmer der ersten Tagung (1. bis 10. April 1947) waren unter anderem Maurice Allais, Walter Eucken, Milton Friedman, Friedrich August von Hayek, Frank Knight, Fritz Machlup, Ludwig von Mises, Karl Popper, Wilhelm Röpke, George Stigler. In der Mont Pelerin Society übernahmen Albert Hunold und v. Hayek die Führung.
Siehe Philip Mirowski, Dieter Plehwe: The Road From Mont Pelerin. 2009, ISBN 978-0-674-03318-4, S. 15.
Seit Gründung der MPS erhielten bislang (Stand 2014) acht MPS-Mitglieder den von der Schwedischen Reichsbank gestifteten Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften: von Hayek (1974), Friedman (1976), Stigler (1982), James M. Buchanan (1986), Allais (1988), Gary Becker (1992), Ronald Coase (1991) und Vernon Smith (2002).
Das vom MPS-Mitglied Antony Fisher 1981 gestiftete Atlas Network umfasst nach 35 Jahren 451 „free-market organizations“ in 95 Ländern. D. Plehwe und B. Walpen gaben 2004 eine Liste von 93 Denkfabriken in direkter Beziehung zu MPS-Mitgliedern an, wobei unter „direkter Beziehung“ verstanden wird, dass mindestens ein MPS-Mitglied in einer offiziellen Funktion tätig ist oder/und den Think-Tank (mit)gegründet hat.
Für den deutschsprachigen Raum nannten sie:
Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft
Stiftung Marktwirtschaft
Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft
Friedrich-Naumann-Stiftung
Walter Eucken Institut.
Weitere Informationen: MPS Website.
Dieter Plehwe u. Bernhard Walpen: Buena Vista Neoliberal? In: Klaus-Gerd Giesen (Hrsg.): Ideologien in der Weltpolitik, VS-Verlag, 2004, S. 49–88.
Stephan Schulmeister, Von der Aufklärung zur Gegenaufklärung, in Die Presse, Wien am 30. August 2016.

2 Soziale Marktwirtschaft ist ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild mit dem Ziel, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die wirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“.
Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Bern 1976, S. 245
Die Soziale Marktwirtschaft wurde im Staatsvertrag von 1990 zwischen der Bundesrepublik und der DDR als gemeinsame Wirtschaftsordnung für die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vereinbart.
Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsvertrag) vom 18. Mai 1990, Kapitel 1, Art. 1 Abs. 3 Vertragstext.
Siehe auch: Otto Schlecht: Grundlagen und Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Mohr Siebeck 1990, S. 182 ff.

3 Daniel Stedman Jones: Masters of the Universe: Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, S. 40f (University Press Group 2012, ISBN 978-0-691-15157-1)

5 Die fünf Eigenschaften sind:
U (universality / Universalität): Die Wohlfahrtsfunktion ist für alle erdenklichen individuellen (vollständigen und transitiven) Präferenzordnungen geeignet.
I (independence / Unabhängigkeit): Für das gesellschaftliche Ranking von zwei Alternativen A und B sind ausschließlich die Präferenzen der Individuen bezüglich dieser beiden Alternativen relevant. (Anders ausgedrückt: Will man wissen, wie die Gesellschaft zwei Alternativen A und B bewertet, ist es nicht nötig, die kompletten Präferenzordnungen der Individuen zu betrachten, sondern es genügt, von jedem zu erfragen, wie er A und B bewertet.)
M (monotonicity / Monotonität): Wenn die Wohlfahrtsfunktion der Alternative A gesellschaftlich den Vorzug vor B gibt, dann darf sich diese Rangordnung nicht dadurch verändern, dass einige Individuen ihre Präferenzordnungen so modifizieren, dass sie nunmehr A noch besser als bislang bewerten, während gleichzeitig niemand A schlechter als bisher bewertet.
N (non-imposition, auch citizen sovereignty): Für sämtliche Alternativen A und B gibt es einen Vektor von Präferenzordnungen, mit dem die Gesellschaft A vor B präferiert. Das heißt, es gibt nichts, durch das die Individuen gehindert wären, ihre Präferenzen auf gesellschaftlicher Ebene zu implementieren.
D (non-dictatorship / Nicht-Diktatur): Es gibt keinen Diktator, dessen individuelle Präferenzordnung zugleich die gesellschaftliche Rangordnung darstellt. Vgl. Arrow 2008.

6 Vilfredo Pareto, Manuale di Economia Politica, Milano 1906, Seite 150

7 wobei Pareto hier nochmal differenziert utilité = Nutzen im engeren Sinn, also etwas, das tatsächlich nützt, im Gegensatz zu ofelimità = was jemand will, was aber nicht unbedingt nützlich sein muss. Drogen z. B. sind in den seltensten Fällen nützlich, aber manche Leute wollen das unbedingt.


Alfred Müller-Armack (Alfred August Arnold Müller) (* 28. Juni 1901 in Essen; † 16. März 1978 in Köln)
Vilfredo Federico Pareto (gebürtig Wilfried Fritz Pareto; * 15. Juli 1848 in Paris; † 19. August 1923 in Céligny, Kanton Genf)

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