Die Marktwirtschaft zählt den Faktor Macht nicht direkt zu den produktiven Faktoren. Das hat wissenschaftstheoretische Gründe und erhebliche Auswirkungen. Innerhalb der Marktwirtschaft gibt es bei den Faktoren, oder wie früher genannt, den Produktivkräften schon einige Unstimmigkeiten, die wir zunächst diskutieren, und, wenn möglich, ausräumen möchten, bevor wir mit weitergehenden Gedanken beginnen.
Was wir in diesem Kapitel oft aber eher am Rande erwähnt haben, dass nämlich, konträr zu den starren volkswirtschaftlichen Theorieansätzen der Neoklassik, die Marktwirtschaft gerade darin ihr Besonderes hat, extrem anpassungsfähig zu sein, dieser Randgedanke rückte bereits bei Marx ins Zentrum der Überlegungen und Analysen der Produktivkräfte.
Marx differenzierte die Marktwirtschaft – den Kapitalismus – von vorhergehenden Wirtschaftsformen dadurch, dass in den Kapitalismus vorgängigen Wirtschaftsformen bestimmte Produktionsweisen gegenüber Veränderungenbeibehalten wurden, dass „unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war … die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen“. Der wesentliche Unterschied zur Marktwirtschaft besteht nun darin, dass: „die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“1.
Das vermuten heute nicht mehr viele Ökomomen als Zitat tiefer Einsicht in die Marktwirtschaft und schon gar nicht aus der Feder von Karl Marx. Denn Marx erkannte damals schon, als der industrielle Fortschrit quasi noch in den Kinderschuhen – verglichen mit heute – steckte, dass Industriegesellschaften gegenüber etwa Feudalgesellschaften nicht nur eine andere industrielle Art der Produktion aufwiesen, sondern dass die Art der Produktion sich auch ständig innerhalb marktwirtschaftlicher Produktionsweisen verändert.
Marx unterschied so zwischen einer „konservativen“ und einer „revolutionären“ Entwicklung, wobei die revolutionäre sich ganz zentral aus den technischen Fortschritt gründet. Mit dem technischen Fortschritt also ist gleichsam marktwirtschafts-inhärent auch der Fortschrittsprozess der marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse eng verbunden, denn die technische Basis, auf denen sie beruhen, sind „revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war(en)“. 2
Man muss schon feinsilbig lesen, um Marx dahingehend zu verstehen, dass sich mit der Entwicklung marktwirtschaftlicher Produktion die historische Bedeutung und Wirklichkeit des technischen Fortschritts fundamental geändert hat und dass gleichzeitig trotz der Engführung von technischem Fortschritt und Fortschritt der marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse diese nicht in eins fallen. Wir haben das so begründet, dass auch am technischen Fortschritt in der Marktwirtschaft ganz fundamental nicht-ökonomische Bedingungen der Kapitalverwertung beteiligt sind.
‚Konservative‘ Marxisten ziehen nach wie vor eine Grenze zwischen dem historischen Materialismus und der Entwicklung marktwirtschaftlicher Produktion, indem sie behaupten, mit dem Kapitalismus verliert sukzessive der technische Fortschritt seine „revolutionäre“ Kraft, Kapitalismus und wissenschaftlich-technische Revolution wohnten so sehr unter einem Dach, dass ein Umzug in neue Behausung, in neue Formen gesellschaftlicher Produktion unmöglich wird.
Natürlich spricht alles dafür, dass die Entwicklungen im Bereich der Wissenschaft und deren Umsetzung in Technik kein revolutionäres Prinzip kennzeichnen, keine Kräfte, die den Kapitalismus zu etwas „besserem“ machen, als er ist. Aber das waren sie nie. Deshalb repräsentieren die technischen Wissenschaften und ihre industriellen Ergebnisse, die sich innerhalb markrtwirtschaftlicher Verhältnisse unlimitiert entfalten können, auch keinen, über diese Verhältnis hinausgehenden historischen Fortschritt, der sich in einer Art permanenter politischer Revolution aüßern würde und aus sich selbst heraus politische Verhältnisse verändern würde.
Diese Autarkiephantasien sind zumal der technischen Entwicklung nur allzu inhärent, dass man eigentlich nur staunen kann, woher diese kommen und wie sie sich so nachhaltig durch alle Änderungen, politischer wie technischer Art, halten konnten. Das alte Dilemma des einstigen realen Sozialismus, dass mit der Änderung der politischen sich auch die Arbeitsbedingungen verändern, zeigte sich daran, dass selbst wenn man jene zum vermeintlich besseren, zu sozialistischen und diese zu kollektiven Formen veränderte, sie leider sich nicht automatisch zum besseren entwickelten. Das kam daher, dass damals schon die geistigen Kader eine strikte Trennung zwischen Politik und Technik dachten und meinten, eine „gute“ Politik führt auch zu einer „guten“ Technik zu kollektivem Nutzen. Aber das einzige, was an Nutzen heraus kam, war ein kollektives Versagen zum Nutzen von niemanden und ein geistiges Versagen, das weit hinter Marx noch zurückblieb. Wer nur drei Minuten damals dem Staatsratsvorsitzen der DDR oder seiner wirren Gattin zugehört hat, konnte kaum noch ertragen, wohin menschliches Unvermögen im Geiste politisch wie kulturelle führen kann; eben ins Unerträgliche.
Dass Marx also einer marktwirtschaftlichen Produktion die Kraft der ständigen und nachhaltigen Erneuerung durch die Freisetzung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungspotenziale attestiert, jemand, der doch die „Revolution“ für eine Arbeiterbewegung hielt, mag manchen erstaunen, bindet aber locker mit seiner Analyse des Kapitals. Wir haben es anscheinend mit ‚zwei‘ Revolutionen zu tun. Aber bleiben wir bei der Technik.
Innerhalb der marktwirtschaftlichen Produktion scheint der technische Fortschritt so sehr aus sich selbst heraus zu verlaufen, dass einzelne technisch-technologische Entwicklungen nicht mehr wie früher ganze Staatsformen niederreißen – wie im Fall des Schwarzpulvers – oder niederschreiben konnten – wie im Falle der Druckerpresse. Heute scheint die Grenze des technischen Fortschritts genau da zu liegen, wo wir sie grundsätzlich anthropologisch bestimmt haben, nämlich in der so weit gehenden Veränderung der menschlichen Lebensgrundlagen, dass menschliches Leben überhaupt nicht mehr möglich ist. Eine Veränderung des technischen Fortschritts zieht keine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse notwendigerweise nach sich, die diesen Prozess in eine andere Richtung verändern könnte; so die landläufige Meinung, die kontrastiert wird von einer ebensolchen, die dem technischen Fortschritt eben diese Form der Entwicklung einräumt – wir kommen darauf zurück.
Die einen sehen im technischen Fortschritt den Grund für eine romatische Rückkehr zu vormals revolutionären, vormodernen, vor-technischen Lebensformen, die anderen stellen sich nicht in Opposition gegen den Fortschritt, sondern führen eine apologetische Fortschrittspropaganda, besonders in den Reihen der neuen digitalen Technologien, und feiern so den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der entwickelten Marktwirtschaft, als wenn er unverändert der Motor des historischen Fortschritts wäre, der er in der entstehenden Frühform der Marktwirtschaft mit ihrer industriellen Produktionsform gegenüber den feudalen Formen der Produktion einmal war. Schaut man, wie bereits getan, auf die modernen Formen digitaler „Produktion“, so erkennt man erstaunt zunehmende Remanenzen neofeudaler Strukturen, ganz besonders in der digitalen Plattform-Wirtschaft; so viel dazu bis hier her.
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1 (MEW 4, 465)
2 (MEW 23, 511)
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