Urteile ohne Wert

Noch ist es zu früh, um eine umfassende Diskussion über Werte, über Ethik zu führen. Uns fehlen noch ein paar Grundlagen der normativen Ökonomik. Ohne diese bliebe auch eine Ethik, die anstrebt, über die normative Ökonomik hinaus zu gehen, leichtgewichtig und frei schwebend in der Luft hängen. Zur normativen Ökonomik gehört nicht nur, dass sie qua Stammbuch Mittel und Zwecke von einander zu trennen sucht, sondern auch, dass allein empirische Urteile einen Sinn machen, nur auf empirischer Erfahrung bzw. Beobachtung basierende und von dieser her allgemein nachvollziehbar weil messbare und somit als objektive Urteile wissenschaftliche Gültigkeit besitzende Urteile Gegenstand der Ökonomik sein dürfen.

Hier sehen wir den Einfluss der neopositivistischen Wirtschaftsphilosophie des sog. Wiener Kreises, der im Verein mit dem englischen Utilitarismus der Neoklassik ihre wissenschaftliche Basis verschaffte. Auf dieser Basis beruht die Trennung zwischen emprischen Urteilen und Werturteilen in der neoklassischen Wirtschaftslehre, die wir aus dem englischen Utilitarismus bereits kennen, die nun aber radikalisiert im Gesamtdiskurs als grundsätzliche Trennung zwischen Politik und Ökonomie generalisiert wurde. Diese Trennung, die diskursiv, also wissenschafts-immanent in der Trennung zwischen Zweck und Mittel repräsentiert ist, erfasst nun alle nicht immanenten Aspekte des Wirtschaftslebens, alle als Zweck- oder Werte bestimmte Sachverhalte. Dazu gehören also dann auch soziale bzw. soziologische Sachverhalte, nicht nur politische.

Ein weiterer Aspekt ist in der Konsequenz dieses Denkens, dass die Frage etwa, ob denn eine prinzipielle Verbesserung der materiellen Situation im Faktor Arbeit auch praktisch möglich ist, ob eine politische Reform, die prinzipiell nach der Kosten-Nutzen-Analyse mehr Nutzen als Kosten ausweist, auch eine praktische Realisierbarkeit nach sich zieht, die sinnvoll für das Gemeinwohl ist?
Dem kann die Wirtschaftswissenschaft nicht so einfach entgehen, indem sie sich nicht zuständig dafür erklärt, weil hier soziologische Bereiche, Fragen der sozialen oder kulturellen Wirklichkeit berührt werden.

Aber noch weit entscheidender für das Selbstverständnis der Ökonomik ist, dass sich auch Fragen der Effizienzsteigerung1 nur schwer von Fragen der Distribution, von Fragen der Verteilung unter Gemeinwohlaspekten trennen lassen. So die Ökonomik ihre Sicht auf Verteilungsfragen grundsätzlich an die Politik delegiert, hat sie doch die nicht-ökonomische Dimension solcher Fragen als Wertfragen auf dem Tisch liegen. Denn diese Frage zu delegeieren heisst, auch solche Fragen beantworten zu können, insofern eine Bestimmung als Wertfrage vor deren Delegation ja notwendig ist, will sie nicht beliebig nach Art des laissez-faire behandelt werden.

Sogar die solistische Frage nach der Effizienzsteigerung trägt diese Werturteilsdimension in sich, gilt sie der Ökonomik ja nicht allein als Mittel zur Erreichung eines ihr fremden, politischen oder sozialen Zweckes, sondern, qua ontologischer Bestimmung ihres Wirtschaftssubjektes, dem homo oeconomicus, auch als fundamental erstrebenswert. Nun kann man der Meinung sein, dass, da das Wirtschaftssubjekt der Ökonomik eine „natürliche“, mithin grundsätzliche und verallgemeinerbare Bestimmung sei, diese damit auch hinreichend begründet ist. Dass also Effizienzsteigerung im einzelnen Fall wie auch in der Wohlfahrtsökonomik gleichermaßen begündet sind und der mögliche faktische Nutzenzuwachs eines einzelnen Wirtschaftssubjektes damit auch keiner weiteren Bestimmung bedarf, die diesen Zuwachs aus dem Blick der gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen reflektiert.

Was also stets wiederkehrt, ist – erkenntnistheoretisch gesprochen – die Schwierigkeit der logischen Begründung eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen und dem Zusammenhang transzendentaler Begriffe bzw. Urteile und deren faktischer Relevanz. So stellen Ökonomen einen Zusammenhang her zwischen dem faktischen Nutzen einer politischen Reform und deren Messbarkeit etwa auf einer Faktorebene, dem Faktor Arbeit z.B.

Etwa Steuersenkungen werden hypothetisch als Verbesserung der Situation eines einzelnen Arbeitnehmers betrachtet und somit ein Zusammenhang unterstellt zwischen einer faktischen Reform und einer hypothetischen Sachfolge. Würde also ein einzelner Arbeitnehmer „reicher“, hätte die Ökonomik auch – sehr gering zwar, aber logisch richtig – einen Zuwachs des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes, ganz gleich, wie auch immer dieser gesamtgesellschaftliche Wohlstand verteilt ist. Lässt sie nun jede Frage nach der Verteilung aussen vor, stimmt die Rechnung. Aber stimmt sie selbst dann wirklich?

Diese Diskussion mit allen ihren Schwachstellen kehrt heute fast täglich durch Medien verteilt in unsere Alltagsgespräche ein und zieht eine, teils unsäglich peinliche, politische Gerechtigkeitsdiskussion hinter sich her. Wir betonen in diesem Zusammenhang zunächst nur diesen Aspekt, dass der Zuwachs an gesellschaftlichen Wohlstand aus wissenschaftlicher Sicht nicht begründet ist durch die ontologische Bestimmung des homo oeconomicus als nutzenorientiertes Individuum.

Das kollektive Wohl, welches sich die Wissenschaft wie auch Politik und hier in jeder fadenscheinigen, narrativen Umgangsform auf die Fahnen schreiben, ist unbegründet und damit auch jede Form, jedes Mittel, das zu dessen Verbesserung bzw. rechnerischen Steigerung heran geführt wird.

Das kolletive Wohl ist und bleibt zunächst nichts anderes als ein Werturteil, von dem man nichts abziehen kann, so dass ein berechenbarer Wert übrig bleibt, etwa das durchschnittliche Privatvermögen der Mitglieder einer volkwirtschaftlichen Gemeinschaft, an dessen Zuwachs oder Minderung man den faktischen Nutzen eines einzelnen Wirtschaftssubjektes wie eines Gesamtwohles ablesen könnte. Was man durchaus also berechnen kann, etwa den Lohnsummenzuwachs, ist aber zugleich durch die Berechnungsmethode als Maßstab eines vermeintlichen Anstieges des kollektiven Wohles unbrauchbar geworden. Eine Gesellschaft kann durchaus verarmen, obwohl oder trotz eines Anstieges der Lohnsumme.

Das Urteil daher über den Zuwachs des gesellschaftlichen Wohlstandes bleibt immer ein Antagonismus zwischen einem Urteil auf der Basis von mathematischen Berechnungsgrößen und einem Werturteil aufgrund ungleicher Verteilung von Wohlstand. Mittel können von Zwecken, denen sie dienen, nicht künstlich getrennt werden, auch nicht durch ein Postulat einer vermeintlich zweckfreien, gleich sachlich fundierten, objektiven Wissenschaft.
Der Traum von der Trennung von Wert- und Tatsachenurteilen steht aber, trotz zahlreicher, überzeugender, wissenschaftskritischer Ausführungen seit Max Webers Beiträgen zur Werttheorie nach wie vor hoch im Kurs. Selbst die Tatsache, dass bereits die Festlegung der Anzahl derer, die in die Berechnung des kollektiven Wohls eingehen, ein Werturteil bildet, zeigt, dass reine, auf empirische Verfahren wie auf mathematische Berechnungsmethoden basierende Kenngrößen keine reinen Tatsachenurteile bilden.

Tatsachen, facta bruta, die als „natürliche“ oder „nackte“ Tatsachen wissenschaftlich in Anspruch genommen werden, erscheinen insofern als „reine“ Tatsachen, als sie in keinen Zusammenhängen erscheinen, die von Regeln und Strukturen, die diese Zusammenhänge konstituieren, in ihrem Erscheinen, also in ihrem Sosein bestimmt sind. In menschlichen Zusammenhängen, in Beziehungen von Menschen untereinander, in Institutionen, am Arbeitsplatz, auf Märkten etc. kann es keine „facta bruta“ geben. Schlägt ein Blitz in einen Marktstand und tötet den Besitzer, ist dies ein Ereignis, ein Naturereignis außerhalb menschlich geschaffener Regel- und Strukturzusammenhänge, selbst unter Aspekten des menschlich verursachten Klimawandels. Dann mag man, in Gottes Namen, von reinen Tatsachen sprechen.

Aus den heftig unter dem Namen: Werturteilsstreit geführten Auseinandersetzungen wissen wir, dass man den „Katheterbewertungen“ und den „Professoren-Propheterien“2 dann letztlich doch nicht entkommt. Gewiss, ein Versuch war es wert und hat einiges an urteilskritischen Reflexionen in Kreisen der Wissenschaft hinterlassen. Aber zu glauben, man könnte gegen weltanschauliche und verdeckte, politische Standpunktanhaftungen im wissenschaftlichen Diskurs, diesen quasi hygienisch rein machen, indem man auf einen reinen, wertfreien, „fachmäßigen“ Wissenschaftsstandpunkt hin arbeitet, etpuppte sich als eine Illusion.

Wenn ein Wissenschaftler versucht, auf der Grundlage empirischer Daten, Annahmen und Methoden über die Eignung ökonomischer und politischer Mittel, also Gesetze, Verordnungen, Reformen und repräsentativer Erhebungen etc. zu urteilen und deshalb von jeglichem Zweckurteil bzw. jeglicher Zweckbestimmung befreit wäre, dann irrt er sich gewaltig. Richtig ist, dass, wenn ein Zweck als wünschenswert erachtet wird, damit auch ein Werturteil ausgesprochen ist.
Richtig aber ist auch, dass, wenn ein Wissenschaftler die Effizienzsteigerung innerhalb der deutschen Landwirtschaft berechnet und eine Mehrung des kollektiven Wohls in Deutschland und bei den deutschen Bauern feststellt, ist dies ebenfalls und bereits so ein Werturteil.
Denn diese Effizienzsteigerung hat prinzipiell, und dies ist de facto in den meisten Fällen auch der Fall, allein schon durch die Festlegung des „Untersuchungsgegenstandes, hier Deutschland, ein Werturteil insofern ausgesprochen, als es wünschenswert ist, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Bauern gegenüber ihren afrikanischen Kollege etwa zu verbessern und so deren kollektives Wohl zu stärken.

Das sagt der Wissenschaftler mitunter nicht, ist aber trotzdem richtig, meint inhärent, weil die Wirkung und die Steigerung der Wirkung landwirtschaftlicher Handlungen in modernen Gesellschaften mit globalen Wertschöpfungsketten, informell und logistisch transnationalen Zusammenhängen sowie globalen Märkten zugleich der Wirkungsgrad weit über den künstlich geschaffenenen, geografischen wie zeitlichen Untersuchungsraum hinaus reicht; ganz zu schweigen von klimatischen und weiteren, global wirkenden Zusammenhängen.
Es geht uns eben doch etwas an, wenn „ein Sack Reis in China umfällt.“

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

normative Ökonomikfacta brutaWerturteilsstreit


1 Effizienz: Beurteilungskriterium, mit dem sich beschreiben lässt, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel in einer bestimmten Art und Weise (z.B. unter Wahrung der Wirtschaftlichkeit) zu erreichen.
Effiziente Produktion: Zustand, in dem es bei gegebener Ressourcenausstattung und Technologie nicht möglich ist, von mind. einem Gut mehr und von allen anderen Güter mind. genauso viel herzustellen (Pareto-Optimum). Mikroökonomisch gesehen bedeutet dies, dass die Minimalkostenkombination erfüllt ist.
Umweltökonomik: Entscheidungskriterium, das von mehreren ökologisch gleich wirksamen Maßnahmen diejenige auswählt, die mit den geringsten volkswirtschaftlichen Kosten verbunden ist (ökonomisches Prinzip).
Informatik: Merkmal der Softwarequalität, v.a. auf Inanspruchnahme der Hardware-Ressourcen (Hardware) bezogen.
Arten:
Laufzeit-Effizienz:
Ist gegeben, wenn ein Softwareprodukt möglichst geringe Rechenzeiten im Computer verursacht (hohe Ausführungsgeschwindigkeit der Programme).
Speicher-Effizienz: Möglichst geringer Speicherbedarf im Arbeitsspeicher.(Gabler)

2 Vgl.: Weber, Max (1917/18). „Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“. In Logos 7, S. 40-88


Maximilian Carl Emil Weber (* 21. April 1864 in Erfurt; † 14. Juni 1920 in München)

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