Auf zwei Wesenzüge des Wissens müssen wir gesondert eingehen: die Identifizierung und die Rekursivität. Standen Fichte und Kant zumindest kritisch einer Bestimmung des Wissens aus individeuellen Vermögen und Schöpfertum gegenüber, so betonte Condorcet1 ohne Abstriche die Bestimmung des Wissens als „soziale“ Angelegenheit. Wenig verwundert diese Haltung, erinnert man sich daran, wer Condorcet war; französischer Philosoph, Mathematiker, Politiker der Aufklärung, der sich 1789 der Revolution anschloss und als Präsident der Nationalversammlung den Entwurf einer umfassenden Education nationale verfasste.
Condorcet fand mit seinem klaren Verstand schon vor der Französischen Revolution die Bestimmung des Wissens als im Wesen ein über das Individuum und über die Generationen und kulturellen wie politischen Grenzen hinweg gerichteten Prozess der Aneignung, Weiterververbreitung und Deutung, den wir fortan mit dem Begriff des Diskurses repräsentieren werden.
Nimmt man diese transpersonale und, in seinem Sinne könnte man sagen, transkulturelle Bestimmung ernst, dann wird es schwer sein, genau den schöpferischen Anteil, den ein einzelner Mensch am Wissen hat, eindeutig festzustellen.
Die Identifizierzung von Wissen und Person ist also schwer, wenn nicht gar unmöglich. Und trotzdem gelingt es fast mühelos, Persönlichkeiten des Geistes in der gesamten Menschheitsgeschichte zu identifizieren; ein Widerspruch? Nein. Geht der Beriff der Identifizierung einmal in die Richtung einer personalen Identität, so steht dem ein anderer Bedeutungskontext als Allmende gegenüber.
Im ersten Fall wird der Bedeutungskontext gleichsam überschrieben, indem es um Einander-Gleichsetzen von Dingen, Selbst- oder Fremdzuschreibungen geht. Im Falle des ökonomisch verwertbaren Wissens wird Wissen aus dessen Bedeutungszusammenhang als Allmende herausgegeschnitten, segregiert, und zugleich dieser ausgegrenzte Teil überschrieben als eine Form des Humankapitals, einer verwertbaren Eigenschaft eines Menschen, seine schöpferische Fähigkeit, um es als ökonomischen Wert quantifizieren zu können.
Mit der Identifizierung des Wissens als hochgradig emphatischer Begriff des individuellen Schöpfertums, des – heroischen – Genius als unverwechselbarer Einzelperson wird es grundsätzlich möglich, dessen künstlerische Individualität zu vermarkten, den Künstler als eindeutigen Träger eines individuellen geistigen Eigentums zu indentifizieren und zur Waren zu bestimmen.
Würde man Wissen im Sinne der Allmende belassen, wäre eine Identifizierung mit einer Person sowie die Bestimmung als Ware unmöglich.
Ein anderer Wesenszug des Wissens zeitig weitgehendere Formen noch als die Identifizierung mit einer Person; die Rekursivität des Wissens. Wir haben in verschiedenen Zusammenhängen etwa generell mit der Repräsentation, mit der modernen Wissenschaft und auch mit der Wechselwirkung verschiedener Anlageklassen auf die Rekursivität von Wissen hingewiesen. Diese Form der „Rückwirkung“ von Wissen findet auf mehreren Ebenen der Zeit und Bedeutungen von Wissen statt, unabhängig von den Inhalten des Wissens. Wissen, haben wir daher bereits formuliert, ist rekursiv.
Der Buchmarkt etwa ermöglicht hervorragend, Wissen oder sagen wir einfach Ideen in allen ihren Formen, sei es schöpferischer, lexikalischer, wissenschaftlicher usw. Art zu verbreiten und zirkulieren zu lassen. Zugleich ermöglicht der Handel mit Büchern für eine Reihe von Autoren ein auskömmliches Leben und, wenn die eigene Marktposition gegenüber den Verlegern und sonstigen Abnehmern wie auch Zweitverwertern, etwa Zeitschriften, TV und Neue Medien etc. wettbewerbsspefizisch vorteilhaft ist, sowohl was das Angebot wie die Nachfrage betrifft, kann ein Autor mehr als auskömmlichen Wohlstand erreichen. Zugleich wirkt der Wettbewerb auf alle anderen Autoren und lässt sie zunehmend leer ausgehen. Unbekannte Autoren haben kaum noch eine Chance, durch Diskurse mit der Zeit aus der Versenkung hervor zu treten; sie bleiben unbekannt, irrelevant.
Im Wissenschaftssegment wirken zahlreiche Mechanismen der Rekursivität des Wissens entgegen, weil marktwirtschaftliche Interessen dahingehend in die Diskurse eingreifen, dass zwar mit den Eigentumsrechten neuerdings nicht nur ein höheres Einkommen und damit auch ein höherer Anreiz für wissenschaftliche Arbeit besteht, gleichzeitig aber mit der Segregation von Wissen, den Copyrights und anderen Formen von Nutzungsrechten der wissenschaftliche Fortschritt sich in bestimmten Ländern, Institutionen und Forschungsgruppen, zumal wenn diese auch noch durch die Wirtschaft gefördert werden, konzentriert. Diese Konzentration einerseits, hat zugleich auch die Bedrohung des wissenschaftlichen Fortschritts in anderen Ländern, Institutionen und Forschungsgruppen zur Folge und darüber hinaus bedroht diese Form der Konzentration die Wissenschaft insgesamt, als sie einseitig ökonomischen und institutionellen Interessen ausgesetzt bis unterworfen ist.
Aber letztlich ist die Kultur sogar als ganze bedroht. Der Handel mit den segregierten Wissenssegmenten und den schöpferischen Autorenwerken erschwert nicht nur den Zugang, bringt ansteigende Kosten über den Markt in die Gemeinnutzung, sondern definiert neu, was überhaupt als Wissen und damit als ein kulturelles Gut zu gelten hat. Gleichzeitig entzieht der Primat des Handels vor einer Gemeinnutzung die überwiegenden Teile kultureller Arbeit den kulturellen Diskursen, die dadurch noch erschwert werden, dass alle monetär bewertenden Kulturgüter dem offenen Diskurs nur noch über bestimmte Kanäle zugänglich sind, viele Werke der bildenden Kunst etwa in Privatsammlungen ganz verschwinden.
Selbst Diskurse zu den darstellenden Künsten sind heute kaum noch möglich, außer in reiner Textform. Fotografische Abbildungen von Lesungen oder gar Theateraufführungen, von Street-Events oder selbst regionalen Groß-Kulturveranstaltungen wie etwa die RUHR 2010 – Kulturhauptstadt Ruhrgebiet – oder von der Dokumenta in Kassel – die Liste könnte nun beliebig lang werden – sind kaum noch einem Diskurs gleich welcher Form und Medialität beizufügen.
Der Aberwitz dabei ist, im Zeitalter der Multimedialität wird der Umgang mit Wissen wieder grau. Der Grauwert der Medien nimmt exponentiell zu, gleichwohl Fotografien, Bewegtbilder jeder Art mit und ohne Sound in einem nie da gewesenen Ausmaß tagtäglich erstellt werden und über Suchmaschinen weltweit auch zugänglich ist. Nur eine Nutzung ist nicht erlaubt, nicht einmal Panoramafreiheit gilt heute uneingeschränkt mehr.
Die juristische Argumentation ist entweder abendteuerlich, komisch oder an Ahnungslosigkeit in der Sache und ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung nicht mehr zu unterbieten, wenn Gründe hervorgebracht werden, warum ein Foto, dass eine Einkaufsstraße in irgendeiner Großstadt zeigt, auf der naturgemäß Beucher, Konsumenten und Passanten herumlaufen, nicht in einem Webblog z.B. gezeigt werden darf. Eine Rezension oder einfach nur eine private Meinung über eine Theaterveranstaltung darf heute nicht mehr veröffentlicht werden mit Abbildung der Aufführung, ohne erheblich Copyright-Gebühren zu entrichten. Tonaufnahmen einzufügen ist ultiumativ schwierig da extrem kostspielig. Wie soll ein Diskurs über Kulturarbeit entstehen, wenn lediglich die graue Schriftform erlaubt und bezahlbar ist?
Diese „Umwertung aller Werte“ (Nitzsche) trifft die Kulturarbeit ins Mark, betrifft alle künstlerischen Werte, auch die, deren Herstellung weit zurück liegt in der Geschichte und deren Autoren bzw. Schöpfer längst verstorben sind. Die Umwertung ist dann total, wenn Kunstwerke von einst vergessen sind. Sie ist gefährlich für die Kultur und das kulturelle Verständnis, wenn Kultur umgedeutet und aus dem Zusammenhang gerissen wird. Das sog. Autorentheater, die Überbewertung von Inszenierungen, die einzig mit überraschenden Effekten sich anbiedernd an kulturelle Klischees aufwarten sind nur zwei Beispiel dafür – wir kommen später auf diesen Zusammenhang zurück. Wenn Diskurse über Kultur das kulturelle Erbe nicht mehr bewahren, weil der kulturelle Diskurs erschwert ist und mehr noch, weil eine Umdeutung um Umwertung stattfindet, die wesentlich dadurch bestimmt sind, dass die Diskurse immer mehr an thematischer und geschichtlicher wie kultureller Kontextualität verlieren, weil Diskurse ‚oberflächlicher‘ werden, trotzt oder wahrscheinlich wegen des universellen Zugangs zu Sekundärwissen, geht mehr als Kulturgeschichte verloren.
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Diskurs – individuelles Schöpfertums – Panoramafreiheit
1 Vgl. Condorcet (1847-1849)
Marie Jean Antoine de Condorcet: Fragments sur la liberté de la presse. In Tome XI: Politique (Teil 1).
Nouvelle impression de l’edition en facsimilé de l’édition Paris 1847–1849. Herausgegeben von F. Arago und A. Condorcet O’Connor.
Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (* 17. September 1743 in Ribemont; † 28. März 1794 in Bourg-la-Reine)
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