Aus dem Schlusskapitel

Der Verlust von Maß und Menge

Solange aber, solange wir im Wettbewerb untereinander jedes Maß verloren haben und mithin die Natur unser größtes Opfer im Sinne von Gewinner und Verlierer bleibt, solange haben alle unsere Ideen, selbst die besten, keinen wahren Sinn, kein wirkliches Gelingen im Guten. Deshalb bleibt die Idee des Guten der Komplementär zu allen anderen Ideen, sei dies die Idee der Wahrheit, der Freiheit, des Rechts und der Gerechtigkeit usw. Sie muss hinzukommen, sonst ist alles Nichts. Was ist ein Wohlstand, der nicht allen Menschen zugutekommt und seine Grenze nicht an der Natur findet? Was für einen Sinn macht Wachstum, wenn es nicht gut ist für Mensch und Natur? Was soll ein Vermögen von mehreren Hundert-Millionen USD Besseres leisten in der Hand einer Privatperson als in einem Global-Health-Fonds? Menschen leben krank in einer Welt, die krank macht an Leib und Seele. Schnell – spontan – authentisch, das ist die Formel der post-industriellen Gesellschaft. Schnelle Urteile, schnelle Entscheidungen, spontane Handlungen, ohne groß nachzudenken, das ergibt ein authentisches Dasein, ein Dasein, nach eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen gelebt. Zeit zum Nachdenken bleibt da nicht, aber ist diese Formel auch wirklich Garant für Authentizität? In der modernen Kunst galt dies einmal so und vieles, was Kunst heute noch hervorbringt, zeugt von dieser romantischen Vorstellung, dass authentisch ist, was spontan, simpel, unbewusst hergestellt wird.

Das sind die neuen Tugenden mit ihren Lastern auf der anderen Seite der Skalenwerte. Mit der Wohlstandsskala sind eine ganze Reihe von Extremwerten entstanden, der Konsumrausch, die Gier z. B. Nur, dass wir immer noch meinen, hier gäbe es den vernünftigen Konsumenten und dort den gierigen Kapitalisten; weitgefehlt. Es trennt sie nicht mehr, nichts Fundamentales mehr. Allein ein fließender Übergang von einem zum anderen, beileibe keine Antinomie, markiert kaum sichtbar wie die Gleitkommazahl in der Mathematik den Unterschied zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch, Nutzen und Verschwendung etc. Rein rechnerisch also sind unsere Wünsche und Bedürfnisse Mantissen, Größen vor der Gleitkommazahl einer Potenz, und so scheint es auch im Alltag zu sein. Ganz alltäglich potenzieren wir gleitend mit jedem Zehntelprozent Wachstum auch das Wachstum an Natur- und Umweltzerstörung und keine innere Grenze hält diesen Prozess auf.  Betrachten wir es eschatologisch, dann stimmt die Rede vom Wachstum in den Tod, in die Totalzerstörung, die noch vor wenigen Jahrzehnten dem militärischen Bereich und da der Atombombe vorbehalten war. Das ist das postmoderne pars pro toto, welches allein in der Totalzerstörung noch zu seiner Bedeutung findet. Eine einzige lokale Naturkatastrophe setzt eine Energie von mehreren Tausend Atombomben frei und die derzeitig Erwärmung der Wassertemperatur allein in der Badewanne Mittelmeer speichert eine so große Menge an Energie, dass bei der Vorstellungen deren Freisetzung irgendwo in Europa einem Angst und Bange werden kann; da kommt mehr auf die Menschen im Mittelmeerrau zu als die Katastrophe in Slowenien, die kürzlich binnen weniger Stunden etwa siebzig Prozent des Landes zerstört hat, die riesige Menge an Feuern in Griechenland bis hin zu den aktuellen Überschwemmungen in Nordspanien; diese allein wären schon genug.

Wir müssen lernen, in Skalen zu denken, um Grenzen ziehen zu können. Nur weil es möglich ist, muss es doch nicht selbstverständlich erreichbar sein, oder? Müssen Privatiers für sage und schreibe 350 000 USD in den Orbit fliegen, um die Schwerelosigkeit ihrer übergewichtigen Leiber zu erleben? Müssen Hunderttausende auf Kreuzfahrschiffen sich so vollfressen und vollsaufen, dass es die Gesundheitskosten und die für die Beseitigung der größten Schäden an Natur und Kultur, z. B. in Venedig, für die Anwohner und die Daheimgebliebenen in schwindelnde Höhen hochtreibt? Wie nerven und sinnlos sind die endlosen Diskussionen über Grenzwerte? Ob 10 µg oder 20 µg von etwas in einer Substanz gut ist oder nicht? Ob ein Grenzwert gut ist oder nicht, finden wir nicht in Werten, sondern allein in nachdenklichen Diskursen darüber. Nachdenken darüber, was einen Wert hat, kann nicht ersetzt werden im Nachdenken über Werte. Ob diese Werte gut sind für etwas, setzt ein Nachdenken über das Gute voraus. Wenn alle unsere Skalen in Koordinatensystemen liegen und deren Werte auf Infinitesimalskalen liegen, dann müssen wohl beide, die Koordinaten und die Werte neu gedacht werden, wollen wir nicht Opfer unseres eigenen Denkens werden, das uns in ein System schier unendlicher Möglichkeiten geführt hat, aber keine Orientierung an einem Ausgang mehr erlaubt.

Unser Denken ist dominiert von rationalem Denken ohne Exitstrategie und dieses Denken ist nicht nur korrumpierbar, sondern seine Korrumpierbarkeit gehört zu seinem innersten Kern. Das liegt auch daran, dass es keinen Grenzwert kennt, keinen Wert, der sich an der Idee des Guten z. B. ausrichtet. Ich kann mit einem Deal Eintausend oder eine Million Euro machen; im Ergebnis ist der Millionendeal besser. Besser geht in diesem Fall nicht zurück auf gut, ist kein Komparativ der Idee des Guten, denn diesen Komparativ gibt es im Reich der Ideen nicht; die Idee des Guten ist bereits die beste aller guten Ideen. Das ist nicht paradox, es sei denn, man ist Linguist oder Naturwissenschaftler. Sprachanalyse ersetzt genauso wenig wie Mathematik das Verständnis des Absoluten, wozu die Ideen gehören. Kein Mathematiker hat noch wollte er je das Absolute berechnen, es reichte ihm, sich ihm anzunähern. Gleichwohl war damit sein Bedürfnis, die Welt und die Wirklichkeit in Zahlen zu repräsentieren, befriedigt und diese Befriedigung erschien ihm notwendig in den Grenzen der Annäherung. Aber was, wenn das Absolute kein Infinitesimalwert ist?

[…] Wohin man schaut, der Freihandel wird begrenzt, die Globalisierung reduziert, transnationale Kooperationen eingestellt, internationale Organisationen missbraucht, Regeln und Gesetze der internationalen Verkehrsformen von Handel, Technologie, Politik und Wirtschaft eingeschränkt bzw. in nationales Recht zurücküberführt, und selbst das gilt heute in der Hälfte der weltweiten Staaten so gut wie gar nicht. Oft steht es geschrieben in Grundgesetzen und Staatsverträgen, allein, es gilt wenig zum Opportunismus, gar nichts andernfalls. Hegel würde wahnsinnig, sähe er den Zwischenstand der Entwicklung des menschlichen Geistes unterwegs zur absoluten Idee. Er markiert eine Wegmarke, an der mindestens zwei, meist zahlreiche Wege in unterschiedliche Richtungen sich trennen. Schon zwischen Verfassung und nationaler Wirklichkeit ist ein schizoider Zustand der Orientierungslosigkeit im Double bind von Ermöglichung und Verneinung, von staatlich gewährter Selbstorganisation und deren Verbot und Verfolgung durch staatliche Institutionen.

Allein die Entwicklung der Reisetätigkeit hin zum Tourismus innerhalb der letzten einhundertfünfzig Jahre hat ein Ausmaß erreicht und strukturell fixiert, das die ganze Schizophrenie von Freizeit und Unversehrtheit ganzer lokaler Destination wie auch im globalen Maßstab zeigt. Heute ist der Tourismus allein schon für fünf Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Gemessen an den weltweiten Treibhausgas-Emissionen von deutlich über 35 Milliarden Tonnen jährlich beträgt derzeitig der deutsche Anteil rund zwei Prozent. D. h., dass nur der Tourismus mehr als das Zweieinhalbfache der CO2 Schäden einer der größten Volkswirtschaften weltweit ausmacht. Wir halten fest, in einer schizoiden Verfassung von Politik und Wirtschaft bleiben nicht nur neue Ideen und an einer gesunden Natur orientierte Staats- und Wirtschaftsmodelle auf der Strecke, auch die Transformation eines entfremdeten Bewusstseins‘ und die Heilung einer ‚kranken‘ Seele der Menschheit sind schwerlich zu verwirklichen. Und dies gelingt heute weniger als je zuvor im Protektionismus eines merkantilen Denkens, welches sich immer weiter und weltweit ausbreitet. Merkantiles Denken ist die Umsetzung politischer Strategien mit ökonomischen Mitteln. Es setzt auf volkswirtschaftliche Nationalökonomien im Export, wozu auch der Tourismus gehört, und behindert Importe, setzt den Freihandel in ökonomisches Double bind für jeden Handelspartner, um eigene Ziele und Interessen zu erreichen. Dieser Staatsegoismus sieht als Letztes eine Natur im Zerstörungsprozess und eine Seele unterwegs in die Bedeutungslosigkeit. Der Mensch ist irrelevant geworden wie die Natur und so sind endlich Mensch und Natur zu einer Einheit im Untergang geworden.

Ganz gleich in welche Bereiche der Wirtschaft wir schauen, von einer Wirtschaft in gesunder seeli-scher Verfassung können wir nicht sprechen. Sie wäre bestimmt durch Grenzenlosigkeit im Denken und Handeln der Menschen untereinander, durch die Unversehrtheit des Menschen in seiner globalen und natürlichen Integrität, wäre orientiert an der Universalität vernünftiger Regeln und Gesetze, die weder national noch in internationalen Organisationen durch Gewalt oder durch absurde Vetorechte konterkariert werden und wäre geleitet durch die Unsterblichkeit guter Ideen. So aber ist es nicht.