Im Jahr 1969 bereits sprach der französische Soziologe Alain Touraine von der postindustriellen Gesellschaft und löste eine Auseinandersetzung aus, die bis heute andauert und sich um den sozialen Wandel innerhalb post-industrieller Gesellschaften dreht. Im Jahr 1973 erschien von dem US-Soziologen Daniel Bell (geb. Daniel Bolotsky) eine empirische Untersuchung zur postindustriellen Gesellschaft in ihrem Wandel von einer Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, in der er den Begriff der Informationsgesellschaft einführte. Sie dokumentiert eine andere Sichtweise auf die Moderne, die nicht historisch Phänomene in den Blick nimmt, und kaum zeigen sich Wandlungen einer Industriegesellschaft man auch schon von einer Postmoderne sprechen muss. Bells Sicht auf die Industriegesellschaft als Teil der Moderne nimmt kulturelle Phänomene in den Blick und analysiert diese in Relation zu ökonomischen Kategorien. So sieht Bell einen Wertekonflikt, der den kulturellen Kern moderner, westlicher Gesellschaften angreift und in einer Kulturkrise einmündet. Für Bell besteht der Wertekonflikt darin, dass in der kapitalistischen Produktion ein „Aufschub von Befriedigungen“, eine Art Aufschub und Vertagung von Bedürfnisbefriedigungen gefordert wird, während nach der Arbeitszeit eine Konsum- und Freizeitindustrie die Menschen lockt, geradezu verführt, hedonistischen Werten und Lebensentwürfen blindlings zu folgen, einer lustgesteuerten Vergnügensgesellschaft, einer Spaßgesellschaft hedonistischen Ausmaßes, einer Erholungs- und Tourismusindustrie sowie einer Gleichgültigkeitsgesellschaft, in der jeder sich selber der Nächte ist . Was Bell hier schärfer und empirisch differenzierter fasst, ist aber ein Merkmal aller Gesellschaftsformen und kulturellen Ausprägungen, nicht umsonst sind die Begriffe, die die moderne Soziologie etwa benutzt, allesamt antiken griechischen Begrifflichkeiten wie etwa dem Hedonismus entlehnt.
Marx hat schon die widersprüchliche Gemeinsamkeit von Kapitalismus und christlicher Ideologie betont und man kann weit zurückblicken und wird erkennen, dass „Unter- und Überbau“ jeder Gesellschaftsform keinen bloßen Abbildcharakter haben. Stets gab es mehrere Sichtweisen auf eine Gesellschaft, je nachdem auf welchen Aspekt einer Gesellschaft, den sozialen, kulturelle, militärischen, ökonomischen usw. man hinschaute. Aber nicht nur die aspektivistische Seite einer Kultur entdeckte eine historische Sichtweise, es bestand parallel dazu auch eine zweite Sichtweise, eine erklärende Sicht, mit der modernes Denken auf die unterschiedlichen Phänomene im Verlauf ihrer historischen Ausprägung schaute. Waren bis zum Beginn der Neuzeit die Religion und die Philosophie Versuche der Erklärung, warum sich etwas gewandelt hat und welches die Antriebskräfte dieses Wandels waren, so übernahmen in der Moderne immer mehr die empirischen Wissenschaften solche Erklärungsversuche und heute sind dies vornehmlich die Empirischen Sozialwissenschaften und die Ökonomik, die sich darin versuchen. Bell ist ein typischer Vertreter dieser Sichtweise, Widersprüche auszumachen wie den eben beschriebenen zwischen Arbeit und Konsumverhalten und diesen dann auf einen Grund als Nullpunkt einer neuen Erklärungskoordinate zurückzuführen. Demnach wäre dieser Widerspruch darin begründet, dass in den USA der zwanziger Jahre durch die Erfindung des Fleißbandes teure Waren wie etwa Automobile für Arbeiter und mittlere Einkommensschichten erschwinglich wurden und Arbeiterschichten plötzlich in den Genuss des Konsums immer größerer Teile des Warenangebots kamen, was wiederum die Angebotsseite veranlasste, mehr davon zu produzieren. Der Produktionsboom demnach ist einmal begründet in der technischen Entwicklung, die Mengen und Preise bestimmt, also eine tendenzielle Überproduktion zu immer geringeren Kosten, heute als Grenzkosten-Grenznutzen-Theorie bekannt. Letztlich ist es der Markt und damit der einzelne Kunde (Nachfrageseite), der verantwortlich ist für die Massenproduktion einer Wegwerfgesellschaft; so sieht es gerne die Politische Ökonomie.
Wenn immer mehr Konsumenten vor einem immer größer werdenden Warenangebot stehen, vergrößert sich natürlich, so diese Sichtweise, auch die Anzahl derer, die entweder mehr davon besitzen oder endlich dazugehören möchten und das wird ermöglicht durch Banken, die ihnen Konsum auf Pump ermöglichen. Die Ratenkredite sind demnach eine natürliche Form der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die denen, die arbeiten, auch den Zugang zu bestmöglichen Zinsen, sprich Bedingungen, ermöglicht. Zugehörigkeit wird so zu einem Politikum, dass niemand abgehängt sein soll vom Konsum, der den Status der Zugehörig metrisiert. Wer nicht arbeitet, hat auch kein Recht zu leben, so die extreme Devise puritanistischer Denkmodelle, und wer mehr arbeitet als ein anderer, soll auch sichtbar sein in einem Mehr an Besitz, einem Mehr an Wert.
So hat der wenig ethische Wirtschafts-Puritanismus im Kern den Besitzstand als sichtbares Zeichen einer deutlicher angetriebenen Arbeitskraft, gemessen als Produktivität (im Unternehmen) und Kaufkraft (im Markt), die den Dienst an Gott nun ersetzt durch den Dienst am Volksvermögen bzw. am Sozialprodukt. Und schon hier wird es wieder eine Sache des Glaubens, denn niemand weiß so richtig, wie hoch das Sozialprodukt wirklich ist und wer im Einzelnen was davon beigetragen hat. Gleichwohl aber niemand weiß, was es ist, worüber er spricht, werden das Sozialprodukt und seine üppige, kategoriale Verwandtschaft, das Inlandsprodukt und die Primäreinkommen, das Brutto- und das Netto-Nationaleinkommen, das Bruttoinlandsprodukt usw. als scheinbar verlässliche Größen herangezogen, wenn es um Verteilungsfragen geht, um Steuer- und Abgabenkonzeptionen, um Staatshilfen fiskalischer Art oder wie heute in Pandemie-Zeiten. Und mittlerweile sind wir es trotzt großem Staunen um der Dreistigkeit und mit offenem Mund ob der Selbstgewissheit von Politik und Wirtschaft gewohnt, auf eben solchen Daten, meist Zahlenmaterial, die weitreichendsten politischen Entscheidungen abhängig zu machen. Würde man Studenten der Empirischen Sozialwissenschaften nach der Effektivität der Daten, nach den Standardkriterien der Datenerhebung und Auswertung im Falle der täglichen Inzidenzwerte, die nun seit einem Jahr erhoben werden, benoten, die Note stünde fest; ein glattes „Nicht bestanden“. Obwohl am Wochenende kaum jemand zu arbeiten scheint in den Gesundheitsämtern und den staatlich nachgeordneten Stellen, obwohl mehr als 75 % der Gesundheitsämter ihre Daten faxen, teils Daten von zwei Tagen zusammenfassen und in den sechzehn Bundesländern ein ordentliches Chaos besteht bei der Datenerhebung, werden alle wichtigen politischen Entscheidungen auf der Grundlage dieser Daten getroffen; mehr Armutszeugnis geht nicht, wir kommen im Kapitel: Urteile und Entscheidungen darauf zurück.
Ein geradezu schlampiger Umgang mit sensiblen Gesundheitsdaten aber ist kein Zeichen einer Nachlässigkeit, denn selbst ein perfekter Umgang mit Daten kann dies umso mehr sein. So zeigt gerade die bundesdeutsche digitale Rückständigkeit doch auf überzeugende Art und Weise eine Datengläubigkeit, wenn auf dieser löchrigen Basis politische Paläste gebaut werden. Es wird ja auch immer schneller klar, wenn die Halbwertzeiten politischer Entscheidungen immer kürzer werden und das Land von einem Lockdown in den anderen stolpert, wie groß der Glaube an Daten ist und wie hilflos Politik agiert, wenn sie sich auf Daten verlässt. Aber bitte nicht meinen, dass wir Daten ganz generell ablehnen, nein, dann könnten wir auch gleich die Kommunikation verbieten, wenn so viel Stuss wie heute erzählt wird. Es kommt auf etwas ganz anderes an, was wir in den Blick nehmen möchten.