Der Tanz ist beendet – Das Mädchen ist tot

Andy Warhol geht einen anderen Weg, hat einem individuellen Todesbild ein serielles, medial konfiguriertes Bild des Todes in seinem Werk gegenübergestellt. Er hat sein individuelles Todesbild formal entpersönlicht, hat es jeder formal-ästhetischen Tiefe enthoben. Da gibt es kein Dahinter, nur ein fast schon zur ‚self fulfilling prophecy‘ gediehener gesellschaftlicher Umgang mit dem Tod, in der der Umgang mit dem Tod als ein maschinelles Gestaltungsideal funktioniert; fein säuberlich und gnadenlos präzise arbeiten die ‚Electric Chairs‘ wie die alltäglichen Beerdigungsrituale, ohne jede individuelle Handschrift. Warhol, der im Jahr 1968 selbst nur knapp ein Attentat überlebte, blieb aber auch als Künstler im symbolischen Bannkreis des Todes, den er durch die serielle Bildproduktion aber zu durchbrechen in der Lage war. In schreiender Farbigkeit lehnen sich seine Serienbilder sowohl gegen die mediale Abstumpfung von Hinrichtungen, gegen deren flüchtig vorbeistreifenden Medienmeldungen wie auch gegen seine und die menschliche Vergänglichkeit auf. Warhol will, dass der Betrachter Stellung beziehen kann gegen die mediale, serielle Nivellierung der Grausamkeiten der Todesstrafe wie auch gegen den Tod selbst.

Gegen deren uninspirierter Anonymität und Banalität stehen seine seriellen Zyklen, die die leeren Todesmaschinen nun als die Facta bruta eines Umgangs mit der Vita humana zeigen. Aber so sehr er sich auch zeitlebens mit dem eigenen Tode auseinandersetzte, es ging ihm letztlich um die Entmystifizierung eines gesellschaftlichen Bewusstseins und Umgangs mit dem Tod; es ging ihm um dessen Aufklärung mit den Mittel der Kunst. Aber was ist, wenn all‘ die mementi, die Mädchen, Totenschädel und sonstigen Allegorien der Vergänglichkeit (Vanitas), die uns ein Leben lang im Bannkreis des Todes metaphysisch-nihilistisch umklammert wach halten, aufgeklärt wären, und der Tod und damit das Leben nichts anderes wäre als ein sinnloser Vorgang, dessen Schöpfung so ohne Tiefe, ohne metaphysisches Dahinter ist, wo es also auch für die Künste schließlich nichts zu finden gibt, wenn der Tod lediglich dem Leben eine passagere Bedeutung zuweist, die der Mensch nur allzu ungern annimmt, aber nicht annehmen muss, was dann?

Das diese Frage so abwegig nicht ist, hielt J. P. Sartre bereits in dem eindringlich erschütternden Satz fest: „Jeder Tod ist ein Mord.“ Und weist auf den Betrug (Bedeutungs-Trug) für den anderen, für Freund und Partner, für die Mitmenschen hin. Und er hat Recht, denn kein Tod ist einfach nur ein „natürlicher“ Tod, kein Factum brutum. Er ist Trennung und Bruch, Bruch vieler uneingelöster Versprechen und Beziehungen, ontologisch justiziabel wie ein Mord, heimtückisch, unvorhersehbar und chancenlos für die Lebenden wie die Betroffenen. Dies alles und mehr ist der Tod für uns; selbstverständlich ist dies nicht intentional gemeint.

Die Guilloche auf der Lünette der Uhr des alten Klosters Sao Francisco im Zentrum des Brasilianischen Salvador de Bahia zeigt in goldenen, vom salzigen Seewind schon teilweise bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Buchstaben: „Ferriunt omnes, ultima necat.“ Aber so können und wollen wir unser Leben nicht sehen. Denn unser Bewusstsein betreibt ein ganz anderes Spiel. Es funktioniert im Gegensatz dazu komplementär und kumulativ. Seine Inhalte, seine Vorstellungen, Bilder und Erinnerungslinien stehen in einem ständigen Vervielfältigungsprozess, in fortwährender Anreicherung und also Akkumulation, eben in serieller, aber nicht linearer Fortschreibung auf ein Endbild hin, welches es nicht geben kann und Phantasmagorien der Unendlichkeit sind. Für das moderne, unglückliche Bewusstsein gibt es nicht die Endlichkeit, sondern die Unendlichkeit als Bezugssystem. Vom Tod ausgehend, sucht es dessen Überwindung, denn der Mensch will leben und nicht sterben, er will seine gegebene Zeit überschreiten, generativ wie für sich selbst. Deshalb trägt der Mensch die Idee der Unendlichkeit immer schon in sich, wirkt diese Idee rekursiv auch in ihn hinein, in sein Denken, Empfinden und Handeln, auch in die Kunst, von der der moderne Mensch die Unendlichkeit als serielle Vorstellungbilder erhält.

Der Künstler, der Maler malt immer gegen die Zeit, wenn er denn „gut“ ist und einen Pakt mit dem Tod hat. Und so hinterlässt er uns seine „ewigen“ Werke als sein unglückliches Bewusstsein seiner Zeit, seiner Geschichte, wenn sein Körper schon längst ins Nichts gesunken ist. Sein Körper stirbt, seine Ideen in seinen Werken bleiben uns wohl möglich lange, manche ewig erhalten. Wir sind zwar aus der Endlichkeit geboren wie das Universum selbst und der Urknall unserer Geburt war nichts anderes als der Beginn eines Lebens aus dem Tod, so jedenfalls stellt es sich die Physik vor, die mit dem schier irren Paradox umgehen muss, dass das, woraus alles entstand, dieses ins unendlich Kleine verdichtete Plasma nicht etwas und zwar alles Sein, sondern Nichts sein muss. Der Tod, die Vergangenheit und Vergänglichkeit von allem haben uns das Leben geschenkt und das Bewusstsein, dass auch wir endlich sind. Auch das Bewusstsein und die Idee der Unsterblichkeit, der wir mit Leidenschaft begegnen und die den Künstler aus der amorphen Dauer wie, im besten Fall, aus der Nivellierung des „Jedermann“ heraushebt. Und seine Waffe gegen den Tod ist sein Werk wie das Werk sich der Auseinandersetzung mit dem Tod verdankt.

Vom Künstler als Mitmensch wird nichts übrig bleiben, nichts, was auch nur im Entferntesten mit seinem Leben vor dessen Auslöschung im Tod zu tun hat, wie auch von den vergangenen und durch Krieg zerstörten Kulturen nichts Lebendiges mehr bleibt, außer die Werke von Kunst und Architektur, außer die Bilder von Zerstörung, Verlust und Tod, die auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihnen sind und die vielleicht nie zu Ende geht wie der dialogue interieur, der fortan die Gespräche mit den Mitmenschen, Freunden und Malerkollegen aufbewahrt und fortführt. Viele dieser Bilder und Geschichten werden Erinnerungen sein, die von Mund zu Mund wandern und so von sich erzählen, werden im Gedächtnis bewahren, was es so in Wirklichkeit nie gab, aber was das Bewusstsein aus seiner metaphysischen Umklammerung nicht herzugeben bereit ist, jedenfalls nicht so ohne weiteres, so ganz und ohne Widerstand.

Wenige Bilder werden Zerstörung, Verlust und Tod als solche zeigen, nicht die überzeichneten Erinnerungen an sie. Sie werden dem Betrug des Todes nicht auf den Leim gehen, werden eben keine Stelen in einem Heiligtum errichten, sondern helfen, vergessen zu machen, was an unverarbeiteten Klischees von Vorstellungen und Erinnerungen in diesem nihilistischen Vandalismus des eigenen Bewusstseins abgelegt ist. Und nur so den Blick freigeben auf das, was bleibt, was wirklich währt: der ewige künstlerische Kampf gegen Zerstörung, Verlust und Tod, der dem Leben, dem uneinholbar sich Wandelnden und dem Vergangenen Sinn und Würde verleiht. Was wir Kultur nennen ist nichts anderes als die Heimstädten unserer Toten, unserer Göttergeschichten und Helden wie die namenlosen Erbauer der Tempel, Kirchen und Paläste, unserer großen Künstler, die ihre letzte Ruhestätte in Bildern auf Leinwänden und auf Papierseiten, in Steinen und Notenblättern gefunden haben; selbstverständlich kennen wir auch die digitalen Medien.