Die Blumen des Bösen

Die Frage nach dem Grund ist bestimmt als eine Frage nach dem Sinn. Sinn, so haben wir im Band V. ausgearbeitet, unterscheidet sich von der Bestimmung, was Bedeutung ist, dadurch, dass der Sinn eine Bedeutung von etwas in Frage stellt, eben in einer Warum-Frage; oder wie wir gerne formulieren: „Welchen Sinn hat das noch?“ Die Bedeutungsebene in unserem Beispiel ist doch recht klar und das Wissen des Jungen auch mehr als ausreichend zum Verständnis und für den Umgang mit diesem Ereignis. Gleichwohl treibt die Frage nach dem Sinn ihn um, ohne, dass er auch nur die kleinste Idee oder Vorstellung davon hat, warum er verprügelt worden ist von Paul an diesem Tag, was diesen Tag zu einem besonderen Tag hat werden lassen. Am nächsten ging er in Begleitung zum Kindergarten, war von den Kindergärtnerinnen einigermaßen beruhigt und getröstet worden wie auch von seinen Eltern.

Alle hatten auch mindestens signalisiert, dass sie auf seiner Seite standen und alles versuchen wollten, um eine neuerliche Tracht Prügel zu verhindern und einiges mehr noch, was aber die Frage des Jungen nach dem Warum nicht beantwortete. Wir behalten somit, sein Wissen und sein Umgang in seinem sozialen Lebensraum hatte nicht die Struktur einer vertikalen Umsicht, sondern einer horizontalen Einsicht in ein Geschehen und den praktischen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen. Die Richtung seiner Einsicht war selbst in der Vorstellung seiner praktischen Möglichkeiten keine Introspektion, keine Reflexion auf sich selbst, sondern gänzlich umfänglich auf ein „Draußen“ gerichtet, dessen Namen er bald als Paul kennenlernen sollte. Dem Jungen, so haben wir formuliert, begegnete Paul unvorhersehbar und schmerzhaft, fremd und ängstigend. Paul war insofern eine Einbildung, als von Paul eine wuchtige Tatkraft die ganze Seele des Jungen in Mitleidenschaft gezogen hatte. Wir bleiben dabei, für den Jungen war Paul ein namenloses „Subjekt“, von dem etwas Eindrückliches ausging und wozu der Junge sich wie ein ohnmächtiges Objekt vorkam, dem er aber zugleich in seinen Vorstellungen auszuweichen in der Lage war. Die Frage, haben diese Vorstellungen in diesem Beispiel den Jungen nachhaltig verändert, können wir beantworten damit, dass sie natürlich eine bestimmte Reflexion auf das Geschehen ermöglichten und damit eine neue Distanz dazu geschaffen haben, aber nachhaltig im Sinne einer beständigen Veränderung waren sie nicht; wie auch? Das Geschehen konnte sich ja jederzeit wiederholen, der Umgang damit wieder auf neue Möglichkeiten stoßen oder in ein traumatisches Erleben sich verkapseln. Bekommt der Jungen alle paar Tage Prügel wird er auch kaum mehr seinen Möglichkeiten, mit solchen Situationen umzugehen vertrauen.

Das Vertrauen, welches dadurch entstand, dass der Junge seine eigenen und daraus seine sozialen Möglichkeiten entdeckte, diese Form des ersten Selbstvertrauens, eine Form auch der Selbstgewissheit wird gedehnt mit der Frage nach dem Sinn, zunächst einmal nicht mehr. Mit der Warum-Frage, sagen wir nun mit der Frage nach dem Grund, kommt eine neue Dimension in die Episteme des Ereignisses, die der Transparenz. War bisher für den Jungen die Situation durchsichtig genug, gleichsam in der Nahperspektive bis morgen oder den nächsten Tagen und eine mögliche Wiederholung dergleichen oder einer ähnlichen Begebenheit, so will die Frage nach dem Grund umfassende Transparenz, Transparenz für alle Zeiten und alle Begebenheiten aus unterschiedlichsten Bewandtnissen.
So etwas nennen wir Allwissenheit als ein Glaube, dass alles, was wichtig ist, auch gewusst werden kann. Von einer phantasierten oder vorgestellten Allwissenheit aber war unser Jungen meilenweit entfernt, ohne sein Wissen deshalb als Mangel zu erleben. Die Frage nach dem Grund war für ihn eher die Möglichkeit, mehr zu wissen, mehr, als bislang für ihn genug war. Wenn wir hier das Wissen nicht mehr in Veranschlagung zum Ereignis, zu dessen unmittelbarer Bewandtnis, zu den inhärenten Möglichkeiten und Umgangsformen bringen, dann beziehen wir die Frage nach dem Grund auch außerhalb jeder Bewandtnis als eine Möglichkeit des Fragens und somit eines Sinns eines Ereignisses, der sich nicht aus dem Ereignis anders erschließt, als dieses fundamental infrage zu stellen. Eine fundamentale Infragestellung meint nun eine so weit wie möglich ausgedehnte Transparenz, die, um mit den Worten Heideggers zu sprechen, „das Dasein selbst als Sorge sichtbar“ werden lässt.

Es geht somit nicht um eine bestimmte Sorge, nämlich die, dass morgen oder in den nächsten Tagen soweit ersichtlich das gleiche oder ein ähnliches Ereignis eintreten könnte, sondern um eine generelle Sorge, die eine umfassendere Transparenz erfordert; wir vermeiden in diesem Zusammenhang davon zu sprechen, dass diese allgemeine und unbestimmte Sorge ein allgemeines, unbestimmtes „Besorgen“ nach sich zieht (Heidegger). Ein unbedingtes Wissen-wollen erscheint uns ein besserer Ausdruck für die Sorge um eine möglichst allwissende Transparenz; allwissend deshalb, weil nie feststeht, wo ein unbedingtes Wissen letztlich stehenbleiben soll und kann; es bleiben die Fragen.