Aus Kapitel 3: Die Laster der neuen Tugenden

Arete – der Tugend unterstellte Tüchtigkeit

Platon plädierte für eine einfache und naturgemäße Lebensweise im Gegensatz zu der zu üppigen, maßlosen, die er kritisierte. Platon hatte aber keineswegs so etwas wie Spiritualität im Sinn und auch keine Rückkehr zu einer primitiveren Zivilisationsstufe. Ihm ging es um die Kontrolle des Übermaßes. Anders als die Stoa waren Platon und Aristoteles durchaus der Meinung, dass Tüchtigkeit und Fertigkeiten sinnvoll und vernünftig eingesetzt und entwickelt werden können, ja müssen und dürfen, weil die Gemeinschaft, die Polis, gut trainierter Soldaten, kluger Heerführer, großartiger, den Göttern gefälligen Künstlern, maximal befähigten Ständen bedürfe, ohne die ein funktionierender Staat nicht in Freiheit und Wohlstand leben könnte und auch in seiner geistigen Entwicklung rückständig bliebe, ohne seine Philosophen.

[…] Halten wir fest, das Laster ist nicht selten ein Übermaß an Tugend, gewissermaßen eine aus dem Ruder gelaufene Fähigkeit, die mit einer Sucht oder einem Zwang viel gemein hat und die wie Sucht und Zwang die Gefahren des Missbrauchts verkennt oder einfach nicht sieht. Mehr noch, Laster sind Ver-haltensweisen oder Sichtweisen, die nie wirklich Arete geleitet sind, nie wirklich zu einer Art Erfüllung und Befriedigung finden, sondern inneren wie äußeren Zwängen gehorchen und den „Leidenschaften“ in jeder Hinsicht freien Lauf lassen. Deshalb konnotieren solche „freien“ Leidenschaften auch gerne mit Besessenheit, mit Ekstase, als ihr Suchtcharakter geradewegs zur Betäubung von möglichen Konflikten beiträgt. Gefühle von Selbstzweifel, Irritationen und Unzulänglichkeiten, gleichsam Untüchtigkeiten allesamt werden ebenso beseitigt wie die Ängste von Versagen und Ungenügen gegenüber den anderen. In religiösen Gemeinschaften vertreten Laster die gleichen gesellschaftlich vorgegebenen Bedeutungen, nämlich Verbote und Gesetze. So zeigten auch moderne Gesellschaf-ten in ihren Arsenalen an Regeln und Verboten stets den Hang zu Lastern aller Art, gleichsam fungierend wie eine Gegenkultur, die ihre Bedeutung daher bekam, dass sie verboten waren.