Kants Vermächtnis

Also kommen wir an dieser Stelle nicht umhin, uns einmal mehr mit Kant zu beschäftigen, denn hier finden wir den Kontext, der das Problem der Gerechtigkeit bestimmt.[1] In der Kritik der Urteilskraft (KU), dem dritten Hauptwerk Kants nach der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft, verwundert ein wenig, dass Kant sich, nachdem er sich mit der Erkenntnis und der Ethik nun im dritten Hauptwerk eingehend mit der Ästhetik beschäftigt. Eingehend heißt einmal mehr für die Kant-Lektüre, dass der große Königsberger sich nicht mit den objektiven Bedingungen als Erkenntnisbedingungen beschäftigt, sondern sein Blick auf die Erkenntnisbedingen selbst gerichtet ist. Da Erkenntnis nach Kant, so nicht in der Natur oder einem „Ding an sich“ (das wäre ein nicht-menschliches Erkenntnisvermögen) anzutreffen ist, zumal auch für die Natur gilt, dass deren Gesetze schon noch des Menschen bedürfen, um erkannt zu werden. Kant signiert die antiken griechischen Philosophien uneingeschränkt in dem Punkt, dass Erkenntnisbedingungen allein dem Menschen (bei ihm das Subjekt, von dem Erkenntnis ausgeht) gegeben sind und allein philosophisch erschlossen werden können. Nur durch Denken kann dem Denken, wie es denkt, auf die Spur und auch, wenn nötig, auf die Schliche gekommen werden. Was in der nach-kantischen Philosophie oftmals übersehen wurde ist, das Kant mit der Marginalisierung der Naturwissenschaften, die nach den objektiven Bedingungen des Denkens bis heute und teils auf verwegen trotzige Art suchen – wir haben dafür den Satz: ich blinke also bin ich (Band I. Kap. 1) für die Neurowissenschaften in ironischer Form notiert – auch die Suche der Erkenntnisbedingungen innerhalb eines vorgeblich konstitutiven Seins marginalisierte.

Weder Welt noch Sein, auch nicht in Form eines Daseins sind also nach Kant die richtige Orientierung der Suche nach dem, was Erkenntnis bedingt. Das nannte man die kopernikanische Wendung hin von der Metaphysik und der Theologie zum Denken selbst und damit zu einem Menschen, der es selbst ist, der denkt und dies auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen tut und nicht immer mit guten Ergebnissen. Aber was sind, was wären, besser gesagt, gute Ergebnisse?

Diese Frage beantwortet nach Kant die Ästhetik. Aber Vorsicht, verwechseln wir nicht, was Kant unter Ästhetik verstand und was wir heute darunter verstehen. Kant wusste noch zu unterscheiden zwischen transzendentalen Bedingungen der Anschauungen und transzendentalen Bedingungen, die dem Verstand zukommen. Jene waren Raum und Zeit als Bedingungen apriori, die den Anschauungen die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufzeigten und die man getrost auch als notwendige Bedingungen veranschlagen kann. Wir haben an vielen Stellen darüber gehandelt, dass es generell keine Erkenntnis, ohne Bezug zu Raum und Zeit geben kann (Band I. Kap. 1). Dies gilt immer und ist nicht dasselbe wie jene transzendentalen Bedingungen des Verstandes, die Kant mit den Kategorien der Qualität, der Quantität der Relation bzw. der Kausalität sowie der Modalität bestimmt hat. Mit diesen Kategorien verbunden ist, dass der Verstand, gleichwohl er vom Menschen ausgeht, seine Richtung aber auf die Welt hat, während für Kant die Ästhetik, also die Frage, was ist Schönheit z. B. sich an den Fragenden selbst richtet. Ein wenig missverständlich blieb bis heute, dass Kant die Ästhetik gleichgesetzt hat mit einem Geschmacksurteil, welches sich auch noch dadurch auszeichnen soll, dass es interesselos ist, also gewissermaßen ungerichtet sich vollzieht. Ist demnach das Erkenntnisvermögen bzw. das Erkenntnisurteil stets interessegeleitet, so gelte dies nicht für die ästhetischen Urteile. Diese gründen auf, um es mit der Logik zu formulieren, auf Bedingungen, die notwendig sind, der Verstand findet seine Grenzen in hinreichenden Bedingungen (siehe Band VI.).

Wenn also der Verstand sich der Welt zuwendet, dann stets interessegeleitet und dies ist eine hinreichende Bedingung jeder Erkenntnis. Allein unter Bedingungen von Raum und Zeit kann der Mensch nicht viel erkennen bzw. verstehen, einzig das, was er in seinen Anschauungen zu erkennen vermag, wie etwa das Schöne, welches er in einer Art interesselosem, gar begriffslosem Wohlgefallen betrachtet und in dieser Betrachtung auch Schönheit zu erkennen vermag. Nun mag man sagen, dass auch ein alter griechischer Tempel noch schön ist, selbst wenn er in Ruinen vor uns liegt – und was uns unweigerlich vor die Frage stellt, ob denn solcherart fraktaler Anschauungen generell dem Ganzen, also dem Original kaum Abbruch tut im ästhetischen Sinne. Was es aber wirklich demonstriert dieses Beispiel ist, dass auch die ästhetische Anschauung nicht bloß sinnengeleitet ist bzw. sein kann. Denn auch fraktale Anschauungen sind ästhetische, nehmen wir Kant beim Wort. Was Kant im Sinn hatte ist, dass da, wo Erkennen oder Verstand nicht ohne Interesse geleitet sind, es komplementär dazu doch wohl auch ein interesseloses Erkennen geben muss, sonst gäbe es ja das Schöne nicht. So stehen wir rein betrachtend in Wohlgefallen den Kunstwerken gegenüber, schauen oder hören einfach nur hin und, nota bene, kommt doch keine Kultur auf Erden ohne das Schöne und die Künste aus gleichwohl wir unsere Geschmacksurteile doch mit so vielen anderen Menschen teilen, also jeder das seine kennt und ihm folgt. Kunst gehört zum Menschsein wie der Verstand und gelegentlich sogar die Vernunft. Für Kant war es daher ausgemacht, dass der Verstand in seinem interessegeleiteten Wesen eben jenes Element der Willkür in sich birgt, weil es eben je mein Interesse ist, welches meinem Verstand den Weg zur Erkenntnis bahnt und, indem ich mein Urteil auf Verstandesbasis ausspreche und von anderen einfordere, dies doch einzusehen, was ich erkannt zu haben meine, der Willkür zugleich den Weg ebne.

Ganz im Sinne der Logik des Aristoteles stehen sich somit Verstand, Erkenntnis und Ethik der Ästhetik gegenüber, sind ihrem Wesen nach klar zu unterscheiden. Welcher Art diese Unterscheidung ist, sagt Kant auch, denn das Geschmacksurteil ist zum Erkenntnisurteil nicht in jeder Hinsicht oppositionell. Aber halten wir zunächst fest, dass Kant in seiner Art zu denken, ausgehend von den transzendentalen Bedingungen der Urteilskraft, also von für alle Formen des Urteils geltenden Bedingungen, seien sie notwendige oder hinreichende, das Bindeglied suchte zwischen dem einzelnen Urteil und dessen allgemeiner Zustimmung bzw. Gültigkeit. Ohne detailliert darauf einzugehen hinterließ uns Kant das Rätsel eben jenes Bindeglieds, welchen nicht zwischen Einzelnem und Allgemeinem, zwischen dem Individuum und seinen subjektiven Ansichten – „das Bild gefällt mir“ – und dem Objektiven, also allgemein gültigen Urteil – „das Bild ist schön“ – vermittelt, sondern ganz im Sinne der modernen Ontologie ein Sein hat, also für mich wie für alle Menschen „schön ist“. Konsequent musste Kant jeden Versuch vermeiden, einem Kunstwerk etwa ein eigenes Sein zuzuschreiben und so hinterließ er uns die Urteilskraft als ein Rätsel, als eine Frage mit universeller Geltung. Wir haben dies in verschiedenen Kontexten diskutiert und im besonderen Fall der europäischen Politik darauf hingewiesen, die ja nicht weniger als den Versuch gestartet hat, im Europarat jedem Mitglied der Union eine Stimme zu geben und gleichzeitig Europa als Ganzes ausgezeichnet hat, in vielen Fragen mit einer Stimme zu sprechen, sei es in der Außen- und der Geldpolitik, der Handels- und der Gesundheitspolitik und nicht zuletzt in der Fiskal- und der Umweltpolitik. Immer wieder erkennen wir, dass die wohlgemeinte und äußerst vernünftige Idee der Urteilsfähigkeit jedes einzelnen Staates in Gestalt seiner Regierungen in vielen Fällen nicht einmal mehr zum Kompromiss hinreicht, der die Geschmacksurteile, mithin die individuellen, interessegeleiteten Urteile zu vermitteln in der Lage ist; wir kommen darauf zurück.

Bleiben wir noch etwas bei Kant. Wie die Einheit in der Verschiedenheit bewerkstelligt wird, hat der große Transzendentalphilosophie durchaus in seinem Werk über die Urteilskraft mitgeliefert. Grob gesagt gibt es die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft. Die erste subsumiert alles Subjektive, Individuelle und Besondere unter eine bestehende Regel, ein bestehendes Gesetz, wir können auch nun sagen, dass bereits ein bestimmtes, somit subjektives Interesse hier mit aufgeführt werden kann. Die bestimmende Urteilskraft macht uns wenig Schwierigkeiten, uns sie quasi bei der Arbeit vorzustellen oder zu beobachten. Nehmen wir nur unser Beispiel des Richterspruchs, so werden wir zahllose Sachverhalte finden, die die bestimmende Urteilskraft empirisch belegen. Richter sprechen Recht auf der Grundlage von Gesetzen. Wo also Recht gesprochen wird, wird nicht gedacht, sondern Bestimmtes angewendet. Dies gilt, ganz im Sinne unsere Ausarbeitungen zum Konformismus (Band VI.) nicht nur für die Rechtsprechung, sondern für alle Bereiche unseres Daseins. Wir subsumieren Einzelfälle unter Recht, Gesetz, Normen, Vereinbarungen, Verträge, Absprachen und Versprechen sowie Zusagen (verbindliche) und eine ganze Reihe weiterer Übereinkünfte, sowohl potenzielle wie reelle Übereinkünfte.

Dort, wo die Gesetze z. B. gemacht werden, dort wird per definitionem nachgedacht. Dort, wo Gesetze sich verändern, wo Veränderung, ganz generell gesprochen, stattfindet, wird reflektiert, und dabei ist es nicht ausgemacht noch supponiert, dass die Reflektion sogleich auch richtig, wahr, sinnvoll oder gar nur nützlich ist. Die reflektierende Urteilskraft sucht also zu einem Subjektiven, Besonderen oder Individuellen das Allgemeine, also das, was Zuspruch und Gültigkeit über sich selbst hinaus findet; wir sehen, Kant war nach heutiger Terminologie eher der Prozessmanager des Denkens als dessen Verwalter. Aber woher kommt denn der Antrieb, sich auf die Suche zu begeben? Es ist immer wieder faszinierend, im Kant’schen Schematismus die ganze Palette an Anarchie zu finden. So ordnet er dem Erkenntnisvermögen den Verstand, die Gesetzmäßigkeit und die Natur (Naturwissenschaft als besondere Form des Erkenntnisvermögens) zu. So gründen die Kunst, die Zweckmäßigkeit, die Urteilskraft auf dem Gefühl der Lust und Unlust (woraus S. Freud am Ende Eros und Thanatos erkannt hat), und die Vernunft, deren Endzweck die Freiheit ist, gründet im Begehrungsvermögen; that’s Kant.

Schlichtere Gemüter haben Kant Zweckrationalität vorgeworfen, weil eben die Zweckmäßigkeit es nach ihm ist, die die reflektierende Urteilskraft antreibt, zwischen Freiheit und Natur zu vermitteln. Es ist aber eben nicht eine individuelle Freiheit hier und eine anonyme, dunkle Natur dort, zwischen denen sich die Urteilkraft schiebt und beide Seiten erleuchtet. Zweckmäßig nach Kant ist, was jeden Sachverhalt, jedes Phänomen im Einzelnen nach einem Zweck als Ganzen betrachtet, also eben nicht nach einer individuellen Zweckmäßigkeit, einem Vorteil, sondern eines „Pars pro toto“, mithin einer Perspektive, die zweckmäßig, sinnvoll, vernünftig für alle sich erweisen kann. Dass eine solche Ästhetik natürlich nicht beim Thema Klimawandel vor der eigenen Haustüre oder Landesgrenze halt machen kann, versteht sich eigentlich von selbst. Was bringt es heute, wenn die Menschen in NRW und Rheinland-Pfalz nach der jüngsten Überschwemmungskatstrophe angesichts der Feuer in Griechenland, der Türkei, Italien und den USA sagen können: zum Glück hat es nicht gebrannt! Orientiert am Menschen in seiner Natur kann nach Kant ja tatsächlich nur von einer Zweckmäßigkeit der Natur ausgegangen werden und zwar apriori, also vor jeder empirischen Anschauung, sei sie in Schön- oder in Schlechtwetter-Perioden formuliert, die als eine ästhetische Erwartung nach einer intakten Natur formuliert wird, die also die Natur nicht nach menschlich instrumenteller Rationalität verändert im Chaos vorfindet, sondern, wenn schon in einem Bild gesprochen, dann eher als ein ‚locus amoenus‘ als ein ‚locus terribilis‘ beschrieben werden kann. Ästhetische bzw. Geschmacksurteile, um bei der Begrifflichkeit Kants zu bleiben, sind somit nicht vom Verstand geleitet, nicht kausal und auch nicht beweisbar, beanspruchen aber zugleich eine allgemeine Gültigkeit und damit auch eine Zustimmungsfähigkeit, etwa politisch nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip, wir kommen gleich auch hierauf zurück.

Auf das Ganze kommt es also an, oder wie Platon sagen würde, auf die Idee. Auch Platon kannte schon eine Form der Idee, die als eine Form der „subjektiven Allgemeinheit“[2] bestimmt ist und was Kant in der Ästhetik wiedererkannte. Es geht in der Ästhetik somit nicht um ein subjektives Geschmacksurteil – Kant war kein Empiriker, sondern ein Denker – es geht um die Fähigkeit, zu ästhetischen Urteilen überhaupt fähig zu sein. Das gelte für alle Menschen und Kulturen und das sei das gesuchte Bindeglied zwischen dem Subjektiven, dem Besonderen und dem Allgemeinen und so verstanden ist „das Geschmacksurteil (..) also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“[3] Man kann recht leicht erkennen, was Kant unter „subjektiv“ versteht. Eben nicht eine Form der Selbstbezogenheit des Menschen, sondern eine „subjektive Allgemeinheit“, also eine fest im Menschen verankerte Form der Bezogenheit mit allen Menschen, mithin also der Mensch als Menschheit, als das, was ihn mit allen anderen verbindet.

Wir haben bereits in den Bänden zuvor einige Mühe darauf verwendet, diese subjektive Allgemeinheit als grundlegende und universelle Form der Intersubjektivität des Menschen zu bestimmen, die sowohl die Interaktion mit anderen Menschen umfasst wie auch sein kulturelles Erbe, mit dem er generationsübergreifend umgeht, sich auseinandersetzt, es adaptiert oder verwirft etc. Kant zu unterstellen, weil er vom Subjekt ausgeht, weil er Subjektivität als grundlegend und universell bestimmt, er hätte sich unversehens in die Zirkularität eines Selbstbezugs verloren, missversteht so einiges am „Königsberger Philosophen“. Gleichwohl, auch wir wissen, dass die Künste kaum mehr Zeugenschaft abgeben für dieses wahrlich visionäre subjektive Allgemeine. Nicht, weil sie die Ästhetik des Hässlichen genauso gut beherrschen mittlerweile wie einst die Idee des Schönen in platonischer Hinsicht, nicht, weil sie mittlerweile für ganze Perioden ihres Schaffens mehr einer bestimmenden denn einer reflektierenden Urteilskraft folgten und politische, soziale, kulturkritische Botschaften verkündeten oder einfach nur wachrütteln oder provozieren wollten, damit das kulturelle Geschehen nicht in Langeweile und in wiederholender Beliebigkeit im Schlaf versinkt.

Denken wir beides zusammen: Kants Vermächtnis des subjektiven Allgemeinen und Platons philosophische Suche nach der Wirklichkeit der Ideen. Kants subjektives Allgemeine, also das, was unter seinen Begriff der Ästhetik fällt und eben dies meint, dass vom Menschen selbst ausgehend, wir sagen vom Dasein des Menschen ausgehend, die Idee eines Menschseins verwirklicht wird. Schauen wir uns an, was das subjektive Allgemeine gleichsam en miniature ist: die Erfahrung mit den Künsten, den zeitgenössischen wie den historisch vergangenen, also dem Anteil der Kultur, der durch die Künste überliefert und vorhanden ist. Auf der emotionalen Ebene kennen wir die Empathie im kleinsten, intersubjektiven Raum wie das, was Freud den Eros nannte. Die Literatur kennt ein ganzes Ensemble an Emotionen, die vom Menschen ausgehen, aber die Menschheit als ganze angehen, angefangen von der antiken griechischen Tragödie bis hin zur zeitgenössischen Literatur. Müssen wir eigens noch die Musik, die Malerei, den Tanz aufrufen? Vergessen wir nicht, dass Platons Ideen-Kosmos bis heute existiert und Platon uns vielleicht das erste und reichhaltigste Vermächtnis hinterlassen hat, die Suche nach dem subjektiven Allgemeinen nicht nachzulassen. Im Gegenteil, mehr denn je, streben Menschen in Millionen-Zahl nach Freiheit, begehren auf gegen Tyrannis und alle anderen Formen der Unterdrückung; nicht unklug von Kant, der Vernunft das Begehrungsvermögen zu unterlegen, denn dies ist das antike Hypokeimenon (Band I. Kap.1: Wahrheit und Sein bei Platon), das Zugrundeliegende der Freiheit, wie wir auch in Band VI. ausführlich dargelegt haben.

Halten wir bis hierhin fest: Kant unterscheidet im Urteilsvermögen eine bestimmende und eine reflektierende Form, wobei die reflektierende sich wiederum unterscheidet von einer verstandes- oder wissenschaftlichen Form des Urteils. Behalten wir auch, das bei Kant die Reflektion also nicht per se eine wissenschaftliche meint, dass reflektierendes Denken nicht synonym ist oder eng konnotiert mit Nachdenken, mit Begründen, Überprüfen, Standardisieren und Übereinstimmen, wie wir dies als den Zweck wissenschaftlichen Nachdenkens kennen. So reflektieren wir heute fast überwiegend alles, was mit Kunst zu tun hat, und so ist es falsch. Das vergisst den sogenannten Kunstgenuss, das Kunsterlebnis, welche weit vor der Erkenntnis der individuellen lebensgeschichtlichen oder der historischen, also kulturellen Zusammenhänge passieren. Die Frage: was ist Kunst? war immer schon verdächtig, erklären zu wollen, was man nicht erklären muss und was eine besondere Gemütslage erfordert, die man eher als literarische oder poetische als als wissenschaftlich Gestimmtheit bezeichnen würde. Nun ist aber das „Geschmacksurteil“ – ein mittlerweile schlechter Ausdruck, da überzeichnet und negativ konnotiert mit Banausentum für ästhetische Urteile – nicht ganz ohne Erkenntnis. Kant brachte das „Genie“ ins Spiel und meinte keinen bestimmten Menschen, sondern eine „Naturbegabung“, die aber nicht jeder hat. Mit dem Genie kam die Ästhetik gewissermaßen vom gedanklichen Weg ab, also folgen wir diesem Gedanken auch nicht weiter, zumal es uns ja um Urteile geht.

Halten wir weiterhin fest, dass Kant wenig davon gehalten hätte, die Kunst mit einem ‚freien Spiel der Vorstellungskräfte‘ zusammenzubringen, wie dies allerorts heute geschieht und unter der Vorstellung vom Menschen als Künstler und seinem unerschöpflichen kreativen Potenzial  firmiert; warum ist dann der Mensch so ein lausiger Künstler, wenn er Kunst schafft oder darüber spricht? Warum schaffen es nur wenige zu einer Kunst, die übereinstimmend von vielen Menschen auch als Kunst bezeichnet wird? Kunst ist nicht ohne „Techne“ (Band I. Kap. 3), also ohne ein spezifisches Können, sie gelingt auch nicht ohne eine Zweckmäßigkeit, wie Kant das beschreibt. Und die Zwecke der Kunst, die aus dem Ganzen unserer Kultur, unserer Geschichte wie auch unseres Daseins kommen und auf das Ganze gerichtet sind, insofern die Künste die Idee zum Zweck hat. Die Idee oder der Zweck im ästhetischen Urteil bei Kant sind somit vollkommen wesensverschieden von wissenschaftlichen Objekten, die der Verstand mit wissenschaftlichen Mitteln, mit wissenschaftlichen Denkprozessen untersucht und diese Untersuchungen, diese Betrachtungen allgemein verfügbar, überprüfbar und falsifizierbar macht und ein Urteil über diese wissenschaftlich Betrachtung anstrebt, welches in einer Übereinstimmung der Wissenschaft (auf Zeit) finalisiert wird.

Kants Ästhetik hinterlässt uns eine Rückbesinnung auf das, was Wissenschaft nicht zu erfassen vermag, was nicht Gegenstand von Wissenschaft und deren spezifischen Umgangsformen mit der Welt sein kann. Wir haben in Band VI. jene Art des Denken mit dem Begriff der Intuition zu fassen versucht, als die Intuition ein Leben lang große Dienste erweist, wenn es darum geht, auf unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf ein, auf Reflexion beruhendes Erkennen bzw. Erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs Urteile und Entscheidungen zu treffen (wie wir dies am Beispiel unseres Jungen aus Band VI. ausführlich dargelegt haben). Ästhetische Prozesse, das kennen wir seit Jahrtausenden, lassen uns Ideen, Sachverhalte vorstellen, geradewegs solche, die sinnlich nicht erfahrbar sind. Lassen innere Bilder von fremden Welten, von der Zukunft wie der Vergangenheit vorstellen, selbst Ewigkeit bebildern und beschreiben. Wir assoziieren Bilder und Worte zu inneren Dialogen und Narrativen, wir sind bewegt von musikalischen Werken, vom Rhythmus der Trommeln hinfort getragen in eine andere Zeit. Was streiten wir nur über Ahnungen und Eingebungen, aber so daran zu zweifeln, dass beide endgültig als unbrauchbar, als nicht-existent betrachtet werden müssen, so weit ist es auch bislang nicht gekommen; viel von wunderbarer Literatur wäre vergessen.

Der ästhetische Raum, das Feld der Künste, ist nicht der Raum, in dem Notwendigkeiten und Kausalitäten herrschen, hier herrscht Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen wie Bloch das formulierte (Band I. Kap. 4 u. 5), hier ist der Raum der Möglichkeiten, auch der, der die Wirklichkeit der Möglichkeiten nicht nur vorstellbar werden lässt, sondern auch einfordert. Was wär die Idee der Freiheit, ohne deren Wirklichkeit, wenn gleich auch die Wirklichkeit nicht an die Idee selbst heranreicht. Ideen sind absolut, das ist ihr ästhetischer Zweck auch, nämlich absolut zu sein und die Künste bringen sie uns nahe, lassen sie uns vorstellbar, manche erlebbar werden. Oder ist das Begehren nach Freiheit, der Drang, die Realität zu überschreiten, sind Sehnsucht und Hoffnung nicht Antriebskräfte, größte Grausamkeiten und Ausweglosigkeiten, ja selbst den Tod in der Kunst zu überwinden? Ästhetik also ist nichts rein Formales, beschäftigt sich nicht mit Formen, sondern mit ganz handfesten Dingen. Deshalb ist auch die Zweckmäßigkeit bei Kant im ästhetischen Urteil keine rein formale Zweckmäßigkeit; die wäre es auch kaum Wert, erwähnt zu werden. So sagt es Kant selbst: „Das Bewusstsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts, bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selbst, weil es ein Bestimmungsgrund der Tätigkeit des Subjekts in Ansehung der Belebung der Erkenntniskräfte desselben, also eine innere Kausalität (welche zweckmäßig ist) in Ansehung der Erkenntnis überhaupt, aber ohne auf eine bestimmte Erkenntnis eingeschränkt zu sein, mithin eine bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung in einem Urteil enthält.“ (KdU, 137 f.) Nicht immer gelingt die Formulierung eines großen Gedankens philosophisch in angemessener, in adäquater Form. Die Lust im Spiele der Erkenntniskräfte als formale Zweckmäßigkeit zu umschreiben gehört gewiss dazu. Wir kennen das sowohl als Neugier, die unseres Erachtens auch den Antrieb für die Wissenschaften abgibt. Wissensdrang, „Trial and Error“, das Austesten von Ideen und Vorstellungen, was Kant als Form von Zweckmäßigkeit erkennt, ohne dass bereits ein klar formulierter Zweck, eine gerichtete Bestimmung des Denkens und des Handelns vorliegen müssen, das können wir als inneren Kern des „Geschmacks- bzw. des ästhetischen Urteils mitnehmen. Und eine Form des Denkens, die reflektierende Urteilskraft, die eine spezifische Form der Reflexion umfasst. Diese Spezifik unterscheidet sich klar von einer bestimmenden Urteilskraft, die sich, um nun wieder zurückzukommen auf unser eigentliches Thema, die verschiedenen Formen von Urteilen und deren Anwendungen, auf formale Grundlagen bezieht. Solche formalen Grundlagen sind, wie gesagt, auf dem Feld der Rechtsprechung die geltenden Gesetze wie auf anderen Feldern Normen, Übereinkünfte, Verträge, verbindliche Zusagen und Absprachen usw. dies sind.

 

[1] Wir finden den Kontext nicht bei Kahnemann et. Al. (Noise, 2021), die der Gerechtigkeitsproblematik durch strikte Reduktion von „Bias und Noise“ – also strukturellen und zufälligen Fehlurteilsgründen – beikommen wollen. Wir finden auch nicht den angemessenen Kontext bei Heidegger in Sein und Zeit, der dem Problem auf fundamental-ontologische Weise beikommen will, was aber noch hinter Kant zurückfällt.

[2] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 291, Analytik der ästhetischen Urteilskraft, § 8 Die Allgemeinheit des Wohlgefallens wird in einem Geschmacksurteile nur als subjektiv vorgestellt. Werke in sechs Bänden, Band 5, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983

[3] ebenda