Aus Kapitel 1: Vor dem Kampf

Das Gleichgewicht der Kräfte

Wir erinnern uns, die sogenannte Emanzipationsbewegung der Sechziger-/Siebziger Jahre kannte keine Berechnungen. Es gab vereinzelt Stimmen, die davon ausgingen, dass, kommen die Frauen aus ihren Küchen und Kinderzimmern heraus in die Welt von Arbeit und Kapital, den Männern schnell die Beschäftigung ausgehen wird; weit gefehlt, wie wir heute wissen. Heute wird da schon eher gerechnet: wie viele Frauen braucht die Bundeswehr, damit diese ihren Verteidigungsauftrag auch in Zukunft erfüllen kann? In der Arbeitswelt, besonders bei den heilenden und pflegenden Berufen wird heute mehr gerechnet, allein in den obersten Konzernetagen herrscht noch der Diskurs „ungedeckter“ Verteilungskämpfe vor. Man kann ja beileibe nicht mehr sagen, Fragen könnten diese Art von Jobs nicht, zu viele Belege gibt es dagegen, zu wenige, wirkliche Berechnungen möglicher Schäden durch Frauen in Führungsetagen.
Auch die Ideologie des Kindeswohls durch direkte Mutterliebe bröckelt, zumindest statistisch nimmt die Annahme von Kindererziehungszeiten durch Männer ab. Frauen werden Regierungschefinnen und Leiterinnen großer, privatwirtschaftlicher und politischer Organisationen, sitzen in Vorständen von Parteien, was man noch vor nicht wenigen Jahrzehnten für unmöglich hielt. Gleichwohl heute ein massiver Rückfall in alte patriarchale Denkmuster und geschlechterspezifische Lebensentwürfe zu verzeichnen ist, sind doch die Transformationsprozesse vom Patriarchat und aus soziokultureller Segregation unübersehbar; nicht alles wurde vom Revisionismus des neuen Jahrtausend recodiert.

Anders sieht es aus, wenden wir uns der sogenannten Ökobewegung zu. Sie hat einige Stufen epistemologischer Entwicklung hinter sich. Angefangen, jedenfalls soweit wir zurücksehen können, bei den vorsokratischen Naturphilosophen über Aristoteles, die Romantik, das Industriezeitalter bis heute zur politischen Ökologie. Wir sehen, allein aus den Stufen des Bewusstseinswandel im Denken können wir nur mäßig den Prozess abbilden, der den Umgang mit der Natur bis heute sichtbar widerspiegelt und erklärt. Trotzdem, wir wagen einen kleinen Einblick in die Episteme und haben dabei die Hoffnung, dass sich dabei auch etwas erhellt, was sonst im Dunkeln geblieben wäre.

Wir sind auf den antiken griechischen Begriff der Natur bereits vorne eingegangen und haben den entlastenden Charakter der Trennung von Mensch und Natur sowie die Teleologie natürlicher Prozesse bereits herausgearbeitet. Hier haben die jahrtausendealten anthropozentrischen Vorstellungen ihren Anfang gefunden und haben sich zum Tympanon des modernen Menschen entwickelt. Über das Mittelalter mit Adel und Klerus als Verwirklichung einer natürlichen Ordnung[1] im menschlichen Dasein bis hin zu Charles Darwins „Survival for the fittest“, was nachhaltig missverstanden und als Kampf ums Dasein ausgelegt wird. Anpassung an seine Lebensgrundlagen war bereits ausreichend, um eine neue Zeit, eine Epoché – nach Husserl – im anthropozentrischen Bewusstsein der Menschen auszurufen. Gelingt Anpassung noch als anthropogene Fähigkeit, reichte diese bei weitem nicht mehr aus in der schon angelaufenen Zeit der Industrialisierung. Damit wird oft Darwin verwechselt, er hätte sozusagen im Kampf um das Dasein der Regeln der industriellen Zeit entsprochen; das stimmt nicht. Erst mit der Ausbreitung der Industrialisierung wird der Daseinskampf zur Regel und alltäglichen Normalität. Denn die normalen Bedingungen im Industriezeitalter erst erweisen sich als jene Kräfteverhältnisse, unter denen die Fähigsten, die Produktivsten und die Effizientesten sich am besten entfalten können und vom Prinzip des Wettbewerbs um Arbeit, von der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt am meisten profitieren. Erst dadurch wird das Lebensprinzip zu einem Prinzip der begrenzten Lebenschancen und zu einem selektiven Lebensprinzip, in dem größtmögliche Anpassung zum größtmöglichen Nachteil werden kann.

Anpassung hat sich seit dem 19. Jahrhundert als kleinster gemeinsamer Nenner mit dem Wettbewerb um die besten Löhne und Gehälter erwiesen und wir erkennen schnell, dass in der damaligen Zeit weder vom Arbeitskampf noch von einem Arbeiterbewusstsein die Rede war, die Rede sein konnte. Die Rede jener Jahre beinhaltete Verleugnung und projektive Identifizieren und beide Mechanismen behaupten sich bis heute in Teilen der Erwerbstätigen hartnäckig und nachhaltig. Essen war im 19. Jahrhundert eine Kleinstadt, kleiner noch als Remscheid, die von der Handwerksindustrie der Erzeugung von Scheren und anderen Feinwerkzeugen lebte.
Dann kam Krupp und mit dem Unternehmen wuchs die Einwohnerzahl von Essen binnen weniger als fünfzig Jahre auf fast 100.000 Einwohner. Alle die kamen, kamen mit dem Versprechen, mehr zu verdienen als in ihrer Heimat und so war es auch meistens. Sie lebten mit dem Bewusstsein, hier bei Krupp oder in einer der zahlreichen Kohleminen eine, wenn nicht die für sie geeignete Arbeit gefunden zu haben und diese projektive Identifikation ist bald zum Stolz der Kruppianer und der Bergleute geworden und nicht nur das „Steigerlied“ singt heute noch davon. Die Menschen nahmen Teil an einem extrem selektiven Lebensprinzip, ohne davon zu wissen, vor allem nicht, wie dies zu ändern sei. Jahrzehnte war dieses Prinzip wie in Stein gemeißelt oder in Eisen gegossen, bis erste Gewerkschaftsvereine sich gegründet haben und Parteien sich zu Interessenvertretern der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet institutionalisierten.

Wohlstand und Wachstum sind im Wettbewerbsumfeld des Industriezeitalters im Kern selektiv und wirken sich soziokulturell aus. Es formen sich soziale Ungleichheiten und mit diesen Ungleichheiten nehmen vorderhand auch die Lebenschancen nach Maßgabe sozialer Schichten zu bzw. ab. Das Gleichgewicht der Kräfte in Anpassungsordnungen verändert sich zu Ungleichgewichten in Wettbewerbsordnungen. Waren die mittelalterlichen Ordnungssysteme zwar hochgradig selektiv zwischen Adel, Klerus, Ständen und Bauernschaft, so waren sie innerhalb einer „Standesordnung“ wenig dynamisch. Das änderte sich im Industriezeitalter so, dass in allen Gruppen mehr oder weniger Fluktuation möglich wurde. Begrenzt zwar, weil anfangs noch ohne arbeitsmarkt- und sozialpolitische Einflussfaktoren, war doch schnell innerhalb der Industrieregionen und auch der Unternehmen Auf- und Abstieg durch Wettbewerb möglich, zumal eine schnell wachsende Differenzierung innerhalb der Produktion und der Marktausbreitung neue Anforderungen, neue Arbeits- und Fähigkeitsprofile hervorbrachte.

[1] Franz Rieder: Philosophie des menschlichen Daseins. Band 6. S. 231