Der Wille hat es nicht leicht in der Welt

Viel ist über Schopenhauer geschrieben worden, kaum etwas von seinen Analogien zwischen Denken und Welt hat die teils vehemente Kritik überlebt. Aber schauen wir doch unaufgeregt noch einmal auf seinen Denkentwurf, der ja zugleich ein Entwurf des Denkens selbst ist, dann werden wir feststellen, dass, ausgehend von einem komplementären Zusammenspiel von Willen und Vorstellung durchaus ein beachtenswerter Weg zum Verständnis der Welt und des Selbst beschritten worden ist. Lösen wir uns etwas vom Wortlaut seines Hauptwerkes und betrachten es aus der Distanz eines Rückblicks, der eben jenen Vorteil hat, die Dinge in einem neuen Licht zu betrachten und der nicht jeder Kritik im Einzelnen mehr zu folgen braucht. Mit Schopenhauer betreten wir erstmals das Terrain eines wirklich freien, autonomen Daseins. Eines Daseins, welches sich frei aus seinen Vorstellungen heraus entwirft und zugleich für seine Vorstellungen und willentlichen Handlungen Verantwortung hat. Keine Moral, kein Sittengesetz, keine Vorgaben ergehen an diesen Kern des Cogito, nun als freier Wille gedacht, hinter dem es sich sozusagen verstecken könnte.

Wie auch immer, ob in erkenntnistheoretischen Analogieketten, in der Art von theologischen, ethischen oder ästhetischen Zusammenhängen denkend, der Mensch ist letztlich frei, solche Vorstellungen neu zu verbinden, umzuordnen, zu zerbrechen und nach seinem Willen zu verwirklichen. Nichts hält dem Willen stand, nichts kann verhindern, moralische, ethische, ästhetische Urteile zu zertrümmern, im Gegenteil. So nicht zu handeln liegt auch in der Eigenverantwortung eines freien Willens, es zu belassen bei den assoziativen Vorstellungen, die z.B. Rassismus und Sexismus arrangieren. Diese Vorstellungsarrangements sind ja nichts anderes als Übereinstimmungen nach dem Prinzip der Analogie, nach Ähnlichkeitsverhältnissen, die wie ein unsichtbares Netz über die Wahrnehmungen gespannt sind und z.B. alles in Form einer Nicht-Identität von äußerlichen Merkmalen, etwas die Hautfarbe, die Herkunft usw. beurteilt. Was ist so falsch daran, hier von einem Erkenntnisgrund zu sprechen und dessen Folgen? Wir lassen einfach die holprigen, teils klimmzugartigen Transformationen des Kausalprinzips in die Sphäre der Vernunft und die teils unglücklichen, von altindischen Einflüssen geprägten Bestimmungen des Individuums, dessen Seele wie die der Weltseele, die allesamt und zum Glück stark an seine Rezeption der Schriften von Platon erinnern, beiseite, dann behalten wir aber ein erkenntnistheoretisches Geschenk, womit wir auch heute nicht so verschwenderisch umgehen sollten.

Schopenhauer hatte begeisterte Anhänger, damit stand er nicht allein. Er unternahm auch einiges, um sich in der Philosophie leidlich unbeliebt zu machen, besonders Fichte und Hegel hatten es ihm angetan. Die Welt als Wille und Vorstellung lebte auf und weiter auf dem Feld der Kunst, besonders deutlich erkennbar in den musikalischen Dramen ‚Tristan und Isolde‘ und der Tetralogie ‚Der Ring des Nibelungen.‘, beide von Richard Wagner. Einstein, so wird gelegentlich verwiesen, sei auf die Philosophie über Schopenhauer aufmerksam geworden, insofern erstmals dem Rätsel von Raum und Zeit hier auf die Spur gekommen sei. Die Nähe zu Einstein beschreibt der Abschnitt über den Satz vom Grunde des Seins, also nicht über das Kausalprinzip der reellen, natürlichen Gegenstände, sondern über das ureigenste Grundthema der Philosophie wie der Physik: „… wie Vergangenheit und Zukunft (abgesehen von den Folgen ihres Inhalts) so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden ist; ebenso werden wir dieselbe Nichtigkeit auch in allen anderen Gestalten des Satzes vom Grunde wiedererkennen und einsehen, daß, wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, alles also, was aus Ursache oder Motiven hervorgeht, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein anderes, ihm gleichartiges, d. h. wieder nur ebenso bestehendes ist.“ Und gleichsam nebenbei hat Schopenhauer damit auch die Vorstellung von der Zeit als Emulation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, den drei seltsamen Ekstasen der antiken bis modernen Erkenntnistheorie zur Nichtigkeit erklärt.

Wittgenstein hat Schopenhauers sprachphilosophische Ansätze und ganz besonders seine Ausführungen zu Sprachspielen geschätzt, aber mehr noch hat die Psychologie respektive die Psychoanalyse von Beginn an am Erbe Schopenhauers verdient; ganz besonders C. G. Jung, der die Beziehung zur fernöstlichen Philosophie geradezu aufgesogen hat. Natürlich trat auch Siegmund Freud in diese Reihe als er schrieb: „Es sind namhafte Philosophen als Vorgänger anzuführen, vor allem der grosse Denker Schopenhauer, dessen unbewusster ‚Wille‘ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.“ Was für eine Fehleinschätzung, den Willen des philosophischen Einzelgängers mit dem Unbewussten, mit den seelischen Trieben gleichzusetzen. Am Willen ist nichts wie an den Trieben, diese nennen wir unwillkürlich und alles, was in der Folge geschieht, jene Handlungen willentlich, die ein Mensch bewusst ausübt oder bewirkt. Wir folgen damit nicht der Philosophie Schopenhauers, die den Primat des Willens generell postuliert. Aber in den Handlungen der Menschen ist immer ein Wille, so sie als bewusste Handlungen erkennbar sind, erkennbar im Sinne der Selbstreflexion, wenn man sich fragt, habe ich das gewollt, oder habe ich das nicht gewollt. Selbst wenn ich etwas nicht gewollt habe, ist es bewusst und revozierbar und auch generell veränderbar, denn jeder kann seine bewussten Motivationen dahingehend beeinflussen, dass sie anders oder gar nicht mehr zur Wirkung kommen. Das ist bei Trieben nicht der Fall, denn diese wirken unwillkürlich. Ob ich atme, Hunger empfinde, ob mein Herz schlägt oder der Atem nachts mehrmals aussetzt wie bei einer Schlafapnoe, ob wir träumen oder unwillkürlich Stress empfingen in posttraumatischen Zuständen usw.

Was Schopenhauer das Gesetz der Kausalität beim Willen nennt, ist seine intelligible Beziehung zwischen einer motivierenden Vorstellung, die als ein Erkenntnisgrund Ursache ist und in Handlungen hineinwirkt, deren Folgen zwar nicht immer absehbar sind, deren Ausgangspunkt aber stets ein Erkenntnisgrund ist, der, selbst wenn eine Willensbekundung in einer Gruppe besteht, stets aber individuell auf meine Willensentscheidung zurückführbar ist. Das ist auch der Sinn der Auseinandersetzung von Schopenhauer mit der Lehre von Augustinus, die in dem Satz gipfelte: : „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ Jeglichem Handeln liegt immer und stets der Wille, das heißt das Wollen zu Grunde, was an Nietzsches berühmten Satz erinnert: „Der Mensch will lieber das Nichts wollen, als nicht wollen.“ Der Wille, verstanden nun als Wollen, ist eine Aktivität, die einen Grund, einen hinreichenden Grund hat und eine Folge oder Wirkung und beide, der Grund wie die Folgen in einem bewussten Cogito verankert sind, also bewusst sind oder bewusst gemacht werden können qua Selbstreflexion. Die Selbstverantwortung im Wollen gründet einmal in der empirischen Welt, insofern als das Wollen auf die Welt einwirkt, worin aber auch ein ideeller Part assoziiert ist, insofern man seine Vorstellungen von der Welt verändern kann.

Betrachten wir das ganz kurz etwas detaillierter. Man kann eine ganze Reihe verschiedener Vorstellungen zum Thema Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau erwerben. Alle Vorstellungen sind Analogieketten, die jeweils mit Mann und Frau assoziieren. Wir kennen alle das Frauenbild der Hausfrau aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, dem ein Männerbild des arbeitenden und Mann und Frau mit Geld versorgenden Mannes assoziiert war. Weitet man die Analogie auf das Familienbild aus, dann arbeitete die Frau am Herd und am Laufstall, dann am Spielplatz und am Tisch, wo die Hausaufgaben erledigt wurden, für den Kindergeburtstag usw. alles unentgeltlich, sie war abhängig vom Ehegatten bis zum Tode, da sie keine Rententitel ansammeln konnte und bis in die 70er Jahre durfte sie ohne Zustimmung des Mannes keine Arbeit übernehmen und also auch kein Eigentum akkumulieren und wenn doch, dann regelte das Steuergesetz über das Ehegattensplitting, das Frauen höchstens in Teilzeit arbeiteten, da sonst der Lohnerwerb der Frau über die Steuer wieder nichtig wurde.

Die Story resp. das Narrativ wie man heute sagt, könnte länger sein, aber wir haben genug, um zu schreiben: diese Analogiekette mit ihren tausendendfachen Assoziationen, die sich in einem Frauenbild und dessen Wirklichkeit niedergeschlagen haben – übrigens auch in dem gruseligen Frauenbild von Schopenhauer selbst – können bewusst gemacht und willentlich verändert werden. Das ist der Geltungsbereich der Willensfreiheit bei Schopenhauer und in Bezug zu willentlichem Handeln kann natürlich auch vom Primat des Willen oder Wollen gesprochen werden; dann kommen wir aber sehr schnell an die Grenze zur Tautologie, wenn im Willen der Wille vorherrscht. Also lassen wir das mit dem Primat des Wollens, zumal es wesentlich wichtiger ist, uns auf die Voraussetzungen des Wollens und dessen Folgen zu fokussieren. Was Schopenhauer dem Willen beigegeben hat, macht ihn heute so interessant für Themen wie Entscheidungsfindung, Kooperation, Multilateralität und eine andere Themen mehr, auf die wir noch eingehen werden. Fassen wir den Geltungsbereich des Willens als Bereich bewusster Entscheidungen und Eigenverantwortung und nehmen beide in den Blick, dann spricht Schopenhauer zurecht über eine intelligible Willensfreiheit in einer empirischen Welt, zu der auch der Erkenntnisgrund oder das Handlungsmotiv als bewusstes oder als potenziell bewusste Motivation einer Handlung gehören. Dann ist der Erkenntnisgrund auch ein Teil der empirischen Welt, also bereits eine vom Menschen ausgehende Erkenntnis einerseits, oder andererseits ein rein geistiger Erkenntnisgrund. So ordnet Schopenhauer dem Willen auch zwei intellektuelle Vorgänge zu, den Verstand und die Vernunft.

Mit Verstand bezeichnet er das Urteil über empirisch Wahrgenommenes, was in einer Art empirischer Beziehung zueinandersteht, etwa die unterschiedlichen Möglichkeiten, ein Ziel zu erreichen, durch verschiedene Geschwindigkeiten, Weglängen und Risiken wie wir das tagtäglich beurteilen und danach handeln oder uns der Hilfe eines digitalen Navigationssystems dafür bedienen. Hier erinnert Schopenhauer an den Begriff der Dianoiologie , die aus der Wahrnehmung, aus Beobachten und Urteilen besteht, später sich im wissenschaftlichen Diskurs aus Wahrnehmung, Beobachtung und Experiment bzw. Hypothesenbildung differenziert. Wenn Wissenschaft also nichts anderes ist, als die nach Regeln systematische Kombination wissenschaftsförmig geordneter Fragen, Schlüsse und Urteile, dann befinden wir uns auf dem Feld der Dianoiologie in einer Form der vor-wissenschaftlichen Urteilsfindung. Hier werden also nicht einfach nur spontan und willkürlich Wahrnehmungen und Beobachtungen geordnet, sondern als wahrheitsfähige Repräsentation vorgestellt gleichsam wie Platon die Dianoia bestimmte als eine Art Zwischenstatus zwischen bloßer individueller Meinung und wahrer Vernunfteinsicht.

Im Übergang zur Vernunft wird auch der Wille aus der Erfahrung von Handeln und Verantwortung prinzipiell vernünftig, da ja der Erkenntnisgrund des Handelns erst in seinen Folgen betrachtet werden kann, wenn er willentlich seinen Weg in die Praxis gefunden hat, denn nur dort trifft er auf Intersubjektivität und damit auf seine Übereinstimmung oder Ablehnung, manchmal auf Gleichgültigkeit. Wir trennen also nicht wie etwa Aristoteles zwischen „dianoetischen Tugenden“ und praktischen Tugenden, zwischen nicht-rational und rational strebenden Vermögen, wenngleich auch in dieser Trennung schon das Wollen als verbindendes Element sichtbar wird. Das ist umso wichtiger und von ganz entscheidender Bedeutung, wenn man zu einer praktischen Philosophie kommen will. Denn ohne den Willen und die daraus folgende Verantwortung ist ein Weg in die praktische Philosophie nicht nur versperrt, die Philosophie bleibt unbeteiligt an den wichtigen Prozessen, wenn sie nur einen Diskurs über die Erkenntnisgründe anbietet, ohne sich daran zu beteiligen, welche Möglichkeiten der willentlichen Umsetzung in Handlungen sich daraus ergeben.

Zwischen Meinung und wahrer Vernunfteinsicht liegt die komplette Welt als Wille und Vorstellung. Wenn in der Wirtschaft „best practise“ angestrebt wird, dann denkt die Wirtschaft nicht in Identitäten, sondern in Analogieketten. Wenn benchmark Standards als Erkenntnis- und Entscheidungsgrundlagen herangezogen werden, dann ist dies ein Ähnlichkeitsprinzip, welches auch ähnlich ist den best Practises. Unsere Gesetze sind systematisierte Fall-Analogien, wie die Werke des architectus in der Antike Analogien, Muster der Idee des Schönen waren. Wir arbeiten mit und denken in wahrheitsfähigen Repräsentation, in bestmöglichen, möglichst gerechten, möglichst erfolgreichen, möglichst guten Repräsentation unserer Handlungsgründe; heute nennen wir das Zielvorstellungen. Modernes Denken im Alltag repräsentiert deshalb mehr die antike platonische Dianoiologie, als die aristotelische Alethiologie (siehe Wahrheitsbegriff als „Aletheia“, Band I. Kap. 1: Wahrheit und Sein…)

Betrachten wir den Alltag als in und auf die Empirie angewandtes Denken, dann kommen wir ohne den Willen und die Verantwortung nicht aus. Der Wille ist dann die Schnittstelle zwischen Denken und Handeln und nur so kann er auch die Grundlage für eine Ethik, wie etwa die Pflichtenethik, abgeben. Die Dianologie ist gegründet in Analogien und dem Willen als Entscheidungselement des Wahrscheinlichen. Der Mensch handelt, wenn er den Erkenntnisgrund seiner Entscheidung für wahrscheinlich richtig, erfolgreich, gut, angemessen usw. erachtet. Würde er auf Sicherheit, auf Gewissheit und Identität, also Übereinstimmung von Erkenntnisgrund und Folgen zielen, wäre er Wissenschaftler. Denn die moderne Wissenschaft arbeitet zwar heute mehr denn je mit Ähnlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber anders als im Alltag, systematisiert die moderne Wissenschaft Ähnlichkeiten und Wahrscheinlichkeit aufwendig in lange Ketten der Raum-Zeit-Beziehung, ohne die eine weitgehende Übereinstimmung von schwankender Gewissheit und bruchstückhafter Wirklichkeit nicht möglich ist. Die Minimalisierung der Differenzen zwischen intellectus und res haftet zwangsläufig dann auch in der Infinitesimalrechnung und ihren geistigen Derivaten.

Überall und allenthalben erfahren wir von der Relativität des Alltags. Dahinter steht die Ontologie als Denkform der Identitäten. Ihr geht es nicht um Ähnlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die sie rigoros einem unintellektuellen Denken, dem Denken des „Man“ und „Jedermann“ zuweist, ja geradezu als deren Ausweis und (Schein-) Identität betrachtet. Ontologie denkt in Entitäten, von denen Man und Jedermann nur zwei sind. Man und Jedermann sind also zwei Typen von Entitäten und man müsste sie konsequenterweise zur Tafel der Kategorien hinzufügen und unter Mensch einordnen. Denn Ontologien behaupten, dass nicht die Ähnlichkeitsbeziehungen, sondern systematische, strukturelle Beziehungen der Entitäten untereinander existieren, und dies sowohl bei konkreten, empirischen Sachverhalten wie bei abstrakten, nicht durch sprachliche und schriftliche Äußerungen zugänglichen Sachverhalten; wir unterscheiden damit nicht-empirisch und abstrakt auf der Basis einer einfachen, sinnlichen Zugänglichkeit. Denn Vorstellungen sind als innere Sachverhalte sinnlich nicht zugänglich, aber in der Rede und in der Schrift sind sie dies durchaus, wir haben dies durch die gesamte Philosophie des Daseins an den verschiedensten Stellen dargelegt.

Ontologie betrachtet Gegenstände, Eigenschaften, Sachverhalte, Ereignisse, Prozesse, Logik, Ethik, Metaphysik in ihren strukturellen Beziehungen und trägt diese strukturellen Beziehung wie eine innere Schicht auf ein Dasein auf. Sie werden zu Auslegungstypen und Seinsweisen, die verschiedenen Menschen zugeordnet werden. Dann gibt es die Seinsweisen der Wissenschaften als Auslegungen des Seins, die Seinsweise der Allgemeinheit, des Menschseins als Man und Jedermann usw. und beide stehen nebeneinander, als wären sie von gleicher Art, einer Art der unterschiedlichen Verstellung der Wahrheit im Schein wissenschaftlicher oder gemeiner Erkenntnisse. So einfach aber ist es nicht und so leicht lässt sich der Wille auch nicht abwerten, bei Schopenhauer jedenfalls wehrt er sich erfolgreich dagegen.

Der Wille ist frei im Wollen. Nichts kann ihm vorschreiben, etwas anderes zu sein, als was er ist, nämlich willkürlich im Wollen. Was jemand will, wohin jemand will, welches Ziel jemand erreichen will, das ist dem Willen als Erkenntnisgrund des Handelns bereits immanent. Man kann den Willen nicht von außen negieren, man kann ihn brechen durch Sanktionen, man kann ihn stumm machen, aber nicht ausschalten. Auch kann niemand selbst seinen Willen ausschalten und doch ist er, wie gesagt, verschieden von einem Trieb. Im Willen strebt der Mensch, seine Vorstellungen in eine soziale Interaktion oder in eine kontemplative Manifestation zu verwandeln, in die Tat umzusetzen oder in künstlerischen Ausdrucksformen. Was wäre ein Tanz ohne Willen? Ein Gemälde, eine Musikkomposition, die Politik, die Philosophie ohne Willen?

Wir stehen einmal mehr vor dem Phänomen der Komplementarität, dass der Wille eben keine „Sache“ ist, die dem intellectus, dem Verstand gegenüber steht. Wären Verstand und Wille in eine Übereinkunft zu bringen, als Convenientia in eine Denkfigur wie z.B. die ontisch-ontologische Differenz zu bringen, dann wäre auch so der Wille als Wille nicht verstanden, sondern seine Manifestationen würden ontologisiert. Dem Willen aber ist ontologisch nicht beizukommen, denn nicht jede Bewegung im Tanz, im modernen Tanz, ist eine willkürliche Bewegung, nicht jede Note einer Komposition ist kalkuliert, nicht jedes Ergebnis eines Willensaktes ist intelligibel in den Willenshandlungen, also als zielgerichtetes, willensgesteuertes Handeln verständlich. Ach, wäre es schön, wenn dies so wäre, wenn man in der willentlichen Umsetzung von Zielen und Motiven in Resultate so einfach unterwegs wäre. Ein blöder Wille wäre unser treuer Begleiter und unser Handeln ein Behaviorismus. Aber so ist der Wille nicht, so ist allenfalls eine verkürzte Sicht darauf.

Die Psychologie sieht im Willen eine bewusste Entscheidung eines Individuums für eine bestimmte Richtung, also für zielgerichtetes Handeln und schlussfolgert richtig auf dieser Basisannahme, dass der Wille nichts anderes zur Äußerung in eine Handlung bringt, als eben jene kognitiv verarbeitete Motivation, der ein „Ich“ den Vorzug vor anderen Motivationen gegeben hat. Der Wille steht also wie ein Käufer im Supermarkt vor einem Regal, in dem Motivationen ausgelegt sind und wählt die für ihn günstigste oder geeignetste und das war’s dann. Die Soziologie sieht ganz im Tunnelblick ihres Erkenntnisgrundes gefangen im Willen einen, der auf Gemeinschaften hinzielt und einen, der auf Gesellschaften hinzielt und begründet aus beiden Willensformen das Primat des Willens gegenüber dem Verstand im Voluntarismus. Die Juristerei nun wiederum hat sui generis ihrer eigenen Sache einen ganzen Strauß an Willenstypen identifiziert, einen Rechtsfolgewillen wie einen Besitzwillen, einen Geschäftswillen und auch einen Willensmangel, wenn Wille und Erklärung nicht übereinstimmen. Dann gibt es auch einen bewussten und einen unbewussten Willensmangel sowie einen Willensvertreter, etwa ein Testament, als Ausdruck eines mutmaßlichen Willens. Überall die gleiche Systematik, hier ein Wille, da die möglichen oder tatsächlichen Folgen. Das macht Ontologie in welcher Systematik auch immer, sie versucht über Gleichheiten eine systemische Sicherheit im Schließen und Urteilen zu finden, aber so ist der Wille nicht.

Dem Willen sind Sicherheit und Gleichheit liebenswerte Nebeneffekte innerhalb sozialer Interaktion. Er bevorzugt aber Ähnlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten deshalb, weil er um seine Anpassungsfähigkeit und um seine Flexibilität weiß. Der Wille ist daher richtig verstanden, wenn man ihn als eine interaktive Kraft versteht, die sich in ständiger Rückkopplung mit der Welt entfaltet und sich im sozialen Raum kurzschließt. Was ist das für ein Wille, der in seinen Handlungen auf einen oder verschiedene Mitmenschen trifft, und völlig unflexibel auf deren Interaktion reagiert? Das nannte man früher Durchsetzungskraft und bezeichnete so Menschen mit starkem Willen oder heute mit einem ausgeprägten autoritären Charakter. Für den autoritären Charakter geht es immer um Sein oder Nichtsein, um alle Formen von Exklusion im Schließen und Urteilen. Sie tragen die Asymmetrien zwischen Ich und Anderem, zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Institutionen und Zivilgesellschaft in die Systematik der verschiedenen Lebensbereiche ein; so war das bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts. Alles stand in Konkurrenz zueinander, die Wahrheit mit der Unwahrheit, das Kapital mit der Arbeit, die Geschlechter-Identität mit der moralisch-sittlichen Verwerfung usw.

Die lexikalische Listung der Synonyme für Autorität summiert sich auf über fünfhundert Analogien in achtundzwanzig verschiedenen Analogieketten, gleichsam für jeden Lebensbereich mindestens eine. Sie systematisieren die verschiedenen Bedeutungen zu ganzen Gesellschafts- und Gemeinschaftsbereichen wie sie aus den vormodernen Epochen mit ihren Stände- bzw. Kastenordnungen, ihren Herrschaftsformen und politischen sowie religiösen Systemen in die Moderne hinübergenommen worden sind. Vieles von damals existiert also auch heute noch, vieles rudimentär, manches noch allgemein gültig. Über die generativen Bedeutungsanalogien der Macht haben wir gesprochen, sie organisieren Bereiche der Arbeit wie der Gemeinschaft in Assoziationen von Macht, Führung, Kontrolle, Stärke, Gewicht des Wortes oder der Entscheidung, Vermögen, Image, Autorität, Gültigkeit und Geltung, Achtung, Einwirkung und Willens- wie Durchsetzungskraft, Wertschätzung, Machtbereiche im öffentlichen wie im privaten Leben, Prestige und Wichtigkeit sowie vielfältige Formen der ökonomischen, rechtlichen und sozialen Beherrschung.

Zugleich aber erkennen wir in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fast überall in Europa und der Welt, wie sich diese Assoziationsketten und systemischen Analogien beginnen aufzulösen. Und es sind gerade diese Auflösungserscheinungen und in der Folge deren Neu- und Umkodierungen, die uns deutlich zeigen, dass selbst in Jahrhunderte alten demokratischen Verfassungen in der Wirklichkeit recht undemokratische Verhältnisse noch vorherrschten können. Die alten Bedeutungen von Herrschaft als Staatsmacht, als staatliche Führung, Kontrolle und Gewalt, als Obrigkeit und Willkür staatlicher Institutionen sind beileibe nicht ganz verschwunden, haben sich aber doch sichtbar verändert, vor allem durch den politischen Willen der Zivilgesellschaften. Es ist also der politische Wille, der sich in solchen Verhältnissen bestätigt oder zu Veränderungen führt, in dem also die Vorstellungen assoziiert sind, die sich rückkoppeln und zur Konformität wie zu Veränderungen bereit sind, was in politischen Wahlen sichtbar wird.

Wir können im Feld der sozialen Bedeutung eine Reihe verbundener Assoziationen erkennen, die das Ansehen einer Person auszeichnen, wie etwa die Stellung im Beruf, die berufliche und soziale Anerkennung über Besitz, Ruf, Ansehen, Image einer Person, den Grad ihrer Verehrung in den Medien, von Ruhm und seinen Auszeichnungen, medialem Glanz, im Respekt vor ihrer Leistung und deren Wertschätzung, selbst die Achtung aufgrund von Tugendhaftigkeit ist bei jungen Menschen heute wieder angestiegen. Und wer sonst, als der Wille bestätigt in seinen Einstellungen und den daraus folgenden Handlungen die normative Systematik wie auch deren Auslegung als überholt oder unangemessen? Ohne den Willen kann und wird es keine Philosophie der Praxis geben, weder der individuellen, noch der sozialen und schon gar nicht der politischen Praxis. Auf den Willen im Rahmen philosophischer Reflexionen zu verzichten bedeutet, sich allein im Feld der Hermeneutik bewegen zu wollen. Das ist legitim, zumal die Erkenntnisgründe sich für die Außenstehenden und auch für den Willensträger nicht an sich erschließen. Die überwiegend meisten Willenshandlungen und zahlreichen Rückkopplungserfahrungen im sozialen Raum geben die wirklichen Assoziationen, die sich in den verschiedenen Motivationen verbergen, nicht sofort frei.

Freie Willensentscheidungen können zwar als solche wahrgenommen werden, nicht aber deren wahre Herkunft. Die Ontologie des Willens konstruiert sehr gerne die Selbstillusion sinnkonstituierender Systeme, selbst noch im Bewusstsein, dass alle Wahrheit sich relativ auf ein Dasein oder auf einen Willensträger bezieht, wird allenthalben noch am Glauben festgehalten, es gäbe zeitüberdauernde, ewige Wahrheiten und Identitäten. Was eigentlich immer Konstruktion, was bestenfalls eine Form der Dekonstruktion ist und daher in der Zeit jeweils von Moment zu Moment verschieden ist, kann mühelos auf Vorhandenes als dauerhaft Beständiges bezogen werden. Dann belässt man es glücklich dabei, dass es dieses Vorhandene immer schon gegeben hat und es dies auch weiterhin geben wird und trägt es wie eine Monstranz vor sich her, ohne gewahr zu werden, dass allein ein Wille sich dagegen entschieden hat, nicht ein mangelndes Verständnis, es so zu belassen wie es war und wie es ist. Der Bogen ist überspannt und Geschichte bzw. die Episteme der Analogien dient der Orientierung, der imitatio veterum, als reaktualisierte Differenzierung, was wir besonders heute als Wertediskussion erleiden müssen; wir kommen darauf zurück. In eben dieser Welt der Ontologien, die sich anmaßen, die Grundstrukturen der Wirklichkeit als allgemeingültige Aussagen formulieren zu können und dabei im Strukturganzen des menschlichen Daseins ein für alle Menschen allgemeingültiges Werkzeug des Denkens bereitzustellen, welches erlaubt, die Welt in ihren Struktur- und Sinnzusammenhängen zu verstehen, hat es der Wille ‚zur Macht‘ nicht leicht. Verstehen wir diesen Willen zur Macht nicht als Mächtigkeit, sondern als Handlungsoption und damit als Wille, der seine Möglichkeiten sucht, weil er das, was ist, bestätigen und verändern kann will, dann wäre dem Willen wieder Tür und Tor geöffnet, jedenfalls einen Spalt breit.