Arte factum. Seite 20ff

Ulysses aber hatte nur noch Augen für Kyriaki. Welch’ schöner, geheimnisvoller Name und wie schön sie war, wie leicht und anmutig ihre Bewegungen. Sie ist sehr freundlich zu allen Gästen, dachte er, ohne jedoch ihre kleine, aber bestimmte Distanz zu den Gästen jemals ganz aufzugeben. Mehrmals schien sie seine konzentrierte Beobachtung ihrer Arbeit zu bemerken, wenn ihre Augen sich scheinbar zufällig trafen. Sie wich seinem Blick nicht aus, im Gegenteil, sie warf Ulysses ihrerseits einen kleinen freundlichen Blick zurück, der ihm wie eine stille, magische Bestätigung seines Interesses erschien. Manchmal verschwand sie in einem Raum hinter der Bar und wenn er sie für seine Begriffe jetzt vermeintlich länger nicht sah, drängte es Ulysses fast, hineinzugehen und nachzusehen, was mit ihr ist. Sie hatte ihr schönes, dichtes, schwarzes Haar zu einem Zopf zusammengeflochten, was ihrem Gesicht eine ganz besondere Note gab, zumal, da jüngere griechische Frauen dies wohl zu jener Zeit als gänzlich unmodern, unchick, ja als very old fashioned, wie man in England sagt, abgetan hätten.

Er aber empfand ihr Aussehen ganz und gar nicht old fashioned. Vielmehr war er von dieser mutigen, selbstbewussten Verletzung des modernen ästhetischen Klischees weiblicher Schönheit fasziniert. Und von Klischees und der Bedeutung ihrer Verletzungen verstand er ja was. Immerhin war er als Kunsthändler, als einer der bedeutendsten Kunsthändler in Griechenland und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus, so sinnierte er, mit den Darstellungen der weiblichen Schönheit in der Kunst durch alle Genres und Richtungen einigermaßen vertraut. Es war auch ihre Kleidung, bemerkte er jetzt, die nicht präzise dem modischen Geschmack der Saison entsprach. Die Farben, so viel wusste er gerade noch, stimmten mit denen der aktuellen Mode überein, aber sonst war ihm, ohne, dass er das hätte genau differenzieren und benennen können, als hätte sie ein ganz individuelles Spiel mit den modischen Vorgaben gespielt.
Ihm war nur klar in diesem Moment, dass sie ihn sinnlich und auch erotisch äußerst anzog und unbewusst zeigte er das wohl auch, denn sie hinterlegte ihre Blicke, die sie ihm vermehrt zusandte, mit vorsichtig auffordernden Gesten. Wenn sie sich umdrehte, von ihm weg, dann drehte sie sich nicht einfach weg, sie schwang vielmehr ihren Kopf in die andere Richtung und ihr Körper schwang hinterher. Ihre Gesten wurden allmählich etwas ausladender, nicht viel, nicht aufdringlich, aber Ulysses nahm das sehr wohl wahr und, obwohl er mit seinen bisherigen Bestellungen bereits mehr als ausreichend bedient war, bestellte er mit einem deutlichen Handzeichen einen weiteren Mokka, allein, um sie wieder an seinen Tisch zu bewegen.
„Kiki, so nennen mich meine Freunde. Bitte sehr, mein Herr.“ Und dabei lächelte sie ihn lange und eindringlich an. Es war an der Zeit, dass auch er ihr seinen Namen nannte: “Ulysses, ich heiße Ulysses. Eine so schöne Kurzform wie ihr Vorname hat meiner leider nicht gefunden, Kiki.“ Sie stellte den Mokka ab, ein Gast rief: “Kiki, bitte!“
„Sie sehen, so ist es jeden Morgen in der Saison. Ich muss…“ und wandte sich dem rufenden Gast zu und ging zu dessen Tisch. Ulysses war nicht enttäuscht, schaute er ihr doch allzu gerne weiterhin bei ihren ihn geradezu aufregenden Bewegungen zu. Und er konnte sie ja jederzeit mit einer weiteren Bestellung wieder an seinen Tisch holen. Perfekt, dachte er, dreh dich, Kiki. Und sie tat ihm den Gefallen, denn so wie die Hafenarbeiter und Handwerker die Taverne verlieĂźen, traten mehr und mehr Reisende und ältere Bewohner der Hafengegend von Lesbos in den groĂźen Raum, der bis zur Augenhöhe mit weiĂźen Kacheln belegt und von der Decke in hellblauer Farbe direkt auf den Putz gestrichen war, ein. Kyriaki war die einzige Bedienung und hatte nun auch schon alle Hände voll zu tun.