Es ist besser, will man ein richtiger Spieler sein, sich nicht an andere Menschen zu binden, an Familie, Frau und Kind, denn alles das steht auf dem Spiel. Wieviel Not die Spielsucht, die ein notwendiger, sich selbst einstellender Teil des Spiels ist, über geliebte und befreundete Menschen, die den Fehler machten, einen Spieler so sehr zu bedrängen, dass er in ihrem Namen an den Börsen Geld einsetzt und verloren hat, kann gar nicht dramatisch genug beschrieben werden. Ganze Vereine und Institutionen, ja sogar Großbanken gingen in die Insolvenz oder waren auf Jahre hinaus nur noch eigeschränkt handlungsfähig, weil ein Mitarbeiter das Spielen an den Börsen an seinem Arbeitsplatz entdeckt hatte und der Sucht verfallen war.
Die Spielsucht ist die Vollendung und Erfüllung des Spieltriebs selbst. Und alle möglichen Formen der Sucht können den Spieler ein Leben lang begleiten, Drogen, Alkohol, Frauen und eben das Spiel an den Börsen oder im Casino. Der exzessive Spieltrieb dreht sich mit der Zeit immer schneller um sich selbst und braucht die Beschleunigung als ultimativen Kick. Er verbraucht seine Energie, um so schnell wie möglich wieder von vorne zu beginnen, beziehungsweise die Dosis zu erhöhen und dabei geht es immer darum, die Grenzen der Vernunft und Kontrolle weiter oder höher zu legen. Der kontrollierte Kontrollverlust markiert die Grenze zwischen Leben und Tod und in dieser Form der todesverachtenden Handlung liegt die Gefahr dem Spieler quasi zu Füßen.
Das Spiel spielen zu können, ist die Gefahr und die Herausforderung, nicht die Gewinnmitnahme und die Risikominimierung. Als Spieler zählt die Größe der Gefahr und man selbst, wo man die Grenze der Gefahr setzt, die das entscheidenden Stück weiter geht als das Risiko. Das Risiko ist im Spiel gewissermaßen der Erfahrungshorizont, der Schritt, der darüber hinausgeht ins Ungewisse, der spielt um sein Leben. Dort wo Geld gleichgesetzt wird mit Leben und Totalverlust mit dem Tod hat der Spieler sein eigentliches Habitat. Dort lebt er allein, was nicht heißt, dass er nicht umgeben ist von Menschen, von schönen Frauen, die an seinem Spiel partizipieren, indem sie sich selbst, ihren Körper als Einsatz ins Spiel bringen. Trotz alledem ist der Spieler einsam.
In der Szene der wahren Börsianer wurde tagtäglich exzessiv gespielt, ein Spiel, welches die Spieler in eine Spirale aus Verlusten und Obsessionen mitriss, die in der Gesellschaft als eine besondere Form der menschlichen Psychologie gilt, die über die Gier nach Gewinn und die Leidenschaft zu spielen die Illusion von Kontrolle auslebt. Eine Kontrolle über sich selbst, wenn der Spieler meint, seine Spielsucht im Griff zu haben, und die Kontrolle über das Spiel, wenn er den Zufall und das Glück meint beherrschen zu können.
So sehr aber jeder Mensch weiĂź, auch der Spieler, dass Zufall und GlĂĽck nicht beherrschbar und kontrollierbar sind, so sehr aber wird der Spieler beziehungsweise das Spiel als eine Metapher fĂĽr die tiefgrĂĽndenden menschlichen Begierden angesehen, so da sind die Illusion von absoluter Freiheit und die Suche nach deren bedingungsloser ErfĂĽllung. Ihnen opfert der Spieler alles, was er hat, weil alles das, was er hat und besitzt ihm zu gering erscheint vor seiner Freiheit und der bedingungslosen ErfĂĽllung seiner WĂĽnsche und Begierden. Zum Spiel braucht er nichts und niemanden, auĂźer Geld, so denkt der Spieler.
Ein kleines Tohuwabohu entstand im Regal, in dem Dostojewski versuchte, die intellektuelle Oberhand zu gewinnen, damit aber die entschlossensten Kritiker aus der Abteilung Literatur auf sich zog. Man stritt leidenschaftlich über die Philosophie und den Charakter des Spiels, und die einen vertraten den Gedanken, dass alle Wahrheit im Spiel selbst läge, während die anderen das Spiel als eine Metapher betrachteten, die weit über sich selbst hinausweisweist und gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegle.
„Das Spiel in der Literatur des Barock wird meist als Glücksspiel dargestellt, mit dem sich die Helden über Verluste hinwegtrösten“, warf Dostojewski ein und fuhr die anderen belehrend fort „in der Aufklärung dient es häufig als pädagogische Metapher. In der Romantik nimmt es bisweilen dämonische Züge an und im 20. Jahrhundert,“ wagte sich Dostojewski weit aus dem Fenster seiner Zeit, „spiegelt es einerseits ganz individuelle Identitätsprobleme wider, ein anderes Mal dagegen eine epochale Zerrissenheit.“
Die Autoren der meisten anderen Bücher konnten dem zustimmen und verwiesen nicht ohne Züge von Selbstgefälligkeit gerne darauf, dass das Spiel schon seit ewigen Zeiten als ein beliebtes literarisches Motiv verwendet wurde und auch in einem komplexen Zusammenhang ethischer Gesellschaftsmodelle gestellt wurde. Von Aristoteles, Kant und Schiller kam sofort der Hinweis darauf, dass das Spiel auch in seiner ethischen Bedeutung als Beitrag, zumindest als Offenlegung der Frage betrachtet werden müsse, ob die spielerische Dimension des menschlichen Handelns auch einen Beitrag zur Lösung von Konflikten der Menschen untereinander und ihrem gesellschaftlichen Verbund leisten kann, was aber sofort die Literaten wieder auf die Bühne brachte.
Lessing, E. T. A. Hoffmann, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig benutzen die Metapher des Spiels zur Darstellung der Funktionalisierung von Strategie- und Glücksspielen in verschiedenen Konfliktsituationen, doch in der Konstellation dieser beiden Spielkategorien, Agon und Alea, Wettstreitspiele und Zufallsspiele, sah keiner von ihnen einen Ausweg, gar eine Lösung des tiefen Konflikts, in den die Menschen, ja die ganze Menschheit von Geburt an gestellt ist, der Konflikt zwischen einer vernünftigen Strategie zur Lösung menschlicher wie gesellschaftlicher Konflikte und einer strategielosen, auf Zufällen und ihren unvorhersehbaren, aber immer wieder auftretenden Zufällen bauenden, hoch flexiblen Anpassungsfähigkeit des Menschen.
War es möglich, sich flexibel an das Leben anzupassen, vor allem daran, was das Leben mit seinen großen und unbedeuteten, aber kurzfristig hoch wirksamen Zufällen für den Menschen bereithält? Türmer dachte wieder an die vielen Unwägbarkeiten in seinem Leben, für die er mit der Zeit das alte Wort Schicksal wiederentdeckt hatte. In seiner Jugend hatte er den Begriff Schicksal aus seinem Denken verbannt und musste doch einsehen, dass es die kleinen und die großen Schicksalsschläge waren, die sein Leben, neben seinem überlegten oder unüberlegten Willen mitbestimmten.
Er musste die Trennungen von geliebten Menschen hinnehmen, den Tod, die schweren Erkrankungen, die plötzlich und wie von Götterhand in sein Leben geworfen wurden und mit denen er sich nun abfinden musste, lernen musste, mit ihnen umzugehen, was jahrzehntelang keinen einzigen als beiläufigen Gedanken erforderlich gemacht hatte, keine Anpassung an seinen Lebensalltag, nichts davon.
Türmer erlebte, wie allein sein Spieltrieb mit der nötigen geistigen und physischen Dynamik sein Leistungsbestreben befeuerte und er nichts anderes mehr wollte, als in diesem Spiel Höchstleistung zu vollbringen. Er wollte der Spieler aller Spieler sein, der auf alles, was das Spiel erforderte, eine Antwort zu geben vermochte.
Er spielte mit Informationen zu Märkten, Unternehmen und den Auswirkungen der Politik auf die Börsen. Er spielte mit Analysen und Vorstellungen, welche Folgen das Spiel an den Finanzmärkten für Menschen haben werde, die weder mit den Märkten noch dem Spiel darauf vertraut sind. So wurde er zum gefragten Gesprächspartner und seine Bedeutung in der Londoner und New Yorker Szene wuchs steil an.
„Du hast deinen moralischen Kompass völlig verloren“, warf einer der Autoren ein.
„Was kann ein Mensch heute mit einem moralischen Kompass denn erreichen“, erwiderte Türmer nach oben gerichtet, „und außerdem ist die Grundlage deines Vorwurfs ein recht altes, in die Jahre gekommenes Konzept.“
Schweigen. TĂĽrmer merkte, er hatte den Autor frontal getroffen und nun sann er, wie er die Bemerkung parieren sollte.
„Was heißt schon altes Konzept, wenn es nach wie vor das einzig richtige Konzept ist?“
„Aber es hat sich bislang nicht als richtig erwiesen. Die Geschichte trifft keine Fehlurteile.“
„Du willst behaupten, der Mensch hat seine beste Entwicklung in der Verwirklichung nur seiner eigenen Vorstellungen und der Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse?“
„Was hat sich denn anderes durchgesetzt? Schon Adam Smith, der größte Moral-Ökonom von der britischen Insel, ist dem Imperativ gefolgt und hat diesen auch für die englische Gesellschaft formuliert: Wenn alle das Beste für sich erreichen, hat auch die Gesellschaft das Maximum dessen, was möglich ist, erreicht.“
„So einfach ist das?“
