So viele Schwestern waren gekommen, wie Besucher das Foyer betreten hatten. Und alle Besucher bekamen den Kranz aus Rosen von den Frauen und alle verwandelten sich unmittelbar danach in willenlose Wesen, ließen sich von den Frauen in die privaten Gemächer der Galerie führen von den gleichen Ängsten und grausamsten Vorstellungen begleitet wie der Gastgeber. Die Angst vor dem Tod war allen ins Gesicht geschrieben, aber unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben, traten sie wie in einer heiligen Prozession den Weg über die Treppe nach oben an. Die Frauen, die gekommen waren, erstarrten beim Anblick der Schwestern, deren Blicke sie in Bilder verwandelten, in Portraits ihrer Schönheiten, die anstelle der ausgestellten Werke ihren Platz einnahmen. In edlen Rahmen aus platiniertem Gold hingen sie, wo eben noch Baselitz und Richter, Grosse und Wool hingen, und strahlten im Glanz ihrer jugendlichen Vollkommenheit, die nur eine Frau am Ort und im Zustand reinster Selbsterfüllung zu erreichen vermag. Sie alle fanden auf ihre individuelle Weise in ihrem Selbstbildnis den Ort und die Vorstellung erfüllter Schönheiten und blickten heraus aus den Rahmen in einen leeren Raum, wo niemand sonst mehr war, nicht einmal mehr Kunstwerke.
So erblickte Narziss einst sein eigenes Bild im klaren See und war verzückt von der eigenen Schönheit. Jede war nun eine Mona Lisa, einzigartig und auf ihre Weise perfekt, ein Bild weiblicher Schönheit, die niemanden mehr braucht zur Bestätigung und zur Anerkennung. All’ dieses mühsame Begehren war endlich geworden und im Bild erfüllt. So war aus den sonst so leidvollen und aufwühlenden Blicken der Frauen untereinander ein Zustand der Schönheit geworden, alle weiteren Blicke darin versteinert und alle Unterschiede darin aufgehoben und befriedet. Das Catering Team, welches mit dem Service der Gäste betraut war, hatte das Buffet bereits abgeräumt und ging nun daran, auch die Portraits der Frauen abzuhängen. Sie nahmen die Bilder aus den Rahmen und brachten diese nun so getrennt zu den Containern im Hinterhof, wo sie sie entsorgten. Die schönsten Rahmen nahmen sie mit nach Hause.
Kiki und die Schwestern waren verwirrt, sahen sie die Gesichter voller Angst und Panik ihrer willenlosen Begleiter. Sie fragten die Männer, woher ihre Angst und ihre Panik herrühren würden und wunderten sich, als sie von deren Gedanken und Vorstellungen erfuhren. Die Schwestern klärten die Männer darüber auf, dass sie sie nicht zum Tode, sondern zur höchsten Lust in den Tempel des Begehrens führen, wo sie ein Gastmahl der Sinne und der Leidenschaften erwartetet. Dort würden sie alle ihre Begierden und ihre ungezügelten Gelüste erfüllt finden, würden sie den Ort der höchsten Ekstase betreten, wo Liebe, Leidenschaft, Lust und Tod einander so nah begegnen, wie sie es vorher nie erfahren haben. Die Schwestern aber sahen, dass ihre Worte den Männern nicht ihre Vorstellungen vom Tode nehmen konnten, so dass sie weiter in Angst und Panik den Frauen in den Tempel der Hedone bereitwillig und bereit zur Flucht zugleich folgten.
Der Weg hinauf zum Tempel der Hedone wurde mit jedem Schritt mehr zu einer Prozession, die die Teilnehmenden stets in den Kultus von Angst und Glückseligkeit mitnimmt. So sehr sich die Männer auch die mit den Worten der Frauen verbundenen Vorstellung wünschten, sicher konnten sie sich nie sein, dass am Ende nicht Glückseligkeit steht, dass sie am Ende ihr Glück nicht doch zu hoch als mit dem Tod gebüßt haben werden.
Kiki sah in den Augen ihres Begleiters jenes tiefe Glühen, welches sie aus so manchem Kampf um Leben und Tod gesehen hatte. Viele sind ihr gefallen, nur einer widerstand, Ulysses. An dieses Glühen im Blick dachte sie und war verwirrt, dahinter nicht Ulysses zu sehen, sondern ihren Begleiter, dessen Habitus nicht feierlich war, der selbst auf den, auf ihren Tod aus war; Kiki sollte ihm zum Opfer fallen. Sie hörte die Worte der Mutter, die ihr Antiope überbrachte: „Warum suchst du dir einen Mann für dich selbst? Warum trittst du heraus aus der Schaar der Schwestern?“ Kiki verstand nicht den Sinn der Worte der Mutter und wurde, gerade unachtsam für einen Moment, von dem Dolch verletzt, welchen ihr Begleiter schnell gezogen und gegen sie eingesetzt hatte. Hippolyta und Thermodosa eilten herbei und entrissen die Verletzte den Armen ihres Begleiters und verletzten ihn selbst dabei so schwer, dass er neben Kiki zu Boden sank. Beide verwundet lagen nebeneinander und Will Quavella bereute schnell seine Tat. Kiki wurde von ihren Schwestern weggeführt und erholte sich schnell von ihrer Verletzung, die so schwer nicht war. Aber das Rosenfest war für Kiki zunächst einmal vorbei.
Anders bei den Schwestern und ihren Begleitern. Die Männer wurden in die Tempelzimmer der Hedone geführt, wo die Schwestern alle ihre Wünsche und Begierden erfüllten. Man sah die, die mutig ihre Chancen ergriffen und zu zweit, zu dritt und manche gar in großer Gruppe ihr Liebesglück versuchten. Das waren die Swinger, die plötzlich alle Hemmungen ablegten, die keine Moral und Sitte mehr daran hinderte, das Äußerste zu versuchen und dies hemmungslos auslebten. Da waren die vom Puritanismus Gehemmten und Gequälten, die sich vor den Schwestern bekreuzigten, um dann ihren Perversionen freien Lauf zu lassen. Und dann die, die es zum ersten Mal mit einer anderen Frau als der eigenen versuchten und vor Glück kaum atmen konnten, die nicht aufhören und die diesen Ort nie mehr verlassen wollten. Es fanden sich Männer zusammen und Frauen in ganz beliebiger Art und Männer in Gruppen und schließlich waren da auch die Selbstverliebten, die vor sich selbst ins Schwärmen gerieten. Einige der Männer sprachen Worte und Sätze der geistigen Umnachtung, die ihrem ekstatischen Glück folgten, weil sie so nichts mehr verstanden von dem, was hier im Tempel der Hedone geschah. Alles schien in rauschhafter Erregung zu geschehen, die das Bewusstsein trübte, manchmal ins Animalische verschloss.
Das Rosenfest legte die Selbstliebe der Männer jenseits aller Grenzen frei. Die Swinger hatten keine Mühe damit, war doch ihre sexuelle Orientierung so auf sich selbst gerichtet, dass das Konzept der Selbstbestimmung die sexuelle einschloss. Polygamie, Seitensprung bis hin zur Polyamorie waren ihnen geläufig, ein gegenseitiges Einvernehmen war nicht unbedingt notwendig, die Grenze zwischen polyamourösen und polymorphen sexuellen Erfahrungen bestand stets nur darin, allen Sexualpartnern die eigenen Vorlieben offen einzugestehen. Für sie war der Tempel der Hedone der Ort, wo Verheimlichung und Lüge überflüssig waren. Die puritanisch beeinflussten Männer, die besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika und selbst hier in der großen Stadt an der Ostküste häufig anzutreffen sind, genossen die sexuellen Spiele der Mädchen jenseits moralischer Vorstellung, die sie sonst so blutleer, kleingeistig, selbstverleugnend, heuchlerisch und nachtragend machten. Alle diese Eigenschaften trugen alltäglich dazu bei, den Puritanern das Leben schon zur Hölle zu machen. Den Perversen gelang bereits im Leben die Abkehr von Sitte und Moral, war ihre sexuelle Erfahrung ja darauf ausgerichtet, die Fesseln der normativen Repression und Sittengesetze abzustreifen. Was sie band und was sie zu Sklaven ihrer Liebe zu sich selbst machte, war das Notorische in ihrem Leben. Notorisch mussten sie über die vielen Regeln und deren vielfältigen Vorstellungen ihrer Überwindung sprechen und so wurde ihre sexuelle Erfahrung zu einer diskursiven Existenz. Hier im Tempel war jedes Wort überflüssig und die Männer wurden den Frauen geradezu hörig. Sie hörten jedes Wort, das sie zu ihnen sprachen, folgten jeder noch so abwegigen Vorstellung darin.
Die Letzten waren die Selbstverliebten, die sich mehr lieben, als alle anderen Menschen, für die die anderen es kaum Wert sind, von ihnen geliebt zu werden. Darunter gab es jene, die nur liebten, um bewundert zu werden und jene, die ihre Sucht nach Bewunderung und Aufmerksamkeit aus allen möglichen Situationen und Attituden zogen, deren sexuelle Erfahrungen mehr Wert waren in erotischen und weniger in sexuellen Beziehungen zum anderen Geschlecht, dazu zählten auch die vielen körperlich kontaktlosen Beziehungen zu den anderen Menschen, die sie zahlreich unterhielten und Sex so zu habituellen Sensationen machte. Auch die Narzissten aber lebten ihre Sexualität aus an der Grenze zum anderen, sei es Mann oder Frau, dessen Eigenliebe und dessen eigenes Begehren sie nicht ertrugen und was ihre Selbstliebe sofort zu ersticken drohte. Alles war narzisstisch und die Narzissten bildeten für alle anderen Formen der sexuellen Begierde auch das geheimnisvolle, das unverstandene und unkontrollierte Vorbild, dem sie alle aufsaßen, an dem sie wie an einem seidenen Faden hingen und durchs Leben gespielt wurden. Sie waren Marionetten ihrer Selbstliebe und nun, da sie dieser bis über alle Grenzen hinaus folgen durften, waren sie für die Liebe unbrauchbar geworden. Ein Zurück gab es nun nicht mehr und keine Rückkehr zu den alten vertrauten Formen der Liebe und des sexuellen Begehrens, auch kein Zurück zu ihren Frauen oder Begleiterinnen.
Im Tempel der Hedone hatten die Frauen und die Begleiterinnen jeden Reiz verloren, waren zu Bildern männlicher Vorstellungen an den Wänden geworden, abgehängt und entsorgt vom Service. Die Männer waren fortan unfähig zu vergessen, was sie im Tempel der Liebe erlebt hatten, alles andere war fortan schal und zu alltäglich, dass ein Begehren daraufhin sich noch entzünden könnte. Das war die Rache der Schwestern, den Männern und Frauen ihre Jugend zu rauben, ihnen ihre Begehren im Narzissmus der Männer zu ersticken, so sie fortan welk und schal wurden und wie Zombies durch die Welt geisterten. Die sexuelle Lust in der Hemmungslosigkeit des Begehrens zu zerstören, was für eine gute Idee, dachten die Schwestern. Und so waren auch sie für alle Zeiten von Übergriffen verschont, wenn kein Mann mehr etwas anderes als sich selbst begehrt und selbst diese Selbstliebe im Habitus der Vollkommenheit in sich zusammenfällt. Die Schwestern führten die Männer einen nach dem anderen aus dem Tempel hinunter in die Ausstellungsräume, wo keine Bilder mehr hingen. Das Buffet war abgebaut, alles Weibliche hatte bereits den Ort verlassen und die Männer schauten nur noch sich selbst an im Spiegel der anderen im Saal.
Sprechen konnten sie noch und sie machten sogleich umfangreich Gebrauch davon, wollten doch alle etwas verstehen von dem, was sie erlebt hatten. Anschaulich wollten sie machen, was sie als Kunst uminterpretierten. Dada, der Surrealismus, Futurismus und Fluxus machten schnell die Runde und erfüllten alsbald die intellektuellen Bedürfnisse der Anwesenden nach Umdeutung und Kompensation. „Das war eine gelungene Veranstaltung von Aktionskunst“, meinte einer, „eine Simultanaufführung von Aktionskünsten in Form eines Happenings“, meinte ein anderer. „Hier wurde gerade Kunst zur Lebenspraxis“, unterstrich ein weiterer der Anwesenden und deutete auf den leeren Raum, die leeren Wände mit dem Hinweis: „ein pures Happening, sozusagen.“ „Was für ein Erlebnis“, formulierte es wieder ein anderer in völliger Emphase, „und wir alle waren voll beteiligt.“ „Mehr noch, wir waren alle selbst das gesamte Handlungsgeschehen, wir waren die Handlung und die Kunst zugleich, jeder Einzelne von uns und alle zusammen.“ „Eine Utopie“, rief jemand in die Runde und löste grenzenlose Begeisterung unter den Anwesenden aus.