Die Leseprobe enthält zufällig ausgewählte Seiten des Romans. Sie ist also inhaltlich unzusammenhängend und soll lediglich kurze Leseerfahrungen ermöglichen.
Seite 109ff
Weit zurĂĽck sah Kiki in Schwaden von Nebel ihr Elternhaus, während sie und Ulysses, ihre Hand haltend, mĂĽde ĂĽber HĂĽgel wanderten, die an manchen Stellen noch Reste von vor langer Zeit bestellten Getreidefeldern zeigten. DarĂĽber schien eine in ihrem Himmel schwankende Sonne auf sie nieder, heiĂź aber nicht grell. Ihre Schatten schienen sie manchmal zu ĂĽberholen, manchmal abzuschweifen von ihnen wie die Worte, die sie sich beide zusprachen, ohne sich wirklich zu verstehen. „Dein Haus ist weg, es ist nicht mehr. Zu lange bist du nun schon fort von da.“ Wie auf den schmutzigen StraĂźen ihrer Kindheit, lief Kiki barfuĂź, Schwielen und Blasen an ihren tauben FĂĽĂźen durch diese Landschaft von versteinerten Bäumen, die endlose StraĂźen zu verfallenen, rostig-braunen, mächtigen Industrieanlagen säumten. Die Luft war dort erstickt, man durfte nicht zu nahekommen und die Helligkeit des Tageslichts wich darĂĽber einem staubigen, diffusen Zwielicht.
„Ich werde heimgehen zu meinem Vater“, sprach sie und ihre Worte erstarrten zu Stein, fielen schwer auf den harten Boden und zersprangen in unzählige, kleine Laute zwischen Hoffnung und Klagen. Ihre kleine, noch weiche Nase an die gefrorene Fensterscheibe gepresst, sah Kiki auf die harten, von einem unerbittlichen Winter zu Stein gefrorenen Felder, sah sich stolpernd durch die unzähligen Zementbrocken ängstlich und zugleich traurigen Blickes voraneilend einem ungewissen Ziel entgegen. Voran wollte sie doch irgendwohin zurück, wo schon lange kein Grün mehr aufblühte, seit Urzeiten kein Tau mehr unter den Füßen kühlte. War sie zu lange diesen Weg gegangen, auf dem einzig heute noch Ratten ihr zuhause fanden?
Ihr Gang war schwer, gebeugt ihre Gestalt: „Dein Haus ist nicht mehr“, sagte die Gestalt neben ihr, „es ist zerfallen wie die Ernte, die nicht eingeholt auf den Feldern sich zersetzt in gehrende, übelriechende Flüssigkeit.” Ihr war, als wäre es Jahrhunderte her, dass sie ihr Elternhaus verlassen hatte. Zu einer Erinnerung wollte sie nun zurück, zu einem Gefühl, das sie vielleicht nie gespürt hatte, einem Bild ihrer Erinnerung, das es in Wahrheit vielleicht nie gegeben hat.
Die Selbsttäuschung war es, die Kiki im Leben hielt. Dieses zarte Gefühl von Heimat und Geborgenheit an einem Ort, an den man jederzeit zurückkonnte, wenn man nur wollte, wenn man es sich nur vorstellte. „Zieh’ deine Schuhe an. Es wird kalt werden“, sagte die Gestalt neben ihr in ruhigem Tonfall. Dieses große Mietshaus mit seiner glatten, kalten Fassade wie man sie in unendlichen Reihen und anderen räumlichen Anordnungen in so vielen Vorstädten findet, war das wirklich einmal ihr zuhause? Diese namenlose, schmutzige Straße, die sie tagtäglich barfuß gelaufen war, war die dereinst wirklich ihr zuhause gewesen?
Kiki sah in den Spiegel. Alte, trübe, große Augen sahen aus einem schmalen Kindergesicht zurück, in den Pupillen all’ die vielen Wände, der bröckelnde Putz der Fassaden, die bunten, wilden Graffitis und alle die vielen Kinder in ihren zerschlissenen, abgetragenen, schmutzigen Kleidern, spielend, lärmend, vergnügt oder traurig allein gelassen in einer hinteren Ecke der Szenerie, während die Sonne ihr warmes, helles, leuchtendes und zugleich eifersüchtiges Licht darüber ausgoss. Wussten diese Augen jemals etwas von dem, was damals war? Hatten sie nicht einfach nur zugeschaut, vielleicht staunend gesehen, was war und dann alles vergessen?
„Du wirst ihnen nicht glauben“, sagte Ulysses, „du darfst ihnen nicht vertrauen. Nur einem, geliebte Frau, geliebte Liebe.“
„Wer ist das? Wem darf ich vertrauen“, fragte Kiki erregt? Aber Ulysses war schon zu weit weg von ihr, wandte sich um und ging seinen Weg durch die verrosteten Industrieanlagen und verschwand langsam im Zwielicht.
„Ich liebe dich, Kiki,“ rief er ihr zu von weit her.