Der Kalman-Effekt

Was kaum noch jemand wirklich anzweifelt ist, ob menschlichem Verhalten tatsächlich mit den mathematischen Methoden beizukommen ist, ob dies überhaupt möglich ist? Denn es wird immer schwerer vorstellbar, dass eine andere Wissenschaft als die Mathematik oder mit Methoden der analytischen Sprachwissenschaft oder den der Kulturwissenschaften brauchbare Daseinsauslegungen möglich sind. Was können alle diese Wissenschaften zusammen gegen einen einzigen mathematischen Filter, den „Kalman-Filter“ ausrichten? Es gibt viele, wahrscheinlich die meisten Menschen, die in einer mittleren Kleinstadt nach zwei Richtungswechsel und ein paar Hundert Metern nicht mehr wissen, wie sie wieder zum Ausgangspunkt zurückkommen. Oder würden Sie auf die analytische Philosophie oder auf die Kulturwissenschaften vertrauen, dass die den Kurs zum Mond und wieder zurück richtig berechnen und in die Kapsel einsteigen? Wohl nicht!

Mit der Methode des Kalman-Filters bringt einen die Mathematik prinzipiell fast überall hin, aber der Filter kann viel mehr, als nur veränderliche Positionen und Geschwindigkeiten gemeinsam so präzise schätzen, dass Fehler in der Schätzung so minimal sind, dass man sie vernachlässigen kann. Denn der Filter dient dazu, nicht direkt messbare Systemgrößen zu schätzen, während gleichzeitig die Fehler der Messungen optimal auf ein Minimum reduziert werden. Deshalb kommt diese Methode auch in Echtzeitsystemen verschiedener technischer Anwendungsbereiche zum Einsatz, u.a. die Auswertung von Radarsignalen oder GNSS-Daten zur Positionsbestimmung sich bewegender Objekte (Tracking), aber auch der Einsatz in allgegenwärtigen elektronischen Regelkreisen in Kommunikationssystemen wie etwa Radio oder Mobilfunk oder in der Steuerung von elektromobilen Fahrsystemen. Dass der Filter verlässlich funktioniert hat er beim Einsatz im Apollo-Programm der USA bewiesen. Er ist heute im Einsatz in der sogenannten Inertial Navigation, bei der während des Flugs Beschleunigungs- und Drehdaten des Flugzeugs gemessen werden, um Kurzzeit-Navigationen zu ermöglichen. Verschiedenen weitere Sensoren, besonders Satellitendaten liefern dazu weitere Stützdaten, die dann mit den Daten der Kurzzeitnavigation verknüpft werden, aus der dann eine optimale Schätzung der aktuellen Flugzeugposition und eine Kursprojektion, also eine Orientierung ermöglicht wird. Der Kalman-Filter ist in der Lage, verschiedene Datentypen miteinander zu verbinden und gleichzeitig Ungenauigkeiten bei der Schätzung und Projektion auf ein Minimum zu reduzieren.

Jeder Datentyp hat sein eigenes „Rauschen“ und das musste in der Vergangenheit für jeden Datentyp einzeln reduziert werden. „Zunehmend spielen Trackingverfahren und somit das Kalman-Filter als typischer Vertreter eines Trackingfilters eine Rolle im Automobilbereich. Sicherheits- oder Komfortanwendungen, die auf Umfeld erkennenden Systemen basieren, sind auf verlässliche Informationen (z.B. Position, Geschwindigkeit) bezüglich der Objekte in ihrem Umfeld angewiesen. Bei autonomen Landfahrzeugen werden Kalman-Filter zur Reduzierung des Rauschens von Lidar- und Radargeräten eingesetzt. Eine ebenfalls oft verwendete Art eines Kalman-Filters, das PLL-Filter, hat heute weite Verbreitung gefunden in Radios, Funkgeräten, Computern und in fast allen anderen Arten von Video- und Kommunikationsgeräten. In der Makroökonomik werden Kalman-Filter zur Schätzung von dynamisch-stochastischen Allgemeinen Gleichgewichtsmodellen (DSGE-Modelle) eingesetzt. In der Meteorologie setzt man sie zur Datenassimilation bei der Bestimmung des Ausgangszustandes bei der numerischen Wettervorhersage ein.“ Jeder Student der Statistik kennt den Filter und weiß dessen Genauigkeit gegenüber einfacheren Filtern wie z.B. den „gleitenden Mittelwert“ zu schätzen.

Wie der gleitende Mittelwert ist der Kalman-Filter auch eine Methode der Ermittlung eines Schätzwertes, nur dass hier eine mehrdimensionale Normalverteilung zur Schätzung herangezogen wird. Mehrdimensionale Normalverteilungen repräsentieren aber nicht nur Verteilungen von Wahrscheinlichkeiten möglicher Fehler um jeden einzelnen Schätzwert, sondern repräsentieren auch Korrelationen zwischen Schätzfehlern unterschiedlicher Variablen. „Mit dieser Information werden in jedem Zeitschritt die bisherigen Schätzwerte mit den neuen Messungen auf optimale Weise kombiniert, so dass verbleibende Fehler des Filterzustands schnellstmöglich minimiert werden. Der momentane Filterzustand aus Schätzwerten, Fehlerschätzungen und Korrelationen bildet dabei eine Art Gedächtnis für die gesamte bisher gewonnene Information aus vergangenen Messwerten. Nach jeder neuen Messung verbessert das Kalman Filter die bisherigen Schätzwerte und aktualisiert die zugehörigen Fehlerschätzungen und Korrelationen.“ (ebenda). So spricht man heute bei Kalman-Filter von einer „Zustandsraummodellierung“, bei der, im Gegensatz zu traditionellen Filtern der Zeitreihenanalyse explizit zwischen der Dynamik eines Systemzustands und dem Prozess der Messung unterschieden werden kann, was natürlich gerade bei solchen Anwendungen von enorm besserer Effizienz ist, die sich mit dynamischen Systemen beschäftigt, also mit allen Datentypen, die aus Bewegungsdaten bestehen.
Die Verbindung von verschiedenen Typen von Daten und deren Bewegungsprofilen ist heute eine gängige Methode bei vielen Anwendungen im Bereich Big Data, bei einer Vielzahl von Datenauswertungen aus den sozialen Medien sowie in ökonomischen Zusammenhängen. Dabei hat sich der Eindruck verfestigt, dass Big Data Analysen nicht nur das Mittel der Wahl bei allen möglichen Anwendungen sei, man glaubt einfach mittlerweile an die zahllosen Möglichkeiten der Datenanalysen unter Einbeziehung von Bewegungs- und Beschleunigungsdaten, was ja bekanntlich fast alle Datengebiete heute umfasst.

Dabei wird in Zeitreihenanalysen fast alles an Variablen miteinander kombiniert, was nur in einigermaßen günstiger Reichweite stochastischer Möglichkeiten sich befindet. Altersentwicklung wird kombiniert mit wirtschaftlicher Entwicklung und Gesundheits- wie Glücksentwicklung und kommt in nationalen wie internationalen Studien in hoher Stückzahl auf den Markt, wo es von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft aufgegriffen und sodann zweckrational eingesetzt, man kann auch sagen, missbraucht wird.
Nun weiß die Stochastik natürlich, dass der Kalman-Filter seine Effizienz dort findet, wo es um lineare Zustandsraummodelle, weniger, wenn es um nichtlineare Zustands- oder Beobachtungsgleichungen geht. Aber der Kalman-Filter hat bereits seine Nachfolger gefunden, die auch nichtlineare Zustandsgleichungen bzw. Näherungs- und Schätzverfahren beherrschen. Mit der Entwicklung leistungsfähiger digitaler Rechentechnologie werden die meisten anspruchsvollen, nichtlinearen Filterprobleme durch Simulationen, im Fachterminus ‚sequentielle Monte-Carlo-Methoden‘ oder anderweitige Näherungsverfahren wie etwa Quadratur-Filter, Gaußsummenfilter, Projektionsfilter u.a. behandelt.
Sie haben in der Folge des Kalman-Filters einen Effekt bestätigt, der unmerklich um sich gegriffen hat und den Mythos der Vorhersagbarkeit der Zukunft, der wahrscheinlich älteste Traum der Menschheit, viel älter als der Traum zu fliegen, realisiert hat. Nun aber und zeitgleich mit der Entwicklung stochastischer Filter hat die Mathematik nicht nur unsere Orientierung in der Welt des Seienden, sondern auch in der Welt des (noch) Nicht-Seienden auf radikalste Weise verändert. Wir orientieren uns nicht mehr allein an unseren Erfahrungen und projizieren diese als Wahrscheinlichkeiten in die Zukunft, immer voraussetzend, dass die Zukunft auch eine lineare Entwicklung aus der Vergangenheit heraus ist, sondern schätzen nun die Zukunft an sich.

DIE SICHTBARKEIT DES UNSICHTBAREN

So wird die Zukunft zu einem geschätzten Zustand. Denn sequenzielle Monte-Carlo-Methoden (SMC-Modelle) gehören zur Klasse der stochastischen Verfahren, die Zustände in einem dynamischen Prozess errechnen, wobei die Zukunft nun als ein Schätzwert möglicher Zustände mit größter Wahrscheinlichkeit besteht. Das klingt nicht sonderlich beeindruckend, ist aber revolutionär innerhalb der Mathematik sowie auch für die Wahrnehmung des Menschen, gerade auch, was seine Gegenwart betrifft. Wir kennen bislang alle Aussagen über die Zukunft, ontologisch gesehen, als ambivalente Aussagen. So sagen wir, wir vermuten, dass etwas passieren oder sein wird, wissen es aber nicht. Wir ahnen, dass es so sein wird, wir stellen uns etwas vor, aber wir wissen es eben nicht oder nicht genau. Natürlich gehen wir mit der Ambivalenz seit Jahrtausenden um und haben erfahren, dass etwas dann doch so eintreten kann, wie wir es uns vorgestellt, wie wir es geahnt oder vermutet haben und haben daraus eine Erfahrung werden lassen, die uns stets vergewissert hat, dass bei jeder Vorstellung, Vermutung oder Ahnung uns dieselbe Ambivalenz der Zukunft begegnet, wir also noch nicht wissen, ob etwas eintritt oder nicht. Ontologisch betrachtet jonglieren wir geradezu mit der Ambivalenz, die aus zwei Momenten der Ansicht besteht, die die Ambivalenz bilden, aus einer inneren, verborgenen Ansicht und einer äußeren, sichtbaren Ansicht, so wie wenn wir dunkle Wolken am Himmel aufziehen sehen, die sich zu einem Kumulus Nimbus aufbauen und der Skipper aufruft, ‚Großsegel einzuholen und Sturmfock vorbereiten‘.

Wir kennen die Naturwissenschaften als empirische Wissenschaften, die sich mit sichtbaren, selbst noch im mikroskopischen Bereich messbaren Größen bzw. deren Variablen beschäftigten. Hier besteht die Kohärenz des Gegenstandes und dessen Konsistenz als eine Form der Berechnung aus empirischen Größen und deren Überprüfung als möglichst hoch widerspruchsfreie Berechnung an den empirischen Erscheinungen selbst. SMC-Modelle kommen dann zur Anwendung, wenn ein zukünftiger Systemzustand wie etwa in der mobilen Robotik oder in der mobilen Navigation lediglich als wahrscheinlich, also in einem statischen Mittelwert bekannt ist. Gemessen an der aktuellen Positionsbestimmung ist also der zukünftige Zustand eine Stör- bzw. Fehlergröße, eine Größe, die nicht oder nur unvollständig empirisch beobachtet werden kann. SMC-Methoden kommen somit zur Anwendung, wenn in der Anwendung sichtbare und unsichtbare Zustände zugleich zu berechnen bzw. zu schätzen sind, also etwas, was der traditionellen naturwissenschaftlichen Methodik geradezu extrem widerspricht, dass sie sich nicht mehr allein auf empirisch messbare, sichtbare Erscheinungen bezieht, sondern die Welt sich in sichtbaren und unsichtbaren Variablen operationalisieren und so in Aussagen über den wahrscheinlichsten Systemzustand des dynamischen Systems formulieren lässt. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar.

Eine Stadtsparkasse in Hamburg will wissen, wie sich ihre Kundenstruktur und das Sparvermögen entwickeln. Sie rechnet mit Profildaten der Kunden und Daten der Kontobewegungen und erhält ein strukturiertes Ergebnis auf ihre Eingangsfrage. Nun will die Sparkasse in München dieselbe Frage beantwortet haben und macht dazu dasselbe wie die Sparkasse in Hamburg. Es können nun alle 350 Sparkassenfilialen dasselbe unternehmen, die Zentrale kann aus den Daten der Filialen ein Gesamtergebnis berechnen und auch Projektionen aus den vorhandenen Daten für eine Entwicklung der Kunden und Konten in der Zukunft berechnen. Konzentrieren wir uns auf zwei Faktoren: einmal auf empirische Daten und zum zweiten auf Projektionen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Hier ist nichts so wie in Monte Carlo, nichts ähnelt einem Sspieltisch und einem Spiel mit dem Zufall. Kommen nun aber SMC-Modelle in KI-Modellen zur Anwendung, ändert sich die Sachlage grundsätzlich. Dann können die Systemdynamik und die Messdynamik auch nichtlinear sein, es können Datenanalysen randomisiert werden, also ohne Input nach zufällig vorhandenen Mustern, Profilen usw. untersucht werden – wir formulieren das in einem analytischen Grundsatz: SMC-Methoden schätzen die gesamte unbekannte „Aposteriori-Wahrscheinlichkeitsdichte.

Am Beispiel unserer Sparkasse rechnet also Künstliche Intelligenz wie wir dies sehr ausführlich im Band V. beschrieben haben im Datenpool, ohne Input, allein nach Wahrscheinlichkeiten und Mustererkennungen und gewichtet diese solange, bis ein möglichst fehlerfreies Ergebnis, gleich welcher Art, herausgekommen ist. Das könnte die Zentrale der Sparkassen mit vielen Datenpools aus den Filialen nun machen und das Ergebnis der A-posteriori-Wahrscheinlichkeiten miteinander korrelieren oder als Spezifika einer Filiale für weitere Schlussfolgerungen und Maßnahmen behandeln. Nehmen wir lineare Wahrscheinlichkeiten in unsere Formelsammlung, dann sind solche Berechnungsmethoden nach Gaußschen Verteilungen Ergebnisse (Outputs) auf Eingangsfragen (Inputs). Nach SMC-Methoden geschätzte Verteilungen sind nicht-gaußsche Verteilungen, die multimodal sein können, d. h. die Verteilung kann mehrere Maxima haben, und jede einzelne Schätzung bzw. Simulation möglicher Zustände eines Systems sind leicht parallelisierbar. Störfaktoren sind bei linearen wie nicht-linearen Verteilungen von Wahrscheinlichkeiten prinzipiell „verborgene“, d. h. nicht sichtbare Systemzustände und keine Messung kann die Systemzustände korrekt wiedergeben. Aber sie sind mit sequenziellen, nichtlinearen Methoden der Stochastik erratbar, schätzbar und diese Schätzungen sind mit einer hohen Wahrscheinlichkeitsdichte qualifiziert.

Wir nehmen uns deshalb für die SMC-Methoden so viel Zeit, weil überwiegend die Auseinandersetzung und die Kritik an der Stochastik, außerhalb mathematischer Kenntnisse formuliert, am eigentlichen Problem vorbeigreift. Das Problem liegt nicht darin, dass geraten und geschätzt wird, dass Mathematik wie in einem Würfelspiel aus gewöhnlichen Differenzialgleichungen und Integralgleichungen (siehe Band V. Kap. 5) den Zusammenhang zwischen dem Wert einer Funktion und ihrer momentanen Änderung, mathematisch gesprochen, ihrer Ableitung, in einer Gleichung zu formulieren versucht. Gerade hier liegt nicht das Problem, dass stochastische Prozesse, also Zufallsprozesse per definitionem nicht differenzierbar sind, gleichwohl sie zeitlich geordnete Vorgänge von Zufällen beschreiben . Wir werden gleich dazu kommen, dass nicht die mathematischen Schätzmethoden das eigentliche Problem darstellen, sondern deren Einsatz in der KI und der Anwendung deren Rechen-Ergebnisse im Alltag der Menschen. Hier zeigt der „bewusstseinsverändernde Effekt“ bereits seine Spuren in der neuen Semantik des Realen, die anstelle der Ambivalenz im Dasein, sofern es sich auf die Zukunft richtet, nurmehr hoch-wahrscheinliche Eindeutigkeiten kalkuliert – das Denken wird zur Informationsverarbeitung; doch dazu später mehr. Derzeit gewöhnen wir uns daran, dass wir mit Ergebnissen leben lernen, sprichwörtlich, die aus linearen und nicht-linearen Prozessmodellen, aus deterministischen und zufallsbedingten Modellen entstammen und wir nicht, wissen, auf welchem Weg die Ergebnisse zustande gekommen sind. Was wir haben sind Ergebnisse, also Informationen, die Aussagen über die wahrscheinlichsten Zustände dynamischer Systeme beinhalten und die für uns jede Ambivalenz verlieren bzw. bereits heute schon auch ohne KI bereits verloren haben.

Stellen Sie sich vor, Sie sind geboren in eine Zeit, die nur Smartphones, keine Telefone, keine Telefonzellen, keine Verbindungsassistentinnen und endlose Wartezeiten auf eine Verbindung mit dem Heimatland aus der Urlaubsregion kennt. Sie kennen nur das Smartphone, sonst nichts. Stellen Sie sich nun vor, Sie leben in einer Zeit, die Arbeit neu definiert und organisiert hat. Sie sind immer erreichbar, weil ihr Smartphone Daten an Ihren Arbeitgeber – Sie arbeiten dann natürlich für mehrere Arbeitgeber – verschickt, damit der über Ihre Verfügbarkeit und Ressourcen Bescheid weiß; Sie kennen es nicht anders. Natürlich arbeiten Sie in einem Team und deshalb müssen die Daten von mehr als nur dem von Ihnen genutzten Smartphone abgeglichen werden, und natürlich sind das keine festen, sondern dynamische, sprich agile Teams, die sich vor aber auch während eines Jobs ändern können, und jetzt ahnen Sie es schon: taucht ein neuer Teampartner auf, wissen sie und Ihre Teamkollegen nicht, ob für den jemand aus dem Team geschmissen worden ist – Gründe dafür spielen keine Rolle und gibt es auch nicht – oder ob der seine Teilarbeit erledigt und sich bereits einem anderen Team angeschlossen hat. Und Sie machen sich auch keine Gedanken mehr über Ihren Job-Zustand, weil Sie es nicht anders kennen, dass Sie etwas erledigen und nicht wissen, ob das auch wirklich erledigt ist, und Sie einen neuen Job digital erhalten und die Chause so weitergeht, dass Sie ständig in Arbeit sind, Ihre Arbeit aber eine Abfolge sequentieller Tätigkeiten allein und in agilen Teams ist, von der Sie nicht gewusst und auch nicht in der Zukunft erfahren werden, welchen Wert sie hat, gleichwohl sie möglicherweise sogar recht gut bezahlt worden ist.

Vielleicht erkennen Sie beim Nachdenken über die Art und Weise wie Sie arbeiten, so etwas wie Störgeräusche oder ein Rauschen wie aus vergangenen Zeiten das Rauschen vom Urknall des Universums. Es spielt keine Rolle, ob Sie allein oder verschiedene Menschen verschiedene Fehlgeräusche im Rahmen ihrer Jobs wahrnehmen, nicht einmal, ob Sie immer wieder dieselben Fehlgeräusche wahrnehmen, vielleicht nehmen Sie ja irgendwann überhaupt keine Fehlgeräusche mehr wahr. Dann wäre der Gesamtzustand des System Jobs im Einklang mit seinen milliardenfachen Teilsystemen, die die konkreten Jobs bilden. Dann wäre also eine digitale Jobvermittlung, wie wir sie heute kennen, keine Börse mehr, die zwischen Job-Angebot und Job-Nachfrage vermittelt; das ist auch heute noch eine Art Marktdeterminismus, gleichwohl in Jobbörsen bereits sequenzielle stochastische Prozesse arbeiten und als Maschinenlernverfahren Anwendung finden. Hier aber kämpfen die Algorithmen noch mit systematischen Verzerrungen, mit sogenannten ‚Bias‘, also mit schlechten Entscheidungen, die aus Prozessen entstehen, die das Zustandekommen solcher schlechten Entscheidungen nicht erklären können. Irgendwelche Vorurteile, irgendwelche geschlechtsspezifischen Iterationen, kulturelle Segregationen, Motivationen, Geschmacks- und Persönlichkeits-Präferenzen usw. haben wir bereits in Band V. beschrieben und die sind auch aus Vermittlungsplattformen kaum herauszuhalten. Selbst wenn solche ‚Bias‘ auf ein Minimum reduziert werden können, durch Wiederholung algorithmischer Prozesse spielen sie doch eine Rolle und niemand findet dazu die jeweils richtige Rollen-Besetzung wie die zu einer Premiere eines Theaterstücks z.B.

Wir wissen seit Jahrtausenden, dass überall dort, wo Urteile gefällt und Entscheidungen getroffen werden, auch Fehlurteile und Fehlentscheidungen möglich sind, wie sehr man sich auch bemüht, diese Möglichkeiten der Ungewissheit klein zu halten. Unsere Prozesse der Entscheidungs- und „Urteilshygiene“ reichen im normalen Leben aus, denken wir an juristische Einspruchs- und Wiederaufnahmeverfahren, an die hierarchische Struktur unserer Gerichtsbarkeit. Überall gibt es die „Checks and Balances“ in demokratischen Systemen aber sind solche Systeme an elektronischen Börsen etwa vorstellbar, eher nicht. Wären also Jobbörsen keine Vermittlungsplattformen, sondern wie eine elektronische Börse der Zukunft als Krypto Börse, als direkte Peer-to-Peer Beziehung zwischen Jobsuche und Jobangebot technisch und technologisch als Bitcoin- oder Ethereum-Technologie realisiert, dann wäre jeder Job ein Smart-Contract und im Gesamtsystem Jobbörse würde es kein Rauschen mehr geben bzw. nicht mehr wahrnehmbar sein.

Denn für die Beziehung Jobangebot und Jobsuche auf Krypto-Basis wäre es völlig irrelevant, ob irgendwo im Gesamtsystem „Arbeit“ ein Jobgeschäft zustande kommt oder nicht oder ob beim Zustandekommen der Preis für eine Seite im Smart-Contract zu niedrig oder zu hoch ausgefallen ist, das alles wäre irrelevant, denn im Smart-Contract ist der vereinbarte Preis dokumentiert und nicht die Vielzahl nicht zustande gekommener Kontrakte. Und selbst in einer Analyse sämtlicher Smart-Contracts wäre die Lohnsumme lediglich eine Zahl, die die Frage, ob denn der Preis für einzelne oder eine Klasse von Jobs und damit die Entscheidung für den Kontrakt als solchen richtig und vernünftig war, nicht zu beantworten.
Alles ist, was der Fall ist – das hätte Wittgenstein wohl so in diesem Zusammenhang nicht gerne noch einmal unterschrieben, hätter er gewusst, wohin seine „Theorie“ uns führt, ist sie doch längst Realität geworden. Krypto Märkte mit Smart-Contracts sind völlig gleichgültig gegenüber Gewissheiten und darauf beruhenden Entscheidungen. Bei großen Märkten wie etwa den elektronischen Arbeitsmärkten sind Algorithmen auf Basis von SMC-Modellen Vermittlungsmärkten mit agierenden Menschen und deren einfachen Selektionsmodellen meilenweit überlegen; und deshalb werden wir sie auch in naher Zukunft erleben. Wer müht sich noch ab, Preise in verschiedenen Supermärkten zu vergleichen, wenn er oder sie bequem von zuhause die günstigsten Preise online vermittelt bekommt? Wer vergleicht mühsam durch Telefonate, E-Mails oder SMS die Preise für Jobs, wenn er sie online vor sich hat und unter Best-Price Kalkülen per Click für sich sichern kann? Hier kommt es selten oder gar nicht zu strukturierten Entscheidungsprozessen, man schlägt einfach zu auf dem neuen Arbeitsmarkt. Nur wer wissen will, ob seine Entscheidung richtig, der Preis angemessen war, oder ob er seinen Überzeugungen gemäß gehandelt hat, wird sich mit Datenrauschen beschäftigen, aber wer wird dies in Zukunft sein?

Was immer auch an Rauschen in den Datenpools der neuen Welt der Digitalisierung enthalten sein mag, es wird kaum jemanden interessieren, was beim Zufall unter die Räder gekommen ist, was beim Schätzen und Raten hoch-effizienter Algorithmen vorbeigerauscht ist. Wer einen Job sucht, weil er einen braucht oder will, den interessiert nicht, welcher Zufall ihm dieses Angebot ausgewählt hat und welche Jobs zufällig nicht auf seinem Smartphone erschienen sind. War die traditionelle Welt der Arbeit noch eine, in der „Select the best“ ganz entscheidenden Einfluss auf die Vita resp. die Karriere hatte, so gilt zukünftig „Select is the best“. Was wir gerne übersehen ist, dass jeder Arbeitsmarkt mehr oder weniger ein Börsenmarkt war, auf dem Angebot und Nachfrage wie in einer Auktion nach sequenziellen Unterschieden gehandelt worden ist. Kam man zur rechten Zeit mit den richtigen Skills zum Arbeitgeber und war der Nachfragemarkt nach diesen Skills im Aufschwung, dann hatte man nicht nur gute Chancen, einen Job zu bekommen, man konnte in einer länger anhaltenden Aufschwungsphase sogar sein ‚Income‘ deutlich verbessern, wenn man den Arbeitgeber zwei- bis dreimal wechselte. Wer also sich seiner Skills gewiss war und seiner Überzeugung bei seinen Entscheidungen folgte, dass eine Karriere jetzt hoch-wahrscheinlich von Erfolg gekrönt sein wird, dass alle Versuche, Fehlanreize zu setzen, indem man recht tat, sich den langfristigen Angeboten seines Arbeitgebers immun gegenüber zu zeigen, hatte meistens auch seinen persönlichen Erfolg im Auktionsspiel am Arbeitsmarkt. Und er war nicht nur Gegenstand im Auktionsspiel, in dem der Arbeitgeber mehrere Jobsuchende zum Interview einlud und dann nach seinen Bedürfnissen entschied, sondern war selbst Auktionator seiner eigenen Arbeitskraft. Alles das wird es in einer Vielzahl von Berufen auf kurze Sict nicht mehr geben.

Wir sehen, literarisch fast schon gesprochen, Sachverhalte regelrecht verschwinden. Sachverhalte, die unser Leben organisiert, geregelt haben, und diese Regeln waren die Grundlage unseres Daseins wie wir dies an vielen Stellen unserer Philosophie zeigen konnten. Es sind die Regeln, die bestimmen, was ein Arbeitswert ist, was ein Zinssatz ist, was Eigentum und was Besitz und es ist die Politik, die nach Mehrheitsprinzip diese Regeln festlegt, verändert oder neu formuliert; einmal abgesehen von Geschichte und Kultur. Genau gesagt ist Politik, so sie wirklich demokratisch verfasst ist und ihren demokratischen Auftrag einhält, daran interessiert, solche Regel zu bestimmen, die den gesellschaftlichen Konsens als Rahmen für ein Zusammenleben und eine individuelle Bestimmung verbindlich für alle Mitglieder der Gesellschaft, also eines Rechtsgebietes formuliert. Nun ist unser Dasein in Gesellschaft weit mehr als ein rechtlicher Rahmen, den wir auf je individuelle oder kollektive Art und Weise ausfüllen, so gäbe es ja kaum Veränderungen im Rechtsrahmen selbst. Wir kennen daher auch zwei Formen von Veränderungen, einmal die aus kulturellen und deren individuellen Neuauslegungen und zum anderen jene Veränderungen, die in den juristischen Kanon von Grundsatzänderungen resp. Verfassungsänderungen eingehen.

Individuelle Auslegungen haben keinen Verbindlichkeits-Charakter, per definitionem schon nicht. Neue Trends, Moden, neue Semantiken durch technische, kulturelle, sozial-politischen etc. Veränderungen bleiben gewissermaßen innerhalb des bestehenden Rahmens, können, aber müssen diesen nicht verändern. Die individuellen Auslegungen sind, ontologisch gesprochen, zwar notwendig, aber nicht hinreichend, bleiben im Horizont der Affirmation, gleichwohl sie alle nicht deshalb schon die bestehende Kohärenz einer Gesellschaft bestätigen. Sie schöpfen das Veränderungspotential, also das Vorhandensein von Möglichkeiten individueller und kollektiver Auslegungen aus, ohne deshalb schon „revolutionär“ zu sein. Nehmen wir den traditionellen Begriff der Revolution, so richtet diese sich zentral gegen eine Regierung als Repräsentanten einer Verfassung, also ist eine Revolution zentral an der Veränderung bis zur Abschaffung einer bestehenden Verfassung orientiert, so die Revolution überhaupt weiß, was sie will, was in der Mehrzahl der Fälle aber durchaus eher selten der Fall war.

Wir sehen also im Prozess der immanenten, der gesellschaftskonformen Veränderungen, inkonformen Möglichkeiten gewissermaßen beim Wachstum zu. Dieses Wachstum gelingt nicht immer, aber davon sprechen wir später. Der Blick nur auf solche konstitutionellen Sachverhalte, die bedroht sind oder bereits im Verschwinden sich befinden, reicht daher nicht aus für ein wirklichkeitskonformes Bild, philosophisch gesprochen, für eine Ontologie des Wirklichen, da darin fundamentale Prozesse der Bildung neuer Möglichkeit und damit von Perspektiven im Wandel fehlen. Immanente Veränderungsprozesse haben wir genügend beschrieben, analysiert und in ihren Veränderungen begleitet und dabei aufgezeigt, welche Folgen und für wen in unserer Gesellschaft, für unsere wirtschaftlichen und kulturellen Formen des Zusammenlebens in Europa und ein wenig auch darüber hinaus, also weltweit diese zeichnen können. Die Zeichen der immanenten konstitutionellen Veränderungen zu entziffern ist dabei ein wenig leichter, also jene Zeichen des Wandels und der konstitutionellen wie der kulturellen Perspektiven der Veränderungen in der Zukunft zu entschlüsseln, weil wir, was die Zukunft angeht, nur schätzen und raten können, was im Wandel auch Bestand haben kann und wird. Nur leider gibt es mit der stochastischen Analyse auch keine probate Methode der Schätzung, der Vorhersage, was morgen passieren wird, gleichwohl sie im Modus des Möglichen, im „Kann-Modus“ sicherlich einige Vorteile hat und auch wir daher darauf nicht ganz verzichten wollen.

Wir haben bereits im Band V. uns mit Künstlicher Intelligenz ganz grundsätzlich und ein wenig auch en détail beschäftigt. Wir haben im Detail besonderen Wert daraufgelegt, was das für unser Dasein bedeutet, wenn das Bargeld verschwindet oder zu einem residualen Element der Finanzwirtschaft abgedrängt wird und gleichzeitig eine Kryptowährung wie der E-Euro entsteht (Band V. Kap. 6). Wir haben die Transformation der Sozialen und Liberalen Marktwirtschaft in eine zunehmend expansive Politische Ökonomie analysiert und die Folgen für die Menschen in den westlichen Industriestaaten skizziert. Wir haben die Transformationen des Bewusstseins der Menschen in den westlichen Industriestaaten, ihren semantischen Realismus im Wandel beschrieben und sind längst damit nicht fertig bis hierhin.

Dass es einen zunehmend beängstigenden Bewusstseinswandel in der Wahrnehmung der Wirklichkeit gibt, davon haben die Ereignisse der letzten zehn bis fünfzehn Jahre dramatisch berichtet, sowohl was die USA aber auch die EU angeht. Für uns waren dabei die sozialen Medien, die Verbreitung von Verschwörungstheorien etc. lediglich Oberflächenphänomene, mit denen man sich zwar beschäftigen, denen man aber keineswegs diese Bedeutung zuschreiben muss, wie dies nicht nur in den traditionellen Medien geschieht, sondern leider auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Wir haben uns ein wenig unterhalb der Erdoberfläche bewegt und die Gründe für den Bewusstseinswandel der Öffentlichkeit in den diskreten Strukturen der Politischen Ökonomie, also der zunehmenden Interferenz von Ökonomie und Politik gefunden und dabei die Geldwirtschaft und die Finanzwirtschaft als die treibenden Kräfte der Transformation in eine Politische Ökonomie mit entsprechender Semantik und fatalen Folgen für Staat und Gesellschaft ausgemacht.

Wir könnten weiter aufzählen aber wollen an dieser Stelle lieber einen Ausblick formulieren, für den wir im nächsten Band unserer Philosophie des menschlichen Daseins den Titel: ‚Perspektiven‘ gewählt haben. Wie gesagt, es ist schwer, die Zukunft vorherzusagen und auch uns sollte das nicht gelingen. Also begnügen wir uns damit, diese für jede Philosophie, sprich Ontologie, also Auslegung der Wirklichkeit notwendige geistige Arbeit wie bisher zu erledigen und dabei darauf zu achten, dass Zukunft nichts anderes ist als ein Begriff, der als die kulturelle Arbeit der Menschen bestimmt sein sollte, will man es nicht bei Bildungsaspekten belassen. Zukunft in Arbeit haben wir das an anderer Stelle einmal genannt, um unserer praktischen Philosophie jenen Aspekt hinzuzufügen, der aus bereits sichtbarem Wandel sich vorstellen will, was möglicherweise daran an zukünftigen neuen Sachverhalten sich entfalten kann, wahrscheinlich auch wird.
Dazu gehören eine ganze Reihe von Sachverhalten, die neu zu bestimmen sein werden, wie etwa eine Neubestimmung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, was wahrscheinlich die Veränderung mit der größten Reichweite sein wird. Nicht viel weniger wird eine Neubestimmung auf unser Leben sich auswirken, die wir heute im Zusammenhang mit dem „Sterben der Innenstädte“ verbinden. Es muss ja nicht immer in der semantischen Drastigkeit des modernen Journalismus formuliert werden, aber wenn, wie es scheint, die alte Zeit der Städte mit ihren Konsumzentren und den exklusiven Straßenzügen von Banken und Konzernzentralen langsam aber deutlich sichtbar zuende geht, was wird dann aus unseren Städten?

Natürlich kommen wir nicht umhin, uns den neuen Formen der Arbeit zuzuwenden und darin auch das Thema zu beachten, ob und wie sich Unternehmen in Zeiten der Digitalisierung verändern. Das steht natürlich auch im Zusammenhang mit Cloud- und Big Data-Technologien, die nicht nur eine entscheidende Rolle in der Arbeitswelt spielen werden, auch beim autonomen Fahren und in einer Vielzahl von Entscheidungsprozessen, die auf eine Verbesserung innerhalb bestehender Systeme wie Politik und Wirtschaft sowie auf die Beurteilung und der Wahl aus den neuen Möglichkeiten, unsere Zukunft zu gestalten, hinzielen. Gewiss liegen hier die entscheidenden Punkte einer jeden bestehenden und zukünftigen Ontologie, dass wir nicht nur unsere Welt auslegen und im Verständnis unterschiedlicher Auslegungen und Ansichten, Vorstellungen und Meinungen in einer demokratischen Auseinandersetzung unsere Zukunft gestalten. In den meisten Fällen haben wir es bereits mit gefällten, mit niedergeschriebenen und justiziablen, mit vertraglich verbrieften Entscheidungen zu tun, an deren Zustandekommen wir nicht bzw. immer seltener beteiligt sind.

Entscheidungen wie wir sie im Alltag antreffen, haben selten etwas zu tun mit einer Auseinandersetzung unter verschiedenen Beteiligten und wenn doch, dann sind die Ergebnisse solcher Auseinandersetzungen, sagen wir Diskurse, noch seltener relevant. Von zentraler Bedeutung aber ist, dass Entscheidungen in den überwiegenden Fällen, ganz gleich an welchem Ort sie getroffen werden, aus Schlussfolgerungen bestehen, die wiederum auf Urteilen gründen, bei denen die Wahrheit diskret, unbekannt oder gänzlich unerkennbar ist, das haben wir in diesem und im letzten Band aus vielen Blickwinkeln beleuchtet, vor allem in Hinsicht auf KI, die bei den meisten Entscheidungen in der Zukunft maßgeblich beteiligt sein wird. Wäre die Wahrheit bei Entscheidungen, die wir fällen, bekannt, wären alle Entscheidungen auch richtig, vernünftig, angemessen, zweckmäßig, verlässlich usw. Dass dem aber mehrheitlich nicht so ist, erfährt jeder und weiß auch jeder.
Bis heute sind es nicht nur die Philosophen, die davon ausgehen, dass sich eine Wahrheit durch rechtes Denken herausfinden lässt, zumindest eine Wahrheit, die von praktischer Relevanz und im Pragmatismus gerechtfertigt ist. Auch wir alle gehen alltäglich davon aus, dass wir Wahrheit zumindest darin finden, das Richtige zu tun, zumindest angemessen zu handeln, gleichwohl unsere alltägliche Erfahrung im Umgang mit Politik und Wirtschaft allein schon mehr als deutlich macht, dass diese Vorstellung und Erwartung eher fromme Wünsche bleiben. Viel öfter als eine Wahrheit und ihren Diskurs aber beschäftigen uns post festum bzw. als eine A-posteriori-Frage in der öffentlichen wie in Organisationen verschiedenster Art und weltweit die Urteilsfehler, die wir irgendwann einmal erkannt zu haben scheinen, ohne gleich wiederum Gründe angeben zu können, die unsere Urteilsfehler verändern und vermeiden könnten; eher machen wir Fehler in der Beurteilung, Bewertung und in Entscheidungen mehrmals, nicht selten der gleichen Art. Wir werden uns daher wohl auch mit der Frage beschäftigen müssen, woran das liegt und wahrscheinlich auch Formen des Umgangs finden müssen, Fehler zu vermeiden, ohne deren Gründe zu kennen; das klingt schwierig, ist es auch.

Die Felder, auf denen Vorhersagen und Entscheidungen für unsere Zukunft betroffen sind, sind ubiquitär und allesamt hoch-relevant, betreffen sie uns doch unmittelbar oder mittelbar so stark, dass wir ihnen kaum ausweichen können. In der Medizin und ihren Nachbardisziplinen wie etwa die Psychiatrie werden täglich weitreichende Entscheidungen getroffen, deren Fehlertoleranz nicht nur möglichst gering sein sollte; dies gilt auch für die medizinische Forschung. In der Wirtschaft, das haben wir ausführlich diskutiert, basieren die meisten Entscheidungen auf Informationen und informellen Zusammenhängen, deren Fehlerhaftigkeit existenzielle Folgen für das Unternehmen, für dessen Steak-Holder, Angestellte und Arbeiter wie deren Familien haben können. Die Finanzmärkte entscheiden in letzter Konsequenz oft über die Zukunft ganzer Volkswirtschaften und über die konkreten Lebensverhältnisse vieler Menschen, daher sollten uns die Prozesse der Entscheidungsfindung ein gewichtiges Anliegen sein.

Kaum ein Unternehmen, kaum ein Produkt auf seinem Weg in den Markt kommt heute ohne Vorhersagen professioneller Prognostiker aus, die oft dieselben Menschen bzw. Institute sind, die turnusmäßig uns mit Vorhersagen zum politischen Geschehen und vor Wahlen versorgen, allesamt nicht irrelevant. Wie könnte unser gesellschaftliches Leben, ohne sie aussehen? Wie könnten Unternehmen und Investoren ohne solche Vorhersagen Entscheidungen treffen, ohne Vorhersagen zur Marktentwicklung, zu den Absatzchancen der wichtigsten Produkte, ohne Vorhersagen zur Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und deren gesamtwirtschaftlicher Quoten, zur politischen und zur sozialen Stabilität einer Gesellschaft? Welchen Investor interessiert es nicht einzuschätzen, ob ein Unternehmen in Schieflage stürzt oder wieder aufgerichtet werden kann? Die Felder sind schier unendlich und die Fragen wie deren Beantwortung von oft existenzieller Bedeutung.
Was wir heute bereits erkennen können ist, dass die Welt sich darauf einstellt, ohne Wahrheit zu leben. Ohne Wahrheit und in Ungewissheit, aber deshalb längst nicht ohnmächtig, ahnungslos und allein dem Zufall oder einem unbekannten Schicksal folgend. Gleichwohl, wie wir mit unserer Zukunft verfahren bleibt eine Angelegenheit, von der wir mit größtmöglicher also erreichbarer Urteilssicherheit umgehen sollten; zu viel hängt davon ab, was wir wie heute dahingehend entscheiden. Wenn wir z.B. Kosten für die Bekämpfung der Pandemie und deren Auswirkungen entscheiden, die so hoch sind, dass Menschen, die heute in Deutschland geboren werden, in deren zwanzigstem Lebensjahr mit hoher Wahrscheinlichkeit deren Begleichung noch nicht abgeschlossen sein dürfte, dann haben unsere Entscheidungen eine weit über uns selbst hinausreichenden Geltungsbereich, so auch unsere Verantwortung. Es wäre also gut, wenn wir mehr über die unbekannten A-posteriori-Wahrscheinlichkeiten wüssten, die in unseren aktuellen Entscheidungen enthalten sind.

Das Paradox unseres Daseins beginnt damit, dass es zwar mit absoluter Sicherheit auf sein Ende zuläuft, die große Sintflut nach uns aber ausbleibt, jedenfalls in unserer Form der Daseinsauslegung. Sie trifft natürlich die Anderen, die, die nach uns kommen und die, die bereits heute mit uns leben oder gerade noch nicht geboren sind. Die werden nass, weil wir die Schleusen geöffnet haben. Wir können es uns einfach nicht wirklich leisten, etwas zu entscheiden und dann zu sagen, wenn es sich als falsch bis verheerend herausgestellt hat: Pech, wir wussten es nicht besser. Also müssen wir in und für die Zukunft Gedanken machen darüber, wie wir bessere Entscheidungen herbeiführen, einmal bei ganz speziellen Themen wie, ganz oben auf der Agenda, den Klimawandel. Aber wichtiger noch ist, dass wir Entscheidungen generell auf eine neue Art und Weise treffen, Entscheidungen, die von politischer, von sozialer und kultureller Relevanz sind. Das gehen wir im nächsten Band an.