Der Kalman-Effekt

Was kaum noch jemand wirklich anzweifelt ist, ob menschlichem Verhalten tatsĂ€chlich mit den mathematischen Methoden beizukommen ist, ob dies ĂŒberhaupt möglich ist? Denn es wird immer schwerer vorstellbar, dass eine andere Wissenschaft als die Mathematik oder mit Methoden der analytischen Sprachwissenschaft oder den der Kulturwissenschaften brauchbare Daseinsauslegungen möglich sind. Was können alle diese Wissenschaften zusammen gegen einen einzigen mathematischen Filter, den „Kalman-Filter“ ausrichten? Es gibt viele, wahrscheinlich die meisten Menschen, die in einer mittleren Kleinstadt nach zwei Richtungswechsel und ein paar Hundert Metern nicht mehr wissen, wie sie wieder zum Ausgangspunkt zurĂŒckkommen. Oder wĂŒrden Sie auf die analytische Philosophie oder auf die Kulturwissenschaften vertrauen, dass die den Kurs zum Mond und wieder zurĂŒck richtig berechnen und in die Kapsel einsteigen? Wohl nicht!

Mit der Methode des Kalman-Filters bringt einen die Mathematik prinzipiell fast ĂŒberall hin, aber der Filter kann viel mehr, als nur verĂ€nderliche Positionen und Geschwindigkeiten gemeinsam so prĂ€zise schĂ€tzen, dass Fehler in der SchĂ€tzung so minimal sind, dass man sie vernachlĂ€ssigen kann. Denn der Filter dient dazu, nicht direkt messbare SystemgrĂ¶ĂŸen zu schĂ€tzen, wĂ€hrend gleichzeitig die Fehler der Messungen optimal auf ein Minimum reduziert werden. Deshalb kommt diese Methode auch in Echtzeitsystemen verschiedener technischer Anwendungsbereiche zum Einsatz, u.a. die Auswertung von Radarsignalen oder GNSS-Daten zur Positionsbestimmung sich bewegender Objekte (Tracking), aber auch der Einsatz in allgegenwĂ€rtigen elektronischen Regelkreisen in Kommunikationssystemen wie etwa Radio oder Mobilfunk oder in der Steuerung von elektromobilen Fahrsystemen. Dass der Filter verlĂ€sslich funktioniert hat er beim Einsatz im Apollo-Programm der USA bewiesen. Er ist heute im Einsatz in der sogenannten Inertial Navigation, bei der wĂ€hrend des Flugs Beschleunigungs- und Drehdaten des Flugzeugs gemessen werden, um Kurzzeit-Navigationen zu ermöglichen. Verschiedenen weitere Sensoren, besonders Satellitendaten liefern dazu weitere StĂŒtzdaten, die dann mit den Daten der Kurzzeitnavigation verknĂŒpft werden, aus der dann eine optimale SchĂ€tzung der aktuellen Flugzeugposition und eine Kursprojektion, also eine Orientierung ermöglicht wird. Der Kalman-Filter ist in der Lage, verschiedene Datentypen miteinander zu verbinden und gleichzeitig Ungenauigkeiten bei der SchĂ€tzung und Projektion auf ein Minimum zu reduzieren.

Jeder Datentyp hat sein eigenes „Rauschen“ und das musste in der Vergangenheit fĂŒr jeden Datentyp einzeln reduziert werden. „Zunehmend spielen Trackingverfahren und somit das Kalman-Filter als typischer Vertreter eines Trackingfilters eine Rolle im Automobilbereich. Sicherheits- oder Komfortanwendungen, die auf Umfeld erkennenden Systemen basieren, sind auf verlĂ€ssliche Informationen (z.B. Position, Geschwindigkeit) bezĂŒglich der Objekte in ihrem Umfeld angewiesen. Bei autonomen Landfahrzeugen werden Kalman-Filter zur Reduzierung des Rauschens von Lidar- und RadargerĂ€ten eingesetzt. Eine ebenfalls oft verwendete Art eines Kalman-Filters, das PLL-Filter, hat heute weite Verbreitung gefunden in Radios, FunkgerĂ€ten, Computern und in fast allen anderen Arten von Video- und KommunikationsgerĂ€ten. In der Makroökonomik werden Kalman-Filter zur SchĂ€tzung von dynamisch-stochastischen Allgemeinen Gleichgewichtsmodellen (DSGE-Modelle) eingesetzt. In der Meteorologie setzt man sie zur Datenassimilation bei der Bestimmung des Ausgangszustandes bei der numerischen Wettervorhersage ein.“ Jeder Student der Statistik kennt den Filter und weiß dessen Genauigkeit gegenĂŒber einfacheren Filtern wie z.B. den „gleitenden Mittelwert“ zu schĂ€tzen.

Wie der gleitende Mittelwert ist der Kalman-Filter auch eine Methode der Ermittlung eines SchĂ€tzwertes, nur dass hier eine mehrdimensionale Normalverteilung zur SchĂ€tzung herangezogen wird. Mehrdimensionale Normalverteilungen reprĂ€sentieren aber nicht nur Verteilungen von Wahrscheinlichkeiten möglicher Fehler um jeden einzelnen SchĂ€tzwert, sondern reprĂ€sentieren auch Korrelationen zwischen SchĂ€tzfehlern unterschiedlicher Variablen. „Mit dieser Information werden in jedem Zeitschritt die bisherigen SchĂ€tzwerte mit den neuen Messungen auf optimale Weise kombiniert, so dass verbleibende Fehler des Filterzustands schnellstmöglich minimiert werden. Der momentane Filterzustand aus SchĂ€tzwerten, FehlerschĂ€tzungen und Korrelationen bildet dabei eine Art GedĂ€chtnis fĂŒr die gesamte bisher gewonnene Information aus vergangenen Messwerten. Nach jeder neuen Messung verbessert das Kalman Filter die bisherigen SchĂ€tzwerte und aktualisiert die zugehörigen FehlerschĂ€tzungen und Korrelationen.“ (ebenda). So spricht man heute bei Kalman-Filter von einer „Zustandsraummodellierung“, bei der, im Gegensatz zu traditionellen Filtern der Zeitreihenanalyse explizit zwischen der Dynamik eines Systemzustands und dem Prozess der Messung unterschieden werden kann, was natĂŒrlich gerade bei solchen Anwendungen von enorm besserer Effizienz ist, die sich mit dynamischen Systemen beschĂ€ftigt, also mit allen Datentypen, die aus Bewegungsdaten bestehen.
Die Verbindung von verschiedenen Typen von Daten und deren Bewegungsprofilen ist heute eine gÀngige Methode bei vielen Anwendungen im Bereich Big Data, bei einer Vielzahl von Datenauswertungen aus den sozialen Medien sowie in ökonomischen ZusammenhÀngen. Dabei hat sich der Eindruck verfestigt, dass Big Data Analysen nicht nur das Mittel der Wahl bei allen möglichen Anwendungen sei, man glaubt einfach mittlerweile an die zahllosen Möglichkeiten der Datenanalysen unter Einbeziehung von Bewegungs- und Beschleunigungsdaten, was ja bekanntlich fast alle Datengebiete heute umfasst.

Dabei wird in Zeitreihenanalysen fast alles an Variablen miteinander kombiniert, was nur in einigermaßen gĂŒnstiger Reichweite stochastischer Möglichkeiten sich befindet. Altersentwicklung wird kombiniert mit wirtschaftlicher Entwicklung und Gesundheits- wie GlĂŒcksentwicklung und kommt in nationalen wie internationalen Studien in hoher StĂŒckzahl auf den Markt, wo es von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft aufgegriffen und sodann zweckrational eingesetzt, man kann auch sagen, missbraucht wird.
Nun weiß die Stochastik natĂŒrlich, dass der Kalman-Filter seine Effizienz dort findet, wo es um lineare Zustandsraummodelle, weniger, wenn es um nichtlineare Zustands- oder Beobachtungsgleichungen geht. Aber der Kalman-Filter hat bereits seine Nachfolger gefunden, die auch nichtlineare Zustandsgleichungen bzw. NĂ€herungs- und SchĂ€tzverfahren beherrschen. Mit der Entwicklung leistungsfĂ€higer digitaler Rechentechnologie werden die meisten anspruchsvollen, nichtlinearen Filterprobleme durch Simulationen, im Fachterminus ‚sequentielle Monte-Carlo-Methoden‘ oder anderweitige NĂ€herungsverfahren wie etwa Quadratur-Filter, Gaußsummenfilter, Projektionsfilter u.a. behandelt.
Sie haben in der Folge des Kalman-Filters einen Effekt bestÀtigt, der unmerklich um sich gegriffen hat und den Mythos der Vorhersagbarkeit der Zukunft, der wahrscheinlich Àlteste Traum der Menschheit, viel Àlter als der Traum zu fliegen, realisiert hat. Nun aber und zeitgleich mit der Entwicklung stochastischer Filter hat die Mathematik nicht nur unsere Orientierung in der Welt des Seienden, sondern auch in der Welt des (noch) Nicht-Seienden auf radikalste Weise verÀndert. Wir orientieren uns nicht mehr allein an unseren Erfahrungen und projizieren diese als Wahrscheinlichkeiten in die Zukunft, immer voraussetzend, dass die Zukunft auch eine lineare Entwicklung aus der Vergangenheit heraus ist, sondern schÀtzen nun die Zukunft an sich.

DIE SICHTBARKEIT DES UNSICHTBAREN

So wird die Zukunft zu einem geschĂ€tzten Zustand. Denn sequenzielle Monte-Carlo-Methoden (SMC-Modelle) gehören zur Klasse der stochastischen Verfahren, die ZustĂ€nde in einem dynamischen Prozess errechnen, wobei die Zukunft nun als ein SchĂ€tzwert möglicher ZustĂ€nde mit grĂ¶ĂŸter Wahrscheinlichkeit besteht. Das klingt nicht sonderlich beeindruckend, ist aber revolutionĂ€r innerhalb der Mathematik sowie auch fĂŒr die Wahrnehmung des Menschen, gerade auch, was seine Gegenwart betrifft. Wir kennen bislang alle Aussagen ĂŒber die Zukunft, ontologisch gesehen, als ambivalente Aussagen. So sagen wir, wir vermuten, dass etwas passieren oder sein wird, wissen es aber nicht. Wir ahnen, dass es so sein wird, wir stellen uns etwas vor, aber wir wissen es eben nicht oder nicht genau. NatĂŒrlich gehen wir mit der Ambivalenz seit Jahrtausenden um und haben erfahren, dass etwas dann doch so eintreten kann, wie wir es uns vorgestellt, wie wir es geahnt oder vermutet haben und haben daraus eine Erfahrung werden lassen, die uns stets vergewissert hat, dass bei jeder Vorstellung, Vermutung oder Ahnung uns dieselbe Ambivalenz der Zukunft begegnet, wir also noch nicht wissen, ob etwas eintritt oder nicht. Ontologisch betrachtet jonglieren wir geradezu mit der Ambivalenz, die aus zwei Momenten der Ansicht besteht, die die Ambivalenz bilden, aus einer inneren, verborgenen Ansicht und einer Ă€ußeren, sichtbaren Ansicht, so wie wenn wir dunkle Wolken am Himmel aufziehen sehen, die sich zu einem Kumulus Nimbus aufbauen und der Skipper aufruft, ‚Großsegel einzuholen und Sturmfock vorbereiten‘.

Wir kennen die Naturwissenschaften als empirische Wissenschaften, die sich mit sichtbaren, selbst noch im mikroskopischen Bereich messbaren GrĂ¶ĂŸen bzw. deren Variablen beschĂ€ftigten. Hier besteht die KohĂ€renz des Gegenstandes und dessen Konsistenz als eine Form der Berechnung aus empirischen GrĂ¶ĂŸen und deren ÜberprĂŒfung als möglichst hoch widerspruchsfreie Berechnung an den empirischen Erscheinungen selbst. SMC-Modelle kommen dann zur Anwendung, wenn ein zukĂŒnftiger Systemzustand wie etwa in der mobilen Robotik oder in der mobilen Navigation lediglich als wahrscheinlich, also in einem statischen Mittelwert bekannt ist. Gemessen an der aktuellen Positionsbestimmung ist also der zukĂŒnftige Zustand eine Stör- bzw. FehlergrĂ¶ĂŸe, eine GrĂ¶ĂŸe, die nicht oder nur unvollstĂ€ndig empirisch beobachtet werden kann. SMC-Methoden kommen somit zur Anwendung, wenn in der Anwendung sichtbare und unsichtbare ZustĂ€nde zugleich zu berechnen bzw. zu schĂ€tzen sind, also etwas, was der traditionellen naturwissenschaftlichen Methodik geradezu extrem widerspricht, dass sie sich nicht mehr allein auf empirisch messbare, sichtbare Erscheinungen bezieht, sondern die Welt sich in sichtbaren und unsichtbaren Variablen operationalisieren und so in Aussagen ĂŒber den wahrscheinlichsten Systemzustand des dynamischen Systems formulieren lĂ€sst. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar.

Eine Stadtsparkasse in Hamburg will wissen, wie sich ihre Kundenstruktur und das Sparvermögen entwickeln. Sie rechnet mit Profildaten der Kunden und Daten der Kontobewegungen und erhĂ€lt ein strukturiertes Ergebnis auf ihre Eingangsfrage. Nun will die Sparkasse in MĂŒnchen dieselbe Frage beantwortet haben und macht dazu dasselbe wie die Sparkasse in Hamburg. Es können nun alle 350 Sparkassenfilialen dasselbe unternehmen, die Zentrale kann aus den Daten der Filialen ein Gesamtergebnis berechnen und auch Projektionen aus den vorhandenen Daten fĂŒr eine Entwicklung der Kunden und Konten in der Zukunft berechnen. Konzentrieren wir uns auf zwei Faktoren: einmal auf empirische Daten und zum zweiten auf Projektionen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Hier ist nichts so wie in Monte Carlo, nichts Ă€hnelt einem Sspieltisch und einem Spiel mit dem Zufall. Kommen nun aber SMC-Modelle in KI-Modellen zur Anwendung, Ă€ndert sich die Sachlage grundsĂ€tzlich. Dann können die Systemdynamik und die Messdynamik auch nichtlinear sein, es können Datenanalysen randomisiert werden, also ohne Input nach zufĂ€llig vorhandenen Mustern, Profilen usw. untersucht werden – wir formulieren das in einem analytischen Grundsatz: SMC-Methoden schĂ€tzen die gesamte unbekannte „Aposteriori-Wahrscheinlichkeitsdichte.

Am Beispiel unserer Sparkasse rechnet also KĂŒnstliche Intelligenz wie wir dies sehr ausfĂŒhrlich im Band V. beschrieben haben im Datenpool, ohne Input, allein nach Wahrscheinlichkeiten und Mustererkennungen und gewichtet diese solange, bis ein möglichst fehlerfreies Ergebnis, gleich welcher Art, herausgekommen ist. Das könnte die Zentrale der Sparkassen mit vielen Datenpools aus den Filialen nun machen und das Ergebnis der A-posteriori-Wahrscheinlichkeiten miteinander korrelieren oder als Spezifika einer Filiale fĂŒr weitere Schlussfolgerungen und Maßnahmen behandeln. Nehmen wir lineare Wahrscheinlichkeiten in unsere Formelsammlung, dann sind solche Berechnungsmethoden nach Gaußschen Verteilungen Ergebnisse (Outputs) auf Eingangsfragen (Inputs). Nach SMC-Methoden geschĂ€tzte Verteilungen sind nicht-gaußsche Verteilungen, die multimodal sein können, d. h. die Verteilung kann mehrere Maxima haben, und jede einzelne SchĂ€tzung bzw. Simulation möglicher ZustĂ€nde eines Systems sind leicht parallelisierbar. Störfaktoren sind bei linearen wie nicht-linearen Verteilungen von Wahrscheinlichkeiten prinzipiell „verborgene“, d. h. nicht sichtbare SystemzustĂ€nde und keine Messung kann die SystemzustĂ€nde korrekt wiedergeben. Aber sie sind mit sequenziellen, nichtlinearen Methoden der Stochastik erratbar, schĂ€tzbar und diese SchĂ€tzungen sind mit einer hohen Wahrscheinlichkeitsdichte qualifiziert.

Wir nehmen uns deshalb fĂŒr die SMC-Methoden so viel Zeit, weil ĂŒberwiegend die Auseinandersetzung und die Kritik an der Stochastik, außerhalb mathematischer Kenntnisse formuliert, am eigentlichen Problem vorbeigreift. Das Problem liegt nicht darin, dass geraten und geschĂ€tzt wird, dass Mathematik wie in einem WĂŒrfelspiel aus gewöhnlichen Differenzialgleichungen und Integralgleichungen (siehe Band V. Kap. 5) den Zusammenhang zwischen dem Wert einer Funktion und ihrer momentanen Änderung, mathematisch gesprochen, ihrer Ableitung, in einer Gleichung zu formulieren versucht. Gerade hier liegt nicht das Problem, dass stochastische Prozesse, also Zufallsprozesse per definitionem nicht differenzierbar sind, gleichwohl sie zeitlich geordnete VorgĂ€nge von ZufĂ€llen beschreiben . Wir werden gleich dazu kommen, dass nicht die mathematischen SchĂ€tzmethoden das eigentliche Problem darstellen, sondern deren Einsatz in der KI und der Anwendung deren Rechen-Ergebnisse im Alltag der Menschen. Hier zeigt der „bewusstseinsverĂ€ndernde Effekt“ bereits seine Spuren in der neuen Semantik des Realen, die anstelle der Ambivalenz im Dasein, sofern es sich auf die Zukunft richtet, nurmehr hoch-wahrscheinliche Eindeutigkeiten kalkuliert – das Denken wird zur Informationsverarbeitung; doch dazu spĂ€ter mehr. Derzeit gewöhnen wir uns daran, dass wir mit Ergebnissen leben lernen, sprichwörtlich, die aus linearen und nicht-linearen Prozessmodellen, aus deterministischen und zufallsbedingten Modellen entstammen und wir nicht, wissen, auf welchem Weg die Ergebnisse zustande gekommen sind. Was wir haben sind Ergebnisse, also Informationen, die Aussagen ĂŒber die wahrscheinlichsten ZustĂ€nde dynamischer Systeme beinhalten und die fĂŒr uns jede Ambivalenz verlieren bzw. bereits heute schon auch ohne KI bereits verloren haben.

Stellen Sie sich vor, Sie sind geboren in eine Zeit, die nur Smartphones, keine Telefone, keine Telefonzellen, keine Verbindungsassistentinnen und endlose Wartezeiten auf eine Verbindung mit dem Heimatland aus der Urlaubsregion kennt. Sie kennen nur das Smartphone, sonst nichts. Stellen Sie sich nun vor, Sie leben in einer Zeit, die Arbeit neu definiert und organisiert hat. Sie sind immer erreichbar, weil ihr Smartphone Daten an Ihren Arbeitgeber – Sie arbeiten dann natĂŒrlich fĂŒr mehrere Arbeitgeber – verschickt, damit der ĂŒber Ihre VerfĂŒgbarkeit und Ressourcen Bescheid weiß; Sie kennen es nicht anders. NatĂŒrlich arbeiten Sie in einem Team und deshalb mĂŒssen die Daten von mehr als nur dem von Ihnen genutzten Smartphone abgeglichen werden, und natĂŒrlich sind das keine festen, sondern dynamische, sprich agile Teams, die sich vor aber auch wĂ€hrend eines Jobs Ă€ndern können, und jetzt ahnen Sie es schon: taucht ein neuer Teampartner auf, wissen sie und Ihre Teamkollegen nicht, ob fĂŒr den jemand aus dem Team geschmissen worden ist – GrĂŒnde dafĂŒr spielen keine Rolle und gibt es auch nicht – oder ob der seine Teilarbeit erledigt und sich bereits einem anderen Team angeschlossen hat. Und Sie machen sich auch keine Gedanken mehr ĂŒber Ihren Job-Zustand, weil Sie es nicht anders kennen, dass Sie etwas erledigen und nicht wissen, ob das auch wirklich erledigt ist, und Sie einen neuen Job digital erhalten und die Chause so weitergeht, dass Sie stĂ€ndig in Arbeit sind, Ihre Arbeit aber eine Abfolge sequentieller TĂ€tigkeiten allein und in agilen Teams ist, von der Sie nicht gewusst und auch nicht in der Zukunft erfahren werden, welchen Wert sie hat, gleichwohl sie möglicherweise sogar recht gut bezahlt worden ist.

Vielleicht erkennen Sie beim Nachdenken ĂŒber die Art und Weise wie Sie arbeiten, so etwas wie StörgerĂ€usche oder ein Rauschen wie aus vergangenen Zeiten das Rauschen vom Urknall des Universums. Es spielt keine Rolle, ob Sie allein oder verschiedene Menschen verschiedene FehlgerĂ€usche im Rahmen ihrer Jobs wahrnehmen, nicht einmal, ob Sie immer wieder dieselben FehlgerĂ€usche wahrnehmen, vielleicht nehmen Sie ja irgendwann ĂŒberhaupt keine FehlgerĂ€usche mehr wahr. Dann wĂ€re der Gesamtzustand des System Jobs im Einklang mit seinen milliardenfachen Teilsystemen, die die konkreten Jobs bilden. Dann wĂ€re also eine digitale Jobvermittlung, wie wir sie heute kennen, keine Börse mehr, die zwischen Job-Angebot und Job-Nachfrage vermittelt; das ist auch heute noch eine Art Marktdeterminismus, gleichwohl in Jobbörsen bereits sequenzielle stochastische Prozesse arbeiten und als Maschinenlernverfahren Anwendung finden. Hier aber kĂ€mpfen die Algorithmen noch mit systematischen Verzerrungen, mit sogenannten ‚Bias‘, also mit schlechten Entscheidungen, die aus Prozessen entstehen, die das Zustandekommen solcher schlechten Entscheidungen nicht erklĂ€ren können. Irgendwelche Vorurteile, irgendwelche geschlechtsspezifischen Iterationen, kulturelle Segregationen, Motivationen, Geschmacks- und Persönlichkeits-PrĂ€ferenzen usw. haben wir bereits in Band V. beschrieben und die sind auch aus Vermittlungsplattformen kaum herauszuhalten. Selbst wenn solche ‚Bias‘ auf ein Minimum reduziert werden können, durch Wiederholung algorithmischer Prozesse spielen sie doch eine Rolle und niemand findet dazu die jeweils richtige Rollen-Besetzung wie die zu einer Premiere eines TheaterstĂŒcks z.B.

Wir wissen seit Jahrtausenden, dass ĂŒberall dort, wo Urteile gefĂ€llt und Entscheidungen getroffen werden, auch Fehlurteile und Fehlentscheidungen möglich sind, wie sehr man sich auch bemĂŒht, diese Möglichkeiten der Ungewissheit klein zu halten. Unsere Prozesse der Entscheidungs- und „Urteilshygiene“ reichen im normalen Leben aus, denken wir an juristische Einspruchs- und Wiederaufnahmeverfahren, an die hierarchische Struktur unserer Gerichtsbarkeit. Überall gibt es die „Checks and Balances“ in demokratischen Systemen aber sind solche Systeme an elektronischen Börsen etwa vorstellbar, eher nicht. WĂ€ren also Jobbörsen keine Vermittlungsplattformen, sondern wie eine elektronische Börse der Zukunft als Krypto Börse, als direkte Peer-to-Peer Beziehung zwischen Jobsuche und Jobangebot technisch und technologisch als Bitcoin- oder Ethereum-Technologie realisiert, dann wĂ€re jeder Job ein Smart-Contract und im Gesamtsystem Jobbörse wĂŒrde es kein Rauschen mehr geben bzw. nicht mehr wahrnehmbar sein.

Denn fĂŒr die Beziehung Jobangebot und Jobsuche auf Krypto-Basis wĂ€re es völlig irrelevant, ob irgendwo im Gesamtsystem „Arbeit“ ein JobgeschĂ€ft zustande kommt oder nicht oder ob beim Zustandekommen der Preis fĂŒr eine Seite im Smart-Contract zu niedrig oder zu hoch ausgefallen ist, das alles wĂ€re irrelevant, denn im Smart-Contract ist der vereinbarte Preis dokumentiert und nicht die Vielzahl nicht zustande gekommener Kontrakte. Und selbst in einer Analyse sĂ€mtlicher Smart-Contracts wĂ€re die Lohnsumme lediglich eine Zahl, die die Frage, ob denn der Preis fĂŒr einzelne oder eine Klasse von Jobs und damit die Entscheidung fĂŒr den Kontrakt als solchen richtig und vernĂŒnftig war, nicht zu beantworten.
Alles ist, was der Fall ist – das hĂ€tte Wittgenstein wohl so in diesem Zusammenhang nicht gerne noch einmal unterschrieben, hĂ€tter er gewusst, wohin seine „Theorie“ uns fĂŒhrt, ist sie doch lĂ€ngst RealitĂ€t geworden. Krypto MĂ€rkte mit Smart-Contracts sind völlig gleichgĂŒltig gegenĂŒber Gewissheiten und darauf beruhenden Entscheidungen. Bei großen MĂ€rkten wie etwa den elektronischen ArbeitsmĂ€rkten sind Algorithmen auf Basis von SMC-Modellen VermittlungsmĂ€rkten mit agierenden Menschen und deren einfachen Selektionsmodellen meilenweit ĂŒberlegen; und deshalb werden wir sie auch in naher Zukunft erleben. Wer mĂŒht sich noch ab, Preise in verschiedenen SupermĂ€rkten zu vergleichen, wenn er oder sie bequem von zuhause die gĂŒnstigsten Preise online vermittelt bekommt? Wer vergleicht mĂŒhsam durch Telefonate, E-Mails oder SMS die Preise fĂŒr Jobs, wenn er sie online vor sich hat und unter Best-Price KalkĂŒlen per Click fĂŒr sich sichern kann? Hier kommt es selten oder gar nicht zu strukturierten Entscheidungsprozessen, man schlĂ€gt einfach zu auf dem neuen Arbeitsmarkt. Nur wer wissen will, ob seine Entscheidung richtig, der Preis angemessen war, oder ob er seinen Überzeugungen gemĂ€ĂŸ gehandelt hat, wird sich mit Datenrauschen beschĂ€ftigen, aber wer wird dies in Zukunft sein?

Was immer auch an Rauschen in den Datenpools der neuen Welt der Digitalisierung enthalten sein mag, es wird kaum jemanden interessieren, was beim Zufall unter die RĂ€der gekommen ist, was beim SchĂ€tzen und Raten hoch-effizienter Algorithmen vorbeigerauscht ist. Wer einen Job sucht, weil er einen braucht oder will, den interessiert nicht, welcher Zufall ihm dieses Angebot ausgewĂ€hlt hat und welche Jobs zufĂ€llig nicht auf seinem Smartphone erschienen sind. War die traditionelle Welt der Arbeit noch eine, in der „Select the best“ ganz entscheidenden Einfluss auf die Vita resp. die Karriere hatte, so gilt zukĂŒnftig „Select is the best“. Was wir gerne ĂŒbersehen ist, dass jeder Arbeitsmarkt mehr oder weniger ein Börsenmarkt war, auf dem Angebot und Nachfrage wie in einer Auktion nach sequenziellen Unterschieden gehandelt worden ist. Kam man zur rechten Zeit mit den richtigen Skills zum Arbeitgeber und war der Nachfragemarkt nach diesen Skills im Aufschwung, dann hatte man nicht nur gute Chancen, einen Job zu bekommen, man konnte in einer lĂ€nger anhaltenden Aufschwungsphase sogar sein ‚Income‘ deutlich verbessern, wenn man den Arbeitgeber zwei- bis dreimal wechselte. Wer also sich seiner Skills gewiss war und seiner Überzeugung bei seinen Entscheidungen folgte, dass eine Karriere jetzt hoch-wahrscheinlich von Erfolg gekrönt sein wird, dass alle Versuche, Fehlanreize zu setzen, indem man recht tat, sich den langfristigen Angeboten seines Arbeitgebers immun gegenĂŒber zu zeigen, hatte meistens auch seinen persönlichen Erfolg im Auktionsspiel am Arbeitsmarkt. Und er war nicht nur Gegenstand im Auktionsspiel, in dem der Arbeitgeber mehrere Jobsuchende zum Interview einlud und dann nach seinen BedĂŒrfnissen entschied, sondern war selbst Auktionator seiner eigenen Arbeitskraft. Alles das wird es in einer Vielzahl von Berufen auf kurze Sict nicht mehr geben.

Wir sehen, literarisch fast schon gesprochen, Sachverhalte regelrecht verschwinden. Sachverhalte, die unser Leben organisiert, geregelt haben, und diese Regeln waren die Grundlage unseres Daseins wie wir dies an vielen Stellen unserer Philosophie zeigen konnten. Es sind die Regeln, die bestimmen, was ein Arbeitswert ist, was ein Zinssatz ist, was Eigentum und was Besitz und es ist die Politik, die nach Mehrheitsprinzip diese Regeln festlegt, verĂ€ndert oder neu formuliert; einmal abgesehen von Geschichte und Kultur. Genau gesagt ist Politik, so sie wirklich demokratisch verfasst ist und ihren demokratischen Auftrag einhĂ€lt, daran interessiert, solche Regel zu bestimmen, die den gesellschaftlichen Konsens als Rahmen fĂŒr ein Zusammenleben und eine individuelle Bestimmung verbindlich fĂŒr alle Mitglieder der Gesellschaft, also eines Rechtsgebietes formuliert. Nun ist unser Dasein in Gesellschaft weit mehr als ein rechtlicher Rahmen, den wir auf je individuelle oder kollektive Art und Weise ausfĂŒllen, so gĂ€be es ja kaum VerĂ€nderungen im Rechtsrahmen selbst. Wir kennen daher auch zwei Formen von VerĂ€nderungen, einmal die aus kulturellen und deren individuellen Neuauslegungen und zum anderen jene VerĂ€nderungen, die in den juristischen Kanon von GrundsatzĂ€nderungen resp. VerfassungsĂ€nderungen eingehen.

Individuelle Auslegungen haben keinen Verbindlichkeits-Charakter, per definitionem schon nicht. Neue Trends, Moden, neue Semantiken durch technische, kulturelle, sozial-politischen etc. VerĂ€nderungen bleiben gewissermaßen innerhalb des bestehenden Rahmens, können, aber mĂŒssen diesen nicht verĂ€ndern. Die individuellen Auslegungen sind, ontologisch gesprochen, zwar notwendig, aber nicht hinreichend, bleiben im Horizont der Affirmation, gleichwohl sie alle nicht deshalb schon die bestehende KohĂ€renz einer Gesellschaft bestĂ€tigen. Sie schöpfen das VerĂ€nderungspotential, also das Vorhandensein von Möglichkeiten individueller und kollektiver Auslegungen aus, ohne deshalb schon „revolutionĂ€r“ zu sein. Nehmen wir den traditionellen Begriff der Revolution, so richtet diese sich zentral gegen eine Regierung als ReprĂ€sentanten einer Verfassung, also ist eine Revolution zentral an der VerĂ€nderung bis zur Abschaffung einer bestehenden Verfassung orientiert, so die Revolution ĂŒberhaupt weiß, was sie will, was in der Mehrzahl der FĂ€lle aber durchaus eher selten der Fall war.

Wir sehen also im Prozess der immanenten, der gesellschaftskonformen VerĂ€nderungen, inkonformen Möglichkeiten gewissermaßen beim Wachstum zu. Dieses Wachstum gelingt nicht immer, aber davon sprechen wir spĂ€ter. Der Blick nur auf solche konstitutionellen Sachverhalte, die bedroht sind oder bereits im Verschwinden sich befinden, reicht daher nicht aus fĂŒr ein wirklichkeitskonformes Bild, philosophisch gesprochen, fĂŒr eine Ontologie des Wirklichen, da darin fundamentale Prozesse der Bildung neuer Möglichkeit und damit von Perspektiven im Wandel fehlen. Immanente VerĂ€nderungsprozesse haben wir genĂŒgend beschrieben, analysiert und in ihren VerĂ€nderungen begleitet und dabei aufgezeigt, welche Folgen und fĂŒr wen in unserer Gesellschaft, fĂŒr unsere wirtschaftlichen und kulturellen Formen des Zusammenlebens in Europa und ein wenig auch darĂŒber hinaus, also weltweit diese zeichnen können. Die Zeichen der immanenten konstitutionellen VerĂ€nderungen zu entziffern ist dabei ein wenig leichter, also jene Zeichen des Wandels und der konstitutionellen wie der kulturellen Perspektiven der VerĂ€nderungen in der Zukunft zu entschlĂŒsseln, weil wir, was die Zukunft angeht, nur schĂ€tzen und raten können, was im Wandel auch Bestand haben kann und wird. Nur leider gibt es mit der stochastischen Analyse auch keine probate Methode der SchĂ€tzung, der Vorhersage, was morgen passieren wird, gleichwohl sie im Modus des Möglichen, im „Kann-Modus“ sicherlich einige Vorteile hat und auch wir daher darauf nicht ganz verzichten wollen.

Wir haben bereits im Band V. uns mit KĂŒnstlicher Intelligenz ganz grundsĂ€tzlich und ein wenig auch en dĂ©tail beschĂ€ftigt. Wir haben im Detail besonderen Wert daraufgelegt, was das fĂŒr unser Dasein bedeutet, wenn das Bargeld verschwindet oder zu einem residualen Element der Finanzwirtschaft abgedrĂ€ngt wird und gleichzeitig eine KryptowĂ€hrung wie der E-Euro entsteht (Band V. Kap. 6). Wir haben die Transformation der Sozialen und Liberalen Marktwirtschaft in eine zunehmend expansive Politische Ökonomie analysiert und die Folgen fĂŒr die Menschen in den westlichen Industriestaaten skizziert. Wir haben die Transformationen des Bewusstseins der Menschen in den westlichen Industriestaaten, ihren semantischen Realismus im Wandel beschrieben und sind lĂ€ngst damit nicht fertig bis hierhin.

Dass es einen zunehmend beĂ€ngstigenden Bewusstseinswandel in der Wahrnehmung der Wirklichkeit gibt, davon haben die Ereignisse der letzten zehn bis fĂŒnfzehn Jahre dramatisch berichtet, sowohl was die USA aber auch die EU angeht. FĂŒr uns waren dabei die sozialen Medien, die Verbreitung von Verschwörungstheorien etc. lediglich OberflĂ€chenphĂ€nomene, mit denen man sich zwar beschĂ€ftigen, denen man aber keineswegs diese Bedeutung zuschreiben muss, wie dies nicht nur in den traditionellen Medien geschieht, sondern leider auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Wir haben uns ein wenig unterhalb der ErdoberflĂ€che bewegt und die GrĂŒnde fĂŒr den Bewusstseinswandel der Öffentlichkeit in den diskreten Strukturen der Politischen Ökonomie, also der zunehmenden Interferenz von Ökonomie und Politik gefunden und dabei die Geldwirtschaft und die Finanzwirtschaft als die treibenden KrĂ€fte der Transformation in eine Politische Ökonomie mit entsprechender Semantik und fatalen Folgen fĂŒr Staat und Gesellschaft ausgemacht.

Wir könnten weiter aufzĂ€hlen aber wollen an dieser Stelle lieber einen Ausblick formulieren, fĂŒr den wir im nĂ€chsten Band unserer Philosophie des menschlichen Daseins den Titel: ‚Perspektiven‘ gewĂ€hlt haben. Wie gesagt, es ist schwer, die Zukunft vorherzusagen und auch uns sollte das nicht gelingen. Also begnĂŒgen wir uns damit, diese fĂŒr jede Philosophie, sprich Ontologie, also Auslegung der Wirklichkeit notwendige geistige Arbeit wie bisher zu erledigen und dabei darauf zu achten, dass Zukunft nichts anderes ist als ein Begriff, der als die kulturelle Arbeit der Menschen bestimmt sein sollte, will man es nicht bei Bildungsaspekten belassen. Zukunft in Arbeit haben wir das an anderer Stelle einmal genannt, um unserer praktischen Philosophie jenen Aspekt hinzuzufĂŒgen, der aus bereits sichtbarem Wandel sich vorstellen will, was möglicherweise daran an zukĂŒnftigen neuen Sachverhalten sich entfalten kann, wahrscheinlich auch wird.
Dazu gehören eine ganze Reihe von Sachverhalten, die neu zu bestimmen sein werden, wie etwa eine Neubestimmung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, was wahrscheinlich die VerĂ€nderung mit der grĂ¶ĂŸten Reichweite sein wird. Nicht viel weniger wird eine Neubestimmung auf unser Leben sich auswirken, die wir heute im Zusammenhang mit dem „Sterben der InnenstĂ€dte“ verbinden. Es muss ja nicht immer in der semantischen Drastigkeit des modernen Journalismus formuliert werden, aber wenn, wie es scheint, die alte Zeit der StĂ€dte mit ihren Konsumzentren und den exklusiven StraßenzĂŒgen von Banken und Konzernzentralen langsam aber deutlich sichtbar zuende geht, was wird dann aus unseren StĂ€dten?

NatĂŒrlich kommen wir nicht umhin, uns den neuen Formen der Arbeit zuzuwenden und darin auch das Thema zu beachten, ob und wie sich Unternehmen in Zeiten der Digitalisierung verĂ€ndern. Das steht natĂŒrlich auch im Zusammenhang mit Cloud- und Big Data-Technologien, die nicht nur eine entscheidende Rolle in der Arbeitswelt spielen werden, auch beim autonomen Fahren und in einer Vielzahl von Entscheidungsprozessen, die auf eine Verbesserung innerhalb bestehender Systeme wie Politik und Wirtschaft sowie auf die Beurteilung und der Wahl aus den neuen Möglichkeiten, unsere Zukunft zu gestalten, hinzielen. Gewiss liegen hier die entscheidenden Punkte einer jeden bestehenden und zukĂŒnftigen Ontologie, dass wir nicht nur unsere Welt auslegen und im VerstĂ€ndnis unterschiedlicher Auslegungen und Ansichten, Vorstellungen und Meinungen in einer demokratischen Auseinandersetzung unsere Zukunft gestalten. In den meisten FĂ€llen haben wir es bereits mit gefĂ€llten, mit niedergeschriebenen und justiziablen, mit vertraglich verbrieften Entscheidungen zu tun, an deren Zustandekommen wir nicht bzw. immer seltener beteiligt sind.

Entscheidungen wie wir sie im Alltag antreffen, haben selten etwas zu tun mit einer Auseinandersetzung unter verschiedenen Beteiligten und wenn doch, dann sind die Ergebnisse solcher Auseinandersetzungen, sagen wir Diskurse, noch seltener relevant. Von zentraler Bedeutung aber ist, dass Entscheidungen in den ĂŒberwiegenden FĂ€llen, ganz gleich an welchem Ort sie getroffen werden, aus Schlussfolgerungen bestehen, die wiederum auf Urteilen grĂŒnden, bei denen die Wahrheit diskret, unbekannt oder gĂ€nzlich unerkennbar ist, das haben wir in diesem und im letzten Band aus vielen Blickwinkeln beleuchtet, vor allem in Hinsicht auf KI, die bei den meisten Entscheidungen in der Zukunft maßgeblich beteiligt sein wird. WĂ€re die Wahrheit bei Entscheidungen, die wir fĂ€llen, bekannt, wĂ€ren alle Entscheidungen auch richtig, vernĂŒnftig, angemessen, zweckmĂ€ĂŸig, verlĂ€sslich usw. Dass dem aber mehrheitlich nicht so ist, erfĂ€hrt jeder und weiß auch jeder.
Bis heute sind es nicht nur die Philosophen, die davon ausgehen, dass sich eine Wahrheit durch rechtes Denken herausfinden lĂ€sst, zumindest eine Wahrheit, die von praktischer Relevanz und im Pragmatismus gerechtfertigt ist. Auch wir alle gehen alltĂ€glich davon aus, dass wir Wahrheit zumindest darin finden, das Richtige zu tun, zumindest angemessen zu handeln, gleichwohl unsere alltĂ€gliche Erfahrung im Umgang mit Politik und Wirtschaft allein schon mehr als deutlich macht, dass diese Vorstellung und Erwartung eher fromme WĂŒnsche bleiben. Viel öfter als eine Wahrheit und ihren Diskurs aber beschĂ€ftigen uns post festum bzw. als eine A-posteriori-Frage in der öffentlichen wie in Organisationen verschiedenster Art und weltweit die Urteilsfehler, die wir irgendwann einmal erkannt zu haben scheinen, ohne gleich wiederum GrĂŒnde angeben zu können, die unsere Urteilsfehler verĂ€ndern und vermeiden könnten; eher machen wir Fehler in der Beurteilung, Bewertung und in Entscheidungen mehrmals, nicht selten der gleichen Art. Wir werden uns daher wohl auch mit der Frage beschĂ€ftigen mĂŒssen, woran das liegt und wahrscheinlich auch Formen des Umgangs finden mĂŒssen, Fehler zu vermeiden, ohne deren GrĂŒnde zu kennen; das klingt schwierig, ist es auch.

Die Felder, auf denen Vorhersagen und Entscheidungen fĂŒr unsere Zukunft betroffen sind, sind ubiquitĂ€r und allesamt hoch-relevant, betreffen sie uns doch unmittelbar oder mittelbar so stark, dass wir ihnen kaum ausweichen können. In der Medizin und ihren Nachbardisziplinen wie etwa die Psychiatrie werden tĂ€glich weitreichende Entscheidungen getroffen, deren Fehlertoleranz nicht nur möglichst gering sein sollte; dies gilt auch fĂŒr die medizinische Forschung. In der Wirtschaft, das haben wir ausfĂŒhrlich diskutiert, basieren die meisten Entscheidungen auf Informationen und informellen ZusammenhĂ€ngen, deren Fehlerhaftigkeit existenzielle Folgen fĂŒr das Unternehmen, fĂŒr dessen Steak-Holder, Angestellte und Arbeiter wie deren Familien haben können. Die FinanzmĂ€rkte entscheiden in letzter Konsequenz oft ĂŒber die Zukunft ganzer Volkswirtschaften und ĂŒber die konkreten LebensverhĂ€ltnisse vieler Menschen, daher sollten uns die Prozesse der Entscheidungsfindung ein gewichtiges Anliegen sein.

Kaum ein Unternehmen, kaum ein Produkt auf seinem Weg in den Markt kommt heute ohne Vorhersagen professioneller Prognostiker aus, die oft dieselben Menschen bzw. Institute sind, die turnusmĂ€ĂŸig uns mit Vorhersagen zum politischen Geschehen und vor Wahlen versorgen, allesamt nicht irrelevant. Wie könnte unser gesellschaftliches Leben, ohne sie aussehen? Wie könnten Unternehmen und Investoren ohne solche Vorhersagen Entscheidungen treffen, ohne Vorhersagen zur Marktentwicklung, zu den Absatzchancen der wichtigsten Produkte, ohne Vorhersagen zur Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und deren gesamtwirtschaftlicher Quoten, zur politischen und zur sozialen StabilitĂ€t einer Gesellschaft? Welchen Investor interessiert es nicht einzuschĂ€tzen, ob ein Unternehmen in Schieflage stĂŒrzt oder wieder aufgerichtet werden kann? Die Felder sind schier unendlich und die Fragen wie deren Beantwortung von oft existenzieller Bedeutung.
Was wir heute bereits erkennen können ist, dass die Welt sich darauf einstellt, ohne Wahrheit zu leben. Ohne Wahrheit und in Ungewissheit, aber deshalb lĂ€ngst nicht ohnmĂ€chtig, ahnungslos und allein dem Zufall oder einem unbekannten Schicksal folgend. Gleichwohl, wie wir mit unserer Zukunft verfahren bleibt eine Angelegenheit, von der wir mit grĂ¶ĂŸtmöglicher also erreichbarer Urteilssicherheit umgehen sollten; zu viel hĂ€ngt davon ab, was wir wie heute dahingehend entscheiden. Wenn wir z.B. Kosten fĂŒr die BekĂ€mpfung der Pandemie und deren Auswirkungen entscheiden, die so hoch sind, dass Menschen, die heute in Deutschland geboren werden, in deren zwanzigstem Lebensjahr mit hoher Wahrscheinlichkeit deren Begleichung noch nicht abgeschlossen sein dĂŒrfte, dann haben unsere Entscheidungen eine weit ĂŒber uns selbst hinausreichenden Geltungsbereich, so auch unsere Verantwortung. Es wĂ€re also gut, wenn wir mehr ĂŒber die unbekannten A-posteriori-Wahrscheinlichkeiten wĂŒssten, die in unseren aktuellen Entscheidungen enthalten sind.

Das Paradox unseres Daseins beginnt damit, dass es zwar mit absoluter Sicherheit auf sein Ende zulĂ€uft, die große Sintflut nach uns aber ausbleibt, jedenfalls in unserer Form der Daseinsauslegung. Sie trifft natĂŒrlich die Anderen, die, die nach uns kommen und die, die bereits heute mit uns leben oder gerade noch nicht geboren sind. Die werden nass, weil wir die Schleusen geöffnet haben. Wir können es uns einfach nicht wirklich leisten, etwas zu entscheiden und dann zu sagen, wenn es sich als falsch bis verheerend herausgestellt hat: Pech, wir wussten es nicht besser. Also mĂŒssen wir uns in und fĂŒr die Zukunft Gedanken machen darĂŒber, wie wir bessere Entscheidungen herbeifĂŒhren, einmal bei ganz speziellen Themen wie, ganz oben auf der Agenda, der Klimawandel. Aber wichtiger noch ist, dass wir Entscheidungen generell auf eine neue Art und Weise treffen, Entscheidungen, die von politischer, von sozialer und kultureller Relevanz sind. Das gehen wir im nĂ€chsten Band an.