Relevanz, Wahrheit, Verantwortung

Wir haben Irrelevanz erklärt. Motivation allein genügt nicht, um relevante Prozesse anzustoßen. Das allein stößt schon heute nicht mehr auf ungeteilte Zustimmung und das liegt daran, dass mittlerweile in vielen Bereichen des menschlichen Daseins nach einer Generalthese oder Erwartung gehandelt wird, die wir als Übereinstimmungsthese kennengelernt haben. In der Kommunikation, in der Politik, in den Medien, vor allem in der Wissenschaft wird nach der neuen Generalthese der Reziprozität gehandelt, wobei man jedem Teilnehmer oder Teilhaber an kommunikativen Prozessen die gleiche Relevanz grundsätzlich einräumt; das gipfelt in der propositionalen Selbstaufforderung, den/die Menschen dort abzuholen, wo er/sie sich befinden. Nach dieser reziproken Übereinstimmungstheorie ist jeder Mensch ein Relevanzsystem und Verständigung meint dann die größtmögliche Übereinstimmung und bedeutet größtmögliche Relevanz von Aussagen, Schlüssen und Urteilen.

Wir haben Übereinstimmung als eine Form der idealisierten Rationalität kennengelernt und so verhält es sich auch mit der Relevanz, dass bei dem Versuch, größtmögliche Übereinstimmung in der Verständigung zwischen den Menschen herzustellen, gerade die individuellen Unterschiede unbeachtet bleiben, ganz im Sinne der unmarked spaces von Spencer-Brown. Die unmarked spaces sind nach unserer Vorstellung des Willens jene Bereiche der idealisierten Übereinstimmung, die die Übereinstimmung als einen geschlossenen Kreis von Vorstellungen, Analogien, Konnotationen, Assoziationsketten und Willensbekundungen markieren, die einen Willen in sozialer Interaktion zeigen, der diese „Kreislinie nicht mehr überschreitet“(cross). Solche Relevanzsysteme finden wir als institutionelle, akademische Forschung vor; so erklärt sich auch der Begriff Relevanzsystem mit Betonung auf System, da von relevanten Personen bzw. Forschern zu sprechen phänomenologisch stark verkürzt wäre.

Forschung und damit Wissenschaft findet in akademischen Institutionen statt, meist in Forscher-Teams mit einer angeschlossenen breiten Infrastruktur aus privaten und öffentlichen Finanzierungen, Genehmigungen, (Fach-) Verlagen und anderen Verbreitungsmedien usw. in denen spezifische Formen der Organisation von Wahrheit und Relevanz erkennbar sind. Erinnern wir uns an die ursprüngliche Bedeutung des Adjektivs „relevant“ aus dem lateinischen „relevantes articuli“ , dann bezieht es sich auf berechtigte und beweiskräftige Argumente im Rechtsstreit und hält so noch eine Assoziation mit der antiken Bedeutung von Wahrheit als Aletheia (siehe Band I.) und dem indogermanischen Wurzelnomen *wēr- „Vertrauen, Treue, Zustimmung“. Der Etymologie-Duden attestiert dem Begriff der Relevanz für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich noch den Status eines „Modewortes“ , wovon wir aber weit entfernt sind, dies zu übernehmen.

Nehmen wir als Beispiel Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie und deren Einfluss auf das Verständnis der Kernspaltung und den Bau der Atombombe, dann erkennen wir, dass es bereits damals zu einer verhängnisvollen Trennung (non crossing) von wissenschaftlicher Relevanz, Wahrheit und Verantwortung gekommen ist, die Einstein in einem Brief schweren Herzens bedauert hat und die bis heute besteht, ja sich zur Unkenntlichkeit differenziert hat. Akademische Forschung hat allein in ihrem geschlossenen System Relevanz, wenn es zu einer Übereinstimmung in der Wissenschafts-Community gekommen ist; das nennen wir wissenschaftliche Relevanz. Ob aber ein relevantes Forschungsergebnis einen Übertritt über den unmarked space in die Öffentlichkeit, die Wirtschaft, in die Politik, ins Militär findet, entscheidet die Wissenschaft selbst nicht mehr in jedem Fall, eher nie. Und damit hat sich willkürlich die Wissenschaft von der sozialen Interaktion des Willens verabschiedet und die Verantwortung für „alles Weitere“ anderen überantwortet.

So markiert Wissenschaft ihren Relevanzraum und zugleich einen Verantwortungsraum außerhalb ihrer Institution, wo vor allem die Regeln der Finanzwirtschaft, der Ökonomie, der Politik, der politischen Institutionen des Rechts und der Rechtsverfolgung usw. dominieren. Hier übernehmen Idealisierungen der Übereinstimmung anderen Grades und anderer „Kultur“ alles Weitere und definieren nun als Öffentlichkeit die Behandlung von Themen, auch aus den Wissenschaften, nach Kriterien der jeweiligen Relevanz, sei diese von ökonomischer oder gesamtgesellschaftlicher Relevanz wie in der Gesetzgebung und der institutionellen Rechtsfolge über Behörden und privaten Institutionen wie etwa Fachanwälten. Aus der wissenschaftlichen Relevanz wird so im Übertritt in den unmarked space der Öffentlichkeit eine eigene Systematik, die unter dem Primat der Politik agiert. Ein Beispiel en gros ist dafür die Zeit der Pandemie, in der über mehr als ein Jahr hinweg die Wissenschaft der Epidemiologie ihre Ergebnisse und Hypothesen formulierte und wenig bis keine Relevanz für die Politik erreichte. Die öffentlichen Auftritte der Epidemiologien waren kaum mehr als leere Diskurse, selbst unter Einbeziehung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – es waren bzw. sind sehr wenige in Deutschland – die die politische Dimension mit in ihre wissenschaftlichen Aussagen hineingenommen haben. Der Hiatus zwischen Wissenschaft und Politik und, nicht zu übersehen auch des Rechts, war nie so offensichtlich wie heute. Wissenschaftliche Relevanz und somit die Einheit von Wahrheit und Verantwortung, ist somit nun noch innerhalb eines Relevanzsystems wie etwa die Epidemiologie vorzustellen, und nehmen wir jede Einzelwissenshaft als ein Auslegungssystem der Wirklichkeit an, dann sind Wissenschaften nichts anderes als Ontologien unterhalb der Politik, die als eine Form der General-Ontologie fungiert, wobei auch die Politik ihren Geltungsbereich von politischer Auslegung und demokratischer Verantwortung mehr und mehr verliert, also sie sich in immer weiteren unmarked spaces vorfindet, in transnationalen Politik- und Wirtschaftsräumen mit ihren unterschiedlichsten normativen und kulturellen Systemen.

Es gibt keinen Transfer des wissenschaftlichen Willens in den politischen Willen und zurück. Es gibt den wissenschaftlichen Willen, der ein epistemologischer ist und einen politischen Willen, der davon verschieden ist. Betrachtet vom Blickwinkel der Wissenshaft aus, sind die Ergebnisse der Epistemologie zwar wissenschaftlich relevant, mithin wahr und verantwortbar in der vorgestellten Weise der Umsetzung in einem rigorosen Lockdown, wie dies die VRC in Wuhan exerzierte, wofür aber kein Wissenschaftler außerhalb der VRC politisch votierte. Vom politischen Standpunkt aus betrachtet sind die epidemiologischen Aussagen nur insofern für die Politik relevant, also sie von der Politik zu ihren eigenen Zwecken vereinnahmt werden können, also eine größtmögliche Zustimmung mit der jeweiligen Mehrheit der Wähler erreichen; je nach Partei sieht man auch die Klientel-Unterschiede im Deutschen Bundestag. Regierungspartei in Deutschland meint somit die Relevanz eines Mehrheitsprinzips, also nicht die wissenschaftliche, sondern die politische Relevanz der wissenschaftlichen Ergebnisse für die nächste Wahl, die zudem in Kürze (04. 2021) ansteht. Wir stellen fest, weitgehend ist die Wissenschaft der Epidemiologie z.B. eine in sich geschlossene Auslegung, eine Form der Semantik, in der sich ein Teil der Gesellschaft selbst beobachtet und beschreibt und darin quasi unter sich Wahrheit und Relevanz verhandelt. Wissenschaft als Ontologie hat aber jeweils noch in ihren Fächern einen Anspruch auf Wahrheit im Allgemeinen, was heißt, dass wissenschaftliche Relevanz stets auch den Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit besitzt. Nennen wir dies eine „stratifikatorische Differenzierung“, dann finden wir in den modernen Wissenschaften innerhalb eines Fachs auch Formen der funktionalen Differenzierung wie etwa in den quantitativen Wissenschaften.

Nehmen wir als ein Beispiel die physikalische Theorie der Kritischen Phänomene, dann sehen wir, dass der Wahrheitsbegriff wie der Begriff der Relevanz in engen Begrenzungen genutzt wird. Anstatt des realen Systems der Physik werden vereinfachte physikalische Modelle benutzt, die die gleichen Wechselwirkungen ausweisen, etwa bei der Untersuchung der Temperaturschichtungen in Flüssigkeiten und mittlerweile bei fast allen anderen empirischen Untersuchungen mit mathematischen Repräsentationsmodellen. So werden zunehmend Äquivalenzklassen verschiedener Modelle mit gleichem relevantem Verhalten gebildet und statt des realen Systems jeweils das einfachste Modell seiner Klasse exakt gelöst, was genau die relevanten Eigenschaften des realen Modells ergibt. Dabei wird in Kauf genommen, dass andere Eigenschaften, eben die „irrelevanten“, falsch herauskommen. Dies gilt nicht nur für Gnus oder Zebras, sondern auch für alle anderen Formen der Äquivalenzrelationen, auch für Aussagen oder „Objekten, die von gleicher Farbe oder Form sind, von Studierenden mit gleicher Fächerkombination usw., insgesamt für alles, was nicht aufgrund seiner individuellen Eigenschaften wissenschaftlich interessant ist, sondern auf gleiche Eigenschaften reduziert werden kann.

Wir haben eben gesehen, dass in den empirischen Wissenschaften aber gleichzeitig ein anderer Blickwinkel existiert, nämlich der, der nach Ähnlichkeiten und Wahrscheinlichkeiten Ausschau hält, und der eine viel breitere Sichtweise auf alltägliche Phänomene impliziert. Ähnlichkeit ist aber keine Äquivalenzrelation, da sie für die Wissenschaft, anders als etwa für eine Philosophie der Praxis zwar reflexiv und sogar symmetrisch ist, aber nicht transitiv. Daher kann auch eine Ontologie unter Einschluss eines asymmetrischen und transitiven Elements wie den Willen nicht im Rahmen einer empirischen Wissenschaft auf der Basis mathematischer Methoden existieren, es sei denn, man transformiert eben die asymmetrischen und transitiven Prozesse in ein Modell der funktionalen Differenzierung, in dem die langen Ketten von Werten der asymmetrischen und transitiven Unterschiede in autonomen Funktionssystemen dargestellt werden.
Solche Funktionssysteme wie etwa Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Wissenschaft etc. entwickeln dann auf autonome Weise, also unbeschadet von einem Außenraum autonome Regeln und einen eigenen Code, so dass sie nicht mehr auf andere Funktionssysteme ausgreifen, sondern nur auf sich selbst bezogen sind, zumindest bleiben Zugriffe auf die Wissenschaft bzw. auf die Ökonomie allein ihrer eigenen Zweckrationalität überantwortet – wir werden besonders an diesem Gedanken im letzten Kapitel über Entscheidungs- und Urteilsvorgängen weiterarbeiten. Diese Selbstreferenzialität, so konnten wir darlegen, schließt nun gänzlich alles das aus, was nicht innerhalb, sondern außerhalb von Äquivalenzklassen liegt. Und wo bleibt dann das „Individuum“ in dieser Ontologie? Paradoxerweise taucht es als neo-stratifikatorische Differenz wieder auch, indem es den verschiedenen sozialen Rollen in verschiedenen Funktionssystemen zugeordnet wird; das ist dann das Paradox der „Inklusion“ aller in alle Funktionssysteme, was natürlich Unsinn ist. Denn vom Blickwinkel des Individuums aus soll nun jeder Mensch sich den Anforderungen verschiedener Funktionssysteme stellen und sich wie ein oszillierender Punkt auf einen Monitor zwischen den Teilsystemen hin- und herbewegen; eigentlich soll und will der Mensch das nicht, er muss dies nun, so wird mittlerweile bereits von ihm erwartet. Und je nach Anforderung des einzelnen Systems muss der Mensch in einer schier unglaublichen Anstrengung die Systemerwartungen auch erfüllen, was ihm eine umfassende Form der Selbstkontrolle, der Zeitökonomie, der Mobilität und persönlichen Flexibilität abverlangt, vor allem von Frauen, die Kinder, Ehe und Beruf sowie Eigenentwicklung unter ihre kleinen Hüte bringen sollen.

Deshalb ist der Begriff Relevanz auch zum Modewort verkommen, weil viele der modernen Verhaltensweisen wie eben beschriebene Selbstoptimierungshandlungen schlicht aus einem unreflektierten Zeitgeist entstehen, der wiederum mit der funktionalen Segmentierung der Gesellschaft einhergeht, aber keine wirkliche, das Individuum betreffenden, neuen Möglichkeiten bietet, Arbeit und Freizeit in ein neues, besseres Verhältnis zu bringen; im Gegenteil. Meist reicht im Ergebnis die Arbeit in die Freizeit noch mehr hinein, wird jene zum Maßstab aller Handlungen in dieser. Relevanzverlust ist somit eine direkte Folge der funktionalen Differenzierung, die die Gesellschaft in unüberschaubar viele Mikrokosmen, in Teilsysteme unterteilt, in denen die Mitglieder nur noch künstliche Teilrelevanzen und insofern sie zwischen den Teilsystem sich bewegen auch keine andere als eine funktionale Relevanz entwickeln können.

Es ist eine Alltagserfahrung, dass jemand, der in seiner Abteilung über hohes Ansehen und hohe Relevanz in seinen Entscheidungen und Handlungen verfügt, in der benachbarten Abteilung allenfalls noch höflichen Respekt erhält, aber keinerlei Relevanz mehr dort hat. Relevanz und ihr Antonym, die Irrelevanz, stehen bildlich gesprochen Tür an Tür und sind nicht übertragbar auf andere als auf das bzw. die eigenen Funktionssysteme mit ihrem ausschließlichen Äquivalenzcharakter. In der Mathematik sind die Äquivalenzrelationen besonders in der Mengenalgebra weit verbreitet und verbreiten sich aus der Mathematik immer weiter in andere Felder, besonders in die Felder der KI. Aber hier wie auch im Alltag ist besonders die Transitivität eine problematische Annahme, die bei Bewegungsvorgängen, wo doch gerade in Ortsrelationen eine überschaubare Menge an Relationen vorhanden ist, schon so manchen Streich gespielt hat, auch wenn man die Risiko-Minimierungen mit ins Kalkül nimmt, wonach eine Transitivität immer dann gegeben ist, wenn man Bewegungsvorgänge hintereinander in zeitlich kurzen Abständen ausführen kann; was so alles passieren kann, wenn man zuerst von A nach B und kurze Zeit danach wieder zurück von B nach A sich bewegt, kann man sich unschwer vorstellen.

Aber bleiben wir bei unserem Thema und schauen noch ein wenig länger auf das, was mit der Wahrheit und der Verantwortung in funktionalen Systemen passiert. Offensichtlich bilden alle drei Begriffe eine Einheit, denn wer überhaupt keine Relevanz in einem beruflichen oder privaten Bereich besitzt, dem sprechen wir auch Wahrheit und Verantwortung schnell ab. Nicht, weil er dumm ist, im Gegenteil. Autonome Funktionssysteme überziehen unsere Realität und sind in alle unsere Lebensbereiche eingedrungen. Ein Augenarzt kennt sich bestens aus mit Augen, ans Ohr geht er nicht ran und darf das auch nicht. Überall arbeiten und leben Spezialisten und bilden ein Netz von strukturell autoritären Alltagserfahrungen. Strukturell deshalb, weil in den Funktionssystemen autoritäres Verhalten nicht als individuelles Verhalten sich ausprägt, sondern in autonomen Prozessen stattfindet.
In autonomen Systemen spielt jeder seine ihm zugewiesene Rolle, heute mehr und mehr in den sogenannten agilen Organisationen bzw. Teams (dazu hier Kapitel 4: Vernetzte Selbstorganisation). Dass solche und viele weitere Formen der funktionalen Selbstorganisation möglich geworden sind, liegt an der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften bis in kleinste Einheiten, in kleinste Funktionssysteme hinein, die ein wesentliches Kennzeichen moderner Gesellschaften sind. Diese Form der Ausdifferenzierung geht einher mit einer neuen „gesellschaftlichen Semantik“, einer „Ordonomik“ , die eine Korrelation zwischen dem gesellschaftlichen Wandel und dem Wandel der Art und Weise beschreibt, wie eine Gesellschaft ihre Vorstellungen und Perspektiven repräsentiert. Diese Repräsentation ist gebildet aus einer Art der Selbstbeobachtung, die in einer bestimmten Form der Selbstbeschreibung und Selbstreflexion sich ausdrückt. Wir folgen dem und bedienen uns bei Pies, Beckmann und Hielscher, wenn es sich anbietet.