Die Boten der Apokalypse und die Unsterblichkeit der Kunst

Was also bedeutet die „Warum-Frage“ in der Kunst? Die Vanitas befragt nicht, warum wir leben, sondern die Vorstellung, wie wir leben. Sie befragt das Dasein zwischen Geburt und Tod, zeichnet uns Bilder unserer Vorstellungen der Vergänglichkeit und des schönen Scheins. Flauberts Madame Bovary zeichnet das Bild der Arztgattin Delphine Delamare aus Ry bei Rouen, ein paradigmatischer Gesellschaftsroman, der das Sittenbild seiner Zeit befragt. Manche Literaturkritiker sehen darin den Verstoß gegen die guten Sitten, Verherrlichung des Ehebruchs und den einhergehenden moralischen Verfall ausschweifenden Bürgertums. Die Protagonistin Emma, Seelenverwandte des Apothekers Homais in der gemeinsamen Leidenschaft für Literatur und Musik, Gattin des verwitweten Landarzt Charles Bovary, der sie unsterblich verehrt, zeichnet bereits in der literarischen Veranlagung der Figur eine künstlerische und biologische Nähe zum Tod und allen seinen Protagonisten: Ärzte, Apotheker und Künste. Heilende Giftmischer in Diensten von Jongleuren mit Leben und Tod und polyamouröse Liebhaber kreuzen ihre Künste mit dem Leben der Emma, das zunehmend ein Bild von depressiven Stimmungsschwankungen zeichnet, aus dem heraus ein Garten von Blumen des Bösen erwächst. Dort wachsen die Trauer um eine verlorene Liebe, die Bilder eines todbringenden Verlustes, den keine Luxus- und Verschwendungssucht zu kompensieren vermag.

Trauer und Verlust hier sind keine Marken des Daseins mehr, sondern längst schon Bilder des Todes, der nach der Einnahme von Arsen einen grauenvollen Sterbenskampf beendet. Es sind Endzeitbilder, keine der bürgerlichen Existenz an der Grenze zur Todessehnsucht des Vergnügens, sondern Bilder des Todes der Emma. Der ganze Roman hat eigentlich nur ein Bild, in dem er gipfelt am Ende, die Emma im Todeskampf, die „brutal entkleidet, sich blass und ohne zu sprechen mit einem langen Schauer an die Brust des Geliebten wirft“ und „mit kalten Schweißtropfen auf der Stirn, mit wirr flackernden Pupillen“ ihre Arme um ihn schlingt. Mit diesem Bild begründete der umtriebige Staatsanwalt Ernest Pionard seine Anklage auf „Verstoß gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“, die alle einig sind darin, der Tod hat keine dramatischen Bilder.

Kunst zeigt nicht den Todeskampf am Kreuz, der Stunden gedauert haben muss, sondern ein Bild der Erlösung; I.N.R.I. Wie weit wir in die Geschichte der Kunst auch zurückblicken, wir finden überall in allen Kulturen und zu allen Zeiten und ausschließlich in den Künsten Bilder des Todes. Bilder, die unsere Vorstellungen vom Tod und manche von der „Zeit“ danach beflügeln. Zum Freispruch von der Anklage der Sittenwidrigkeit kam es vor Gericht, dass man Flaubert unterstellte, er habe eine ernsthafte Charakterstudie und somit nichts Sittenwidriges vorgelegt. Ein Dokumentarbericht quasi, eine objektive Erzählkunst; welch ein Totschlagsargument gegen den Künstler, der das hoch-gerichtliche Urteil über seinen erzählerischen Realismus selbst aber stets und strikt ablehnte, seine Romane wären dem Realismus zuzuordnen; mitnichten, meine Herren Richter. Der Staatsanwalt wusste es besser, es ist kein Realismus in Romanform, den man jungen Mädchen und Frauen in die Hände zum Lesen geben dürfe, dessen Heldin schon als Kind im Beichtstuhl beim Gedanken an den himmlischen Verlobten sinnliche Lust empfinde; die sich ihren Geliebten im Wald und in Fiakern hingebe; die niemals so schön sei, wie nach dem Ehebruch, und die noch auf dem Totenbett, auf das sie der Selbstmord führte, das Kruzifix mit Wollust küsse.

Vom Tod gibt es keine Bilder dokumentarischer Rechtschaffenheit. Die Bilder, die uns die Künste zeichnen, haben keine kategoriale Bedeutung, sondern, wenn schon, dann existenziale Bedeutung. Die Künste haben die Urheberschaftsrechte auf Vorstellungen vom Tod, allein schon deshalb, weil außerhalb der Kunst keine Bilder vom Tod existieren. Mag sein, dass die Wissenschaften heute ein genaueres Bild haben vom Leben, angefangen von der Befruchtung, der Zellteilung bis hin zum Geburtsvorgang, dessen Schlusspunkt heute auch der ein oder andere Mann beiwohnt. Bilder vom Tod aber gibt es auch in den modernen Wissenschaften nicht. Der Anfang des Lebens ist nicht rekursiv. Wir haben keine Aufzeichnung vom Sterben bis zum Todeszeitpunkt unter dem Mikroskop der Ultraschallwiedergabe; auch das Zellsterben repräsentiert nichts von unserem Tod. Die Kunst allein hat das Bildermonopol des Todes.