TĂĽrmer – Seite 260ff

Als er Albertine das erste Mal geküsst hatte, war ihm, als müsse er den Kuss verheimlichen vor den anderen. Ach, wie gerne wäre er losgezogen und hätte der Welt von der Sensation berichtet, von der Begegnung, die durch den Kuss zu einem Ereignis geworden war, über das zu urteilen sich so viele anmaßten. Er wollte mit den Urteilenden nicht mehr zusammen sein, aber er war zu jung, sein Wille zwar stark, aber seine Vernunft sagte ihm, bleib und pflege ihre Tugenden, mach sie dir zu eigen, aber bedenke, dass sie dir nicht aus der eigenen Leidenschaft gewachsen sind, dass also alles, was an deiner Leidenschaft gut oder böse ist, ein Urteil der anderen über deine Liebe ist.

So blieb er einige Jahre gespalten, ging der Riss zwischen Tugend und Leidenschaft mitten durch ihn hindurch. Aber sein Geist war wach und wachsam zugleich. Ihm gelang es, dass alle seine wahren Leidenschaften scheinbar inmitten all der Tugenden aufblühten und er die Teufel bezwungen hätte. So schenkt er den Vielen, die seine Tugenden sehen und loben wollten, alle die Engel, die man von ihm erwartete und anstatt all des wilden Geschreis der Teufel hörte man eine Weile lang nur Engelsgesang aus seinem Munde.

Er schenkte der Welt die Schönheit, die sie ihm zuvor als Ausgleich für den Verzicht und die Kontrolle über sich übergeben hatte. Die Schönheit sollte es richten, wie das, was sie für das Gute hielten. Das Gute hatte längst aber schon seinen Bezug zur Wahrheit verloren und war nun zu dem erniedrigt, was den Vielen gefällt. Von dort her bekam Türmer den Zuspruch, die Anerkennung und die falsche Liebe der anderen, die mehr seine Tugenden als alles andere an ihm liebten.
TĂĽrmer erkannte, die Tugenden machten mich zornig. Er sah ein ums andere Mal die Tugenden sich selbst verleugnend und in Hochstapelei ertrinken und sich selbst voller Zorn auch gegen sich selbst. Da wusste er, er hatte sich mit der Krankheit zum Tode infiziert. So genoss er sein Leben in vollen ZĂĽgen und tanzte seinen Tanz auf dem Vulkan, errang sich Achtung vor seiner Leistung in materieller Hinsicht, eine andere erfuhr er selten.

Ihm blieb nur eine Tugend, die des materiellen Erfolgs. Nicht leicht ward die gewonnen und mit jedem Gewinn, der seine materielle Situation verbesserte, kam sein Verlangen nach körperlicher Liebe schneller und öfter zum Ziel, Freunde schuf er sich damit nicht. Er stand im Wettbewerb, oft in Konkurrenz und beides heißt Einsamkeit. Inmitten all der Menschen, denen allen es nur um sich selbst ging, also unter den vielen Einsamen, teilte er stumm die Sehnsucht nach einem Freund, die den Einsamen befällt, der noch nicht ganz bei sich angekommen ist und das Alleinsein lieben gelernt hat.

Wie unter all den Feinden einen Freund finden? Wer sich dem Wettbewerb und seiner Verschärfung in der Konkurrenz stellt, muss sich der Einsamkeit stellen und den Verlust der Phantasie vom Freund hinnehmen. Sie verblasst mit der Zeit und die Sehnsucht danach verschattet allmählich die Erinnerungen daran.
So lernte Türmer, was das Wort „vergeblich“ meint. Vergeblich auch, nach wahrer Anerkennung zu streben. Denn die hätte sein Sosein zur Voraussetzung. Aber lieber will ein jeder dich zum Teufel gehen sehen, wenn du bist, wie du bist. Es reicht nicht, allenfalls zum Neid oder zum Krieg.
„Die Menschen überspringen gerne ihren Neid auf dich mit ihrer Liebe“,
„was ich die Identifikation mit dem Aggressor genannt habe“, antwortete Freud auf die Feststellung des Alten ungefragt.
„Und weil jeder allein ist und nur für sich selbst kämpft, denkt und empfindet bist du ihnen lieber ein Feind als gleichgültig.“
„Es ist das neue Maß für alles, die Bedingungslosigkeit, die den Zweifel wie die Aggressionen nährt. Bedingungslos sind unsere Liebe und das nährt ständig den Zweifel und steigert ihn auf sein höchstes Maß an Emotionalität, und das ist die Eifersucht. Allein sind wir wie Herrscher, die bedingungslosen Gehorsam wie bedingungslosen Zuspruch vom Volke und den anderen Staaten fordern, was sie Nicht-Einmischung nennen.
Wir sind verletzt, und öffnet sich ein Fenster zum anderen, sind die Eifersucht als eine Vorstufe zum Hass aus dem Gefühl, hintergangen werden zu können, und der mögliche Krieg zwischen den Völkern die notwendigen Folgen. Mögen Staaten sich noch Regeln geben, um Kriege zu vermeiden, was sind dann die Bedingungen in der Liebe, die verhindern, dass der brennende Zweifel in der Eifersucht seinen Ausweg sucht?“

Türmer dachte über die Eifersucht nach, über ihre Beziehung zum Zweifel und über den Kriegen zwischen Staaten. Er suchte in den Erinnerungen nach dem Gefühl der Freundschaft, nach etwas, was nicht bedingungslos, sondern mehr als eine zweckorientierte Beziehung zu anderen Menschen bedeutete. Dabei fiel ihm auf, dass in seinem Leben eine Vielzahl an Menschen eine wertvolle Beziehung zu ihm unterhielten, zumindest eine Zeitlang, die nicht zweckorientiert, sondern, wie er es nannte, selbstorientiert war. „Narzissmus“, rief es aus dem Regal und Türmer bedankte sich für die Wortfindung.
„Was ihr alle wollt ist, was ihr loben und gutheißen könnt, zuvörderst für eure Ehre, euren Glanz und eure Anerkennung, wie minderwertig mögt ihr euch fühlen ohne das“, gab er zu bedenken, aber keiner nahm den Gedanken auf; man schwieg dazu.

„Was ihr gutheißt soll aller Ehren wert sein, also muss es außergewöhnlich sein, wie ihr gewöhnlich bleiben wollt. Schwer muss es sein und aller Mühen wert, wie ihr der Leichtigkeit, dem Leichtmut und der Gefälligkeit das Wort redet und Schwere nur als Last selbst empfindet. Herausstechen soll das, was ihr gutheißt und versteckt euch nur zu gerne hinter euch selbst. Euer Selbst und was ihr eigentlich seid, ist die Mauer, die jeden einzelnen von euch verbirgt, diese Los habt ihr für euch gewählt. Ihr wollt, dass einer herrscht, siegt und Glanz über euch und euer Land bringt, aber euer Selbst ist grau wie die Steine der Mauer, hinter der ihr euch in Sicherheit wähnt.“
„Was, fragte der Alte, „soll das Gerede von der Eigentlichkeit, wenn es kein Selbst und also auch keine Eigentlichkeit gibt“, und lauthals verbat sich Heidegger derart Vergehen am Sein, aber der Alte blieb ruhig und fuhr fort: „wo sind deine Tugenden, wenn alles uneigentlich ist, wie sprichst du von Wahrhaftigkeit, von Glaubwürdigkeit und Echtheit deines Selbst und behauptest, dass deine Rede über dich auch deine eigene Rede von deinem Manuskript deines Lebens ist, wenn alles eitel, von äußeren Einflüssen und damit von der Verstellung deiner Person geprägt ist? Stehst du wirklich dort auf dem Platz, hast dort deinen eigenen Standpunkt, wenn deine Selbsterkenntnis dürftig, dein Handeln inkonsequent und inkonsistent ist und schon bei der leisesten Kritik aus den Fugen gerät?“

Heidegger schwieg. Dann zog er seine buschigen Augenbrauen hoch und stahl sich zurĂĽck an seinen Platz, wo er stand wie ein Mahnmal dessen, was der Alte gerade gesprochen hat. Dort trafen sich die Aussagen in Wort und Geste und hatte den maximalen Grad an Wahrhaftigkeit erreicht.

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