Aus Kapitel 6: Die Kampfkraft des Chaos

Differenz ohne IdentitÀt

Die modellierenden Wissenschaften erkannten, dass einige als intelligent unterstellte Verhaltensweisen unter Tieren, besonders Ameisen und bestimmte Arten von Bienen in Bezug auf ihre Nahrungssuche scheinbaren Regeln unterlagen und also von Computerprogrammen nachgestellt, simuliert werden können; das brachte wiederum andere dazu, dies auch mit Menschen nachzustellen. Man fand Entscheidungsstrukturen, etwa den Einfluss von Feedback, positiver oder negativer Art auf einzelne oder Gruppen von Entscheidern und simulierte diese funktionale Form der Zusammenarbeit in einzelnen Computerprogrammen, manche versuchten die KomplexitĂ€t von FunktionalitĂ€ten durch die Zusammenarbeit autonom agierender SchwĂ€rme von Robotern nach funktionalen Modellen zu steuern; der Terminus „Swarm Robotics“[1] war in der Welt.
Schlussendlich, da FunktionalitÀt ja Aspekten bzw. bestimmten Leistungen der menschlichen Intelligenz entsprachen und diese durch die Neurowissenschaften als TÀtigkeiten bestimmter Gehirnareale erkannt worden waren, war der nÀchste Schritt nicht weit, die funktionale Technologie der Swarm Robotics nach dem Modell der Gehirnareale nachzustellen.

Die Gehirnareale sind dann bzw. sollen in der Zukunft vollstĂ€ndig in funktionalen Modellen der KI nachgestellt, quasi nachgebaut werden. Ging es bisher unter dem Terminus KI noch um die einfachen Entscheidungsstrukturen einigermaßen funktional intelligenter Menschen in beruflichen Kontexten, die deren Verhalten nach Ähnlichkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitsberechnungen, also nach statistischen bzw. stochastischen Verfahren nachstellten[2], so will man heute natĂŒrlich mehr.
Ist zwar die erste Idee der Simulation menschlicher Intelligenz noch lange nicht erfolgreich umgesetzt, geht es aber bereits schon weiter, viel weiter. Damit es aber weitergehen kann, bedarf es eines kleinen Tricks, quasi einer Operation am offenen Verstand, an alles, was Sinn und Bedeutung fĂŒr einen Menschen, fĂŒr ein Individuum hat, nach denen er denkt und handelt. Bliebe das Individuum im Stande seiner Vernunft, so haben wir eben gezeigt, kann Chaos eintreten durch alle Öffnungen des Denkens.
Das sahen auch die Informatiker, dass, wenn sich intelligentes, kollektives Verhalten als Schwarmintelligenz simplifiziert, ein Reduktionseffekt schnell einstellt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass je mehr Menschen auf simple Art und Weise miteinander kommunizieren, also Imitatio das Wort reden, die Entscheidungsfindungskompetenz einer Gruppe auch immer simpler wird, sich also abbaut. Die Modelle der KI mĂŒssen also ganz stark darauf achten – man spricht von Gewichtung – dass so wenig wie möglich „individuelle“ Intelligenz in Gruppenprozessen sich einmischt.

Da kam den Technologen das Neuron[3] zu Hilfe. Neuronen denken nicht. Wie gut, denn wĂŒrden sie denken können, gĂ€be es diese Form der derzeitigen KI nicht. Neuronen sind simpel, wie alles in der KI. Das heißt nicht, dass KI nicht von zwar zweifelhaften, aber doch gigantischen Nutzen wĂ€re, nur denken kann sie eben nicht. Das Prinzip der KI funktioniert umso besser, je simpler es in seiner FunktionalitĂ€t ist.
So ist das Neuron eine Zelle des Gehirns, die auf SignalĂŒbertragung spezialisiert ist. Sie empfĂ€ngt und sie leitet elektrische oder chemische Signale weiter an andere Neuronen oder Bereiche des Gehirns, mehr kann sie nicht und mehr wĂ€re auch nicht funktional abbildbar und durch Maschinen ersetzbar. Das Dumme am Neuron nur ist, dass es eben nicht denken kann, aber in hoch komplexen Funktionen Rechenergebnisse zu produzieren in der Lage ist, deren ‚Gedankenlosigkeit‘, deren ‚Vernunftlosigkeit‘, deren funktionale RationalitĂ€t in der KI keine RĂŒckschlĂŒsse zulĂ€sst, auf welchem Wege sie zustande gekommen sind. Das haben wir an anderer Stelle[4] bereits erörtert, nun interessieren uns andere Effekte dieser Art von RationalitĂ€t im Folgenden.

Eins aber mĂŒssen wir an dieser Stelle doch klarstellen: auch wenn die Informatik gerne darĂŒber spricht, dass KI sowohl mit symbolischer, also sprachlicher Intelligenz arbeitet wie auch neben der Simulationsmethode eine phĂ€nomenologische Methode existiert, der es nur um Ergebnisse geht, alles in der KI wie die Funktion Suchen, die Funktion Planen, Optimieren und logisches Schließen sind nicht nachvollziehbare, nicht reflexiv kommunizierbare Funktionen, ĂŒber die man sich gewissermaßen im kritischen Dialog zwischen Mensch und Maschine unterhalten könnte. Die Funktionen der KI sind so intransparent und stumm wie die funktionalen Prozesse, die in unserem Gehirn ablaufen, willkĂŒrlich oder unwillkĂŒrlich. Und da KI nicht auf dem Prinzip Input-Output funktioniert, bleiben uns die VorgĂ€nge, die zu bestimmten Ergebnissen gefĂŒhrt haben, fremd und unzugĂ€nglich.

KI macht Angst dem einen und euphorisiert in AbhÀngigkeit den anderen. Das verstÀrkt sich geradezu maximal dadurch, dass KI die Menschen zum Objekt macht, ohne selbst Subjekt zu sein. Wie das? KI ist ein System von Differenzen, von unendlich kleinen bis hin zu maximalen Unterschieden in der Sache.
Als System ist KI dem Menschen an VollstĂ€ndigkeit und Geschwindigkeit maximal ĂŒberlegen. Zudem kommen die systemischen Potenzen wie etwa Bildgebung, grafische Darstellung, Sound, Sprach- und Bilderkennung, optische Zeichenerkennung, Assistenzsysteme u.a.m. Gleichwohl aber generative KI durchaus ĂŒber interaktive und kommunikative FĂ€higkeiten verfĂŒgen – Frage-Antwort und sprachliche Eingabe – , ist eine auch nur simpelste menschliche Kommunikation zwischen Mensch und Maschine nicht möglich.
Daran Ă€ndert auch nichts, dass KI qua Logik nicht nur zu SchlĂŒssen, sondern begrenzt auch zu Urteilen fĂ€hig ist. Alle logischen SchlĂŒsse können je nach Gegenstand zugleich auch wahre oder falsche Urteile sein, vor allem, wenn sie sich auf natĂŒrliche oder konsensuale Sachverhalte beziehen; wir verzichten hier auf die simplen Beispiele, die stets nervtötend hier folgen.

Was die Entwicklung der KI in den letzten Jahrzehnten aber immanent, also aus eigenem Antrieb mitgetragen hat, ist eine Auffassung der Beziehung zwischen Logik und Urteil, die die Philosophiegeschichte lange und bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts noch mit Argwohn und einiger Distanz betrachtet hat. Es ist dies die EngfĂŒhrung von logischer RationalitĂ€t und Urteilskraft, die Kant so nie unterschrieben hĂ€tte; auch nicht Hegel, Fichte, Schelling, Descartes, Nietzsche, Schopenhauer, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Urteile und Aussagen haben eine lange Tradition in der Logik und sind eigentlich erst mit Frege[5] und seinen sprachphilosophischen Betrachtungen ins Zentrum des Interesses gerĂŒckt.

Die traditionelle philosophische Logik nach dem Modell des Aristoteles baute zwar auf Kategorien und Begriffen auf, sprach dem Urteil aber einen besonderen Status zu. Die Philosophie wusste zu unterscheiden zwischen formaler Logik und den sich daraus ergebenden SchlĂŒssen bzw. Urteilen und etwa metaphysischen, religiösen, kĂŒnstlerischen Urteilen, die oft diametral anderen Kanons folgen. Einige Themen der Urteilslogik sind nach der formalen Gleichsetzung von Logik und Urteil nicht nur in den Kanon der Logik, sondern auch der verwandten Disziplinen wie der Sprachphilosophie, Linguistik, Argumentationstheorie, Psychologie, Ontologie, Informatik etc. eingegangen: die Lehre vom Widerspruch, die Wahrheitstheorie, die Hermeneutik, die Urteilsformen, die PrĂ€dikation.
In der modernen Logik sind zudem noch viele Themen hinzugekommen, die das Urteil betreffen: das Axiom, die Formel, die Regel, der Gedanke, das Argument, die Rechtfertigung, die Behauptung, der Sprechakt, die BegrĂŒndung u.v.a. Aber wir sehen immer noch, dass das VerhĂ€ltnis zwischen traditioneller Urteilslehre und moderner Aussagenlogik noch ein Gegenstand von Forschungsdiskussionen ist, also lĂ€ngst nicht abgeschlossen oder gar ĂŒberwunden und damit ĂŒberflĂŒssig gemacht.

Was uns interessiert ist, dass formale Logiken durchaus schließen, entscheiden und urteilen können, dass aber keine KI sich entscheiden kann, ĂŒber sich urteilen und von sich auf andere und anderes schließen kann. KI ist nicht selbstreflexiv. Sie unterscheidet, unterscheidet aber sich selbst nicht; dann gĂ€be es ja auch Millionen von KIs. Sich unterscheiden bedarf einer IdentitĂ€t, wie anders sonst will ich denn mein GegenĂŒber als GegenĂŒber erfahren können? Ich fĂ€nde es schon wichtig, bei einem Besuch in der VRC einer Schnittstelle zum „Social Scoring“ System das System darum bitten zu können, auf weitere Überwachungen und der totalen Kontrolle meiner Person wie der gesamten Zivilgesellschaft durch die Vergabe von „Punkten“ fĂŒr (aus Sicht der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas) wĂŒnschenswertes Verhalten, bzw. deren Entzug fĂŒr negatives Verhalten, zu verzichten und dies durch das System in freiwilliger Beurteilung bestĂ€tigt zu wissen.

Das liegt nun nicht an der VRC und der herrschenden Kommunistischen Partei, dass die im Alltag eingesetzte KI so eben nicht entscheidet, wie ich möchte, andernfalls ich dann doch lieber zuhause in Europa bleibe, bis auch hier alles verwanzt ist. Das liegt im Wesen der KI, sich nicht unterscheiden zu können, keine IdentitÀt zu entwickeln in der Lage ist. KI kennt keinen Widerstand. KI kennt nicht die KrÀfte und nicht die KrÀfteverhÀltnisse, die die Menschen alltÀglich umgeben, bestimmen, mitbestimmen und die durch Menschen verÀndert werden können. Solche VerÀnderungen brauchen aber den Widerstand, braucht Anarchie und Opposition und dabei hilft auch keine Schwarmintelligenz.

[1] William M. Spears, Erol Sahin (editors): Swarm Robotics. Springer-Verlag, New York etc. 2008.
[2] Jens Krause, Graeme D. Ruxton, Stefan Krause (2008): Swarm intelligence in animals and humans. TREE Trends in Ecology and Evolution 25 (1): 28–34. doi:10.1016/j.tree.2009.06.016. Abgerufen am 30.06.2023
[3] Franz Rieder: Philosophie des menschlichen Daseins. Band 5. S. 447.
[4] Franz Rieder: Philosophie des menschlichen Daseins. Band 5. Kap. 6.
[5] Friedrich Ludwig Gottlob Frege (* 8. November 1848 in Wismar; † 26. Juli 1925 in Bad Kleinen), deutscher Logiker, Mathematiker und Philosoph. Seine Bedeutung auf dem Gebiet der Logik besteht darin, als erster eine formale Sprache und damit zusammenhĂ€ngend formale Beweise entwickelt zu haben. Er schuf dadurch eine wesentliche Grundlage fĂŒr die heutige Computertechnik und Informatik sowie fĂŒr formale Methoden in der linguistischen Semantik bzw. analytischen Philosophie.