Arbeitsproduktivität – Des Teufels Küche

Leider kommen wir an dieser Stelle nicht umhin, wiederum grob übersichtlich, uns mit dem für die Entwicklung des Wohlstands der Nationen fundamentalen Begriff der Produktivität, hier speziell der Entwicklung der Arbeitsproduktivität zu beschäftigen. In einem späteren Abschnitt, wenn wir das europäische Modell vorstellen, werden wir weitere, vergleichende Analysen zwischen der Arbeitsproduktivität in den USA bzw. angelsächsischen Ländern und der EU bzw. Deutschland heranziehen; hier sollen lediglich allgemeine Erkenntnisse im Vorgriff einbezogen werden.
Mit dem Begriff der Arbeitsproduktivität ist es wie mit allen fundamentalen Kenngrößen der Volkswirtschaft, man begibt sich in Teufels Küche. Bei der Bemessung der Arbeitsproduktivität wurden aus gegebenen Anlässen wie etwa der Wiedervereinigung Deutschlands usw. die Berechnungsmethoden mehrmals geändert, neue Relationen in die Berechnung je nach Blickwinkel auf das Datenmaterial und andere Veränderungen methodischer wie inhaltlicher Relevanz von wissenschaftlicher Seite her vorgenommen. Eine gewisse Inkonsistenz der Aussagen ist daher kaum vermeidbar, müssten doch stets die Veränderungen mitberücksichtigt werden, was natürlich schwer zu bewerkstelligen ist und mit der Zeit auch immer weniger eingedenk bleibt. Und dass wir ganz generell die sozialwissenschaftlich-methodische Betrachtungsweise solcher Phänomene des Wirtschaftslebens für im Detail problematisch halten, dürfte ja mittlerweile bekannt sein.
Trotz alledem sind Aussagen mit hoher Aussagequalität auf dieser methodischen Basis möglich, wie z.B. dass die langfristige Entwicklung der Arbeitsproduktivität in den G7-Volkswirtschaften seit 1970 stark zurückgegangen ist. Wir wagen also eine Gratwanderung und versuchen so unvoreingenommen wie möglich, Aussagen zur Arbeitsproduktivität in unseren Kontext einer potenziellen, strukturellen Krisenauslösung einzuarbeiten.

Gordon hat in mehreren Studien einen Zusammenhang hergestellt zwischen technischen Innovationen und Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum; wir haben uns an anderer Stelle und in anderen Zusammenhängen damit bereits beschäftigt . Wir folgen Gordon darin, dass eine schwächelnde Innovation das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum dämpfen, nicht aber in einem seiner Hauptargumente, dass der derzeitige, technisch-technologische Fortschritt selbst dieser Dämpfer sei, dass also die aktuellen Innovationen weniger bedeutsam sind als jene der Vergangenheit und sich der technologische Wandel daher verlangsamt hat.
Es sei die zweite industrielle Revolution mit ihrer Vielzahl an multidimensionalen Erfindungen mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten gewesen, die die im historischen Vergleich äußerst dynamische Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses ermöglicht haben . Gordon folgt in seinem Forschungsansatz einem Denken des 17. und 18. Jahrhunderts, wonach, more geometrico, die Welt als Ganzes als ein deterministisches System gedacht wird, welches nach strengen, mathematisch beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten verstanden werden kann. Dieses mechanistische Denken, nachdem die Welt als Maschine und Mechanik vorgestellt wird, in der eine große Maschine viele unzählige kleine Maschinen antreibt, eine unzählbare Vielfalt von kleinen Maschinen, die darauf warten, von der Wissenschaft entdeckt und analysiert zu werden, feiert fröhliche Urstände.

More geometrico ist die Arbeitsproduktivität in den Analysen von Gordon gleichgesetzt mit Produktivität, insofern er das Verhältnis von gesamtwirtschaftlichem Produktionsergebnis und Arbeitseinsatz als grundsätzliche Berechnungsgröße veranschlagt. Betrachtet man die Arbeitsproduktivität aus der Perspektive der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), dann ist sie definiert als das Verhältnis von Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder unbereinigter Bruttowertschöpfung jeweils in konstanten Preisen zur Einsatzmenge an Arbeitsleistung, die wiederum gemessen ist an der Zahl der Beschäftigten oder an den geleisteten Arbeitsstunden. Beschäftigt man sich eingehender mit dem Begriff der Produktivität ganz allgemein, wird man mit einer Reihe von Umbestimmungen konfrontiert, die teilweise in so mancher Literatur noch herumspuken. Gordon versucht den Vagheiten der Begriffsbestimmung zu entgehen und rekurriert auf den Begriff der Totalen Faktorproduktivität (TFP), der dem sogenannten Solow-Residuum entspricht. Ein Modell, mit dem die neoklassische Wachstumstheorie begründet wurde und das in einer Kaskade mathematischer Berechnungen nachzuweisen versucht, dass dauerhaftes Wachstum nur durch Produktivitätsfortschritt erreicht werden kann, wobei als exogener Faktor der ‚Technische Fortschritt‘ bedeutet, dass die Arbeitsproduktivität eben mit dieser exogenen Rate bzw. Entwicklung wächst. Dieses Wachstum kann dann auch gleichgesetzt werden mit dem Faktor Kapitalintensität, ohne den ein Technischer Fortschritt kaum möglich wäre.

Der eigentliche Clou bei dieser teils wilden Art von Berechnungen ist der Bezug des Wachstums, der als arbeitsvermehrender Technischer Fortschritt veranschlagt wird, nicht mehr nur Pro-Kopf-Größen, sondern auch sogenannte Effizienzeinheiten der Arbeit betrachtet. Da aber der Technische Fortschritt als ein exogener Faktor betrachtet wird, wird er nicht aus dem Solow-Modell selbst heraus entwickelt, bleibt residual, dem dann eine endogene Wachstumstheorie beispringt, um einen signifikanten Teil des vom Solow-Modell nicht erfassten Wachstums zu erklären.
Dies vorausgeschickt mag kaum zur Klärung beitragen, ist aber notwendig, um im Gestrüpp der theoretischen Anstrengungen der neoklassischen Wachstumstheorien wenigstens „kategorial“ mitgehen zu können. Wir nehmen die Totale Faktorproduktivität insofern ins Kalkül, als sie die Summe aller Faktoreinkommen, die in Unternehmen, Staat und Privathaushalten anfallen, wie Gewinne, Löhne und Gehälter, Zinsen, Mieten und Pachten und so die Nettowertschöpfung bilden. Die Bruttowertschöpfung entspricht so bestimmt dann der Nettowertschöpfung zuzüglich Abschreibungen, die in Unternehmen und bei Immobilien und Bodenvermögen anfallen. Ökonomisch betrachtet werden auf dieser Grundlage Veränderungen in der Totalen Faktorproduktivität häufig als die Folge von Innovationen und dem technologischen Wandel sowie der effizienteren Nutzung aller Produktionsfaktoren interpretiert. Das TFP-Wachstum ist „… the best proxy available for the underlying effect of innovations and technological change on economic growth.“ (Gordon 2016, S. 73).

Gordons These, dass die größeren Effekte der dritten industriellen Revolution bereits im sozialen Fortschritt der USA angekommen sind, haben wir hinreichend differenziert und widerlegt. Dass diese Effekte einstigen Wachstums in eine Phase abnehmender ökonomischer Erträge eingetreten ist und deshalb nicht mehr zu weiteren Steigerungen der Wachstumsrate der Produktivität führen werden, haben wir ebenso differenziert als eine strukturelle Folge des amerikanischen Modells erklärt. Gordons Beispiele wachsender und dann abnehmender Produktivität wie etwa Scannerkassen im Einzelhandel oder der Büroausstattung mit EDV zeigen lediglich, dass der Autor wenig vom Technischen Fortschritt versteht, insofern er Scannerkassen und EDV bei ihrer Einführung als sehr innovativ qualifiziert und konstatiert, dass sie einen erheblichen Produktivitätsfortschritt mit sich brachten, der sich in den letzten zehn Jahren jedoch kaum noch verändert hat und somit abnimmt.

Die historisierende Betrachtung rückwärts auf Phasen industrieller Revolutionen versagt stets vor dem Dilemma, dass sie Übergänge nicht erklären kann, schon gar keine Fortschritte. Denn was vor hundert Jahren produktiv war, kann nicht mit heute verglichen werden, waren doch viele der Techniken damals noch gar nicht vorhanden. So ist es dann auch mit der Totalen Faktorproduktivität, die, da sie infolge ihrer Ermittlung aus einem exogenen Faktor und als Residuum letztlich ein Maß an Unwissenheit und er daraus resultierenden Messfehler beinhaltet. Anders als bei unseren Ausführungen, wo sie eine zentrale Rolle spielt, geht Gordon nicht auf die Frage ein, inwieweit eine hohe und dynamisch steigende Einkommensungleichheit Auswirkungen auf das Wirtschafts- und das Produktivitätswachstum hat. Es verwundert nicht, dass mathematische Berechnungen sich schwertun einen, zum allgemeinen Konsens hinreichenden Zusammenhang zwischen sozial-ökonomischer Ungleichheit und Wirtschaftswachstum zu errechnen (Behringer 2016).
Dass ein Zusammenhang und zwar ein negativer besteht, sagt bereits der gesunde Menschenverstand. Hutter und Weber (2017) sehen empirische Evidenz dafür, dass höhere Ungleichheit sowohl der Beschäftigung als auch der Produktivität schadet und dass man annehmen kann, dass das zum einen eine steigende Einkommensungleichheit, besonders bei mittleren und niedrigen Einkommen, wie man dies sowohl in den USA als auch in Deutschland konstatieren muss, zu geringeren Bildungsausgaben bei privaten Haushalten und Familien mit mehreren Kindern führt. Zum anderen wird ohne eine entsprechende Einkommensentwicklung die Konsumnachfrage langfristig geschwächt, was aber nur marginal das strukturelle Problem der amerikanischen Verkäufermärkte adressiert.

Immerhin aber unter einem unglücklichen Ausdruck wie „Gegenwinde“ wirft Gordon die Frage auf, welche Faktoren das Phänomen niedriger Wachstumsraten in den entwickelten Volkswirtschaften des Westens – wir ergänzen, des asiatischen Ostens ebenso – beeinflussen, wobei wir mit seiner Grundthese, dass es diese Wachstumsschwäche in der beschriebenen Art und Größe überhaupt gibt, ganz und gar nicht dacore gehen. Aber lassen wir ruhig auch weg, was in Gordons Analyse auch keine Bedeutung hatte, und notieren wir, dass Demografie, Bildung, Einkommensungleichheit, Staatsverschuldung, Globalisierung und Umwelt die wichtigsten dieser Faktoren sind, die wachstumshemmend wirken können. Warum gerade die Digitalisierung nicht in dieser Reihe auftaucht, behandeln wir gleich, bleibt aber sein Rätsel. Die sogenannten Gegenwinde greifen über Finanzierungskosten, Steuer- und Transfersysteme mittelbar in die Entwicklung der verfügbaren Einkommen ein, sind aber nur insofern Gegenwinde gegen das Wirtschaftswachstum, wenn man einer sonderbaren Lehre der Ökonomie folgt, nach der ein soziales und politisches – auch sozio-kulturelles – Leben nicht existierte, jedenfalls durch ein nicht-ökonomisches Aggregat finanziert würde; what ever that means?
Setzen wir uns weiterhin ruhig der Aussagen zum Produktivitätswachstum noch eine Weile aus, zumal sie von (fast) allen Ökonomen und institutionellen Experten geteilt wird, wonach dieses Wachstum in den letzten Jahrzehnten sich drastisch verlangsamt hat.

Wir sehen (in dem Chart; im Original) durchaus, was in den letzten Jahren bezüglich der Arbeitsproduktivität passiert ist, dass Automatisierung und Computertechnik z.B. auch den archaischen Prozess des Stahlkochens drastisch verändert haben, der am Beginn der industriellen Revolution stand. Anfangs arbeiteten wenig Männer an den Stranggießanlagen, dann, etwa vor 60 Jahren schufteten Dutzende Menschen in ähnlichen Anlagen, wo vor 100 Jahren es dort von Arbeitern nur so wimmelte. Zwei Stranggießanlagen gibt es im Stahlwerk von Thyssenkrupp, monatlich produzieren sie 450 000 Tonnen Stahl. Vor 44 Jahren waren es nur 100 000 Tonnen, aber mit doppelt so vielen Mitarbeitern. Was wir in dem Chart nicht sehen ist, welche strategische Bedeutung z.B. moderne, nach innen in alle Prozesse der Produktion und nach außen in alle Ebenen des Handels vernetzte, digitale System für die Kunden, die solche System benutzen, aber auch für die „Hersteller“ solcher Vernetzungen haben. Wo und wie wird der strategische Nutzen cloudbasierter, digitaler Systeme berechnet?
Folgen wir der Totalen Faktorproduktivität und ihren Gegenwinden, dann stellen sich durchaus interessante Frageperspektiven ein. Produktivitätsfortschritt wird bei der Betrachtung der gesamten Wirtschaftsgeschichte stets von einem ehernen Prinzip begleitet, dass nämlich immer weniger Menschen immer mehr produzieren. Das gilt nicht nur bei Stahl, sondern auch bei Turbinen, Autos oder Smartphones und IT-Systemen. Zum Prinzip der Produktivitätssteigerung gehört gleichsam als dessen Schatten das Prinzip der Effizienzsteigerung, was bedeutet, dass alte Arbeitsplätze wegfallen und neue, sowohl substituierende wie neuartige entstehen. Und der Produktivität kommt dabei die maßgebliche Schlüsselrolle zu. Denn sie entscheidet darüber, ob sich ein neuer Arbeitsplatz für das Unternehmen lohnt, oder nicht.

Wir erkennen, dass hier der alte marxsche Grundsatz mitschwingt, wonach es nur eine wesentliche Form der Produktivität gibt, nämlich die Arbeit, insofern was ein Arbeitnehmer – in Kombination mit anderen Produktionsfaktoren pro Stunde – erwirtschaftet, nicht nur darüber entscheidet, welche Bezahlung er für seine Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt fordern kann, sondern auch darüber, wie hoch das Wirtschaftswachstum eines Landes und letztlich auch dessen Wohlfahrt ausfällt. Dem entspricht die stets in Krisenzeiten ausgesprochene Zuversicht, dass hoch-qualifizierte Berufsgruppen in technologischen Mangelsegmenten forthin gute Beschäftigungschancen haben und Arbeitslosigkeit dort weniger droht bzw. greift. Trotzdem haben wir gesehen, dass in diesen Gruppen nicht nur die Angst vor Arbeitsplatzverlust mit am größten ist und dies nicht unbegründet. Was ebenso wenig in der neoklassischen Analyse der Arbeitsproduktivität mit eingeht ist der Umstand, dass heute in vielen Wirtschaftssektoren aber besonders in der industriellen Produktion hochprofitable Firmen bzw. Unternehmensbereiche geschlossen werden aus politischen und wettbewerbsstrategischen u.a. Gründen.
In des Teufels Küche werden so manche statistischen Berechnungen angestellt, die sich als hochgradig fragwürdig erwiesen haben. So vermuten einige Ökonomen die Ursache für die teils signifikant verlangsamte Produktivitätsentwicklung darin, dass die Preisentwicklung nur ungenau erfasst wird. Aghion (1997) analysierte die amtliche Preisstatistik und fand, dass sie den Wert vieler Güter notorisch zu hoch veranschlagt, z.B. bei den meisten Elektronikprodukten, deren Preise, anders als von amtlichen Statistikern erfasst, nur noch selten steigen, im Gegenteil, eher sinken. Das hat z.B. wiederum zur Folge, dass die Inflationsrate nicht so hoch ist, wie amtlich testiert. Und wenn die Preissteigerung zu hoch ausgewiesen wird, fällt das reale Wachstum zwangsläufig kleiner aus, mithin auch der Ausstoß pro Kopf. Und auch bei den Kapitalkosten können sich daher erheblich Datendivergenzen ergeben.
Schier mystisch wird die amtliche Statistik, wenn sie sich mit Produkten und Dienstleistungen im Internetzeitalten beschäftigt. Wir sprechen bewusst nicht von Internetprodukten und Segmenten, sondern von einem Zeitalter, weil es mehr als dies, alles erfasst und vieles hinzukommt, wofür es in der Statistik weder ein Wort noch ein Ding im Warenkorb gibt. Zu dieser schier grenzenlos breiten, statistischen Fehlerquelle gehört, dass vieles in der digitalen Welt einerseits einen großen Nutzen hat und deshalb auch den Wohlstand mehrt, aber keinen Preis hat. Und wenn es einen Preis hat, entsteht dieser sekundär wie etwa bei den sogenannten Sozialen Medien als Preis für Werbung und im Rahmen neuer Third Party Provider, Follower- und Affiliate Marketing, die nicht direkt in der Gewinn- und Verlustrechnung der Medien auftauchen.

Ein gern zitiertes Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Internetlexikon Wikipedia. Bevor es Wikipedia gab, musste Wissen für hunderte bis etliche Tausend Euro für Nachschlagewerke von Brockhaus, Herder oder Meyer ausgeben werden. Diese Zahlungen schlugen sich nicht nur in der Gewinn- und Verlustrechnung der Verlage, sondern auch in der öffentlichen Wohlstandsermittlung nieder. Die Anschaffung eines mehrbändigen Werks ließ nicht nur das Wissen wachsen, sondern auch das Bruttoinlandsprodukt. Die Nutzung von Wikipedia kostet seit vielen Jahren nichts und findet deshalb in keiner volkswirtschaftlichen Statistik Eingang. Ebenso ist es mit jeder Art betrieblicher Recherche, mit dem Zugang zu Markt- und anderen Informationen weltweit, die früher selbst auf lokaler und nationaler Ebene nicht ohne erheblichen Einsatz von Zeit und von Geldmitteln zu bekommen war; vieles bekam man überhaupt nicht, was heute einen Klick weit entfernt für jeden zugänglich und ebenso ein erheblicher Faktor der Arbeitsproduktivität ist.