Aus: Zum Schluss – Zurück zur Natur

Das taumelnde Streben nach Neuem

Die Mittel des Zwangs hat die Ökonomik geliefert und die Politik in Gesetze gegossen. Sie funktionieren weltweit und damit auch untereinander. Deshalb nennen wir den globalen Wettbewerb auch das umfassende Zwangssystem der Ökonomie, welches auf jede Form einer immanenten Veränderung, einer Lockerung, auf zu viel Wechsel und Wandel, auf Unbeständigkeit sofort negativ reagiert. Die Formulierung „negativ reagiert“ ist nur richtig in der Betrachtung der Auswirkungen innerhalb eines Systems wie das der weltweiten Formen der Marktwirtschaft. Die Prozesse innerhalb des Systems sind Forcierungen und Eskalationen. Ein Zwangssystem ist wie jedes andere System am stabilsten und effizientesten, je höher dessen Grad an Integrität ist. Integrität meint in diesem Zusammenhang Vereinnahmung und damit auch Instrumentalisierung. Wenn heute immer lauter über gewünschte und gewollte Systembrüche gesprochen wird wie etwa in der Diskussion um die sogenannte Work-Life-Balance bis hin zu Vorstellungen eines bedingungslosen Grundeinkommens, dann sehen wir schnell, wie noch bevor man sich inhaltlich mit solchen Ideen und Vorstellungen auseinandergesetzt hat, sie verworfen werden mit dem Hinweis auf den Wettbewerb. Der Wohlstand, so haben wir weiter vorne bereits ausgeführt, hängt maßgeblich ab vom Wachstum einer Volkswirtschaft im globalen Wettbewerb und die Globalisierung, die transnationalen und unternehmensübergreifenden Kooperationen verschärfen die Zwangssystematik zudem. Und allem übergeordnet fungieren die internationalen Finanzmärkte und die Börsen, die gleich im Ansatz alle neu-gestaltenden und grund-verändernden Impulse, jedes Zuviel an Spontaneität der Waren- und Gütermärkte, jede Negativität eines vernünftigen Willens in ihren Axiomen des Geldes mindestens drosseln, grundsätzlich hemmen, bestrafen und unterdrücken.

Was für Zwangssysteme und für zwanghafte Persönlichkeiten spricht, findet, wie fast alles in der Welt, auch eine Gegenstimme, einen Gegenspieler, und den kennen wir als hysterische Persönlichkeit, die im allgemeinen Sinne das derzeit ultimative Realitätsprinzip der Moderne am weitestgehend individuell abbildet. Freud attestierte allen Frauen die Neigung zum hysterischen Anfall und damit stand er beileibe nicht allein über mehrere hundert Jahre lang. Und das war keineswegs nur eine private Fehleinschätzung, auch die Wissenschaft und die Künste kannten das überspannte Wesen des Fräuleins und Frauenzimmers. Aus der Unerträglichkeit des endlosen Wartens auf die Erfüllung ihrer Wünsche drängte es die in der Zwangssystematik patriarchaler Kontrolle und Unterdrückung gefangenen Frauen mit erstaunlicher und überwältigender Naivität in alle möglichen Versuchungen, was schon der Kirche missfiel und was sie zugleich verklärte. So wurde das hysterische Fräulein zum Inbegriff der Verführbarkeit, auch, weil sie den Verführungen des Mannes und nicht nur im Sturm und Drang widerstehen konnte. Vom hysterischen Frauenzimmer ging seit jeher der Zauber des Neuen aus. Und allem Neuen gilt ihr Interesse und ihr Streben. Zur hysterischen Persönlichkeit gehört das Risiko. Sie strebt nach Freiheit und jeder Form der Verwirklichung eigener Wünsche, seien sie auch noch so naiv, so gewagt, so ins Unbekannte und Neue gerichtet.

So stark das Streben und das Interesse an Neuem auch ist, so schnell überwältigt es die Hysterie, so abrupt ist das jähe Ende allen Begehrens, wenn es in sich zusammenbricht und sich die Angst vor etwas Endgültigem, vor Unausweichlichem und Notwendigen einbricht. So ist das Begehren aufgebrochen in den Taumel des Neuen und bricht zusammen in der eigenen Begrenztheit. Grenzüberschreitung und Starre sind Charaktereigenschaften der hysterischen Persönlichkeit wie Freiheit und Notwendigkeit im Dasein aller Menschen. Nur, dass die hysterische Persönlichkeit stets versucht ist, der Wirklichkeit zu entkommen, ist die Wirklichkeit doch verbunden mit Zwang, wie eben gesehen. Zwang, der Grenzen setzt, mit einer durchdringenden Rationalität und Relation von Individuum und Gesellschaft. Beide sind wechselseitig durchdrungen von Zwangsmechanismen und -strukturen und weil hysterische Verhaltensweisen sich dadurch auszeichnen, dass sie die eigenen Grenzen in den Formen der Selbstkontrolle und der Selbstkritik nicht kennen, nicht wahrnehmen wollen, geht die hysterische Persönlichkeit lieber einen anderen Weg. Nur mit schwacher Selbstreflektion, kaum Selbstkritik und Selbstkontrollen dominiert hier offenkundiges Geltungsstreben[1]. Daher gehören zur hysterischen Person stets auch Konkurrenz und Rivalität; sie wollen, sie müssen beeindrucken, koste es, was es wolle. Wir sehen allein schon bis hierhin, dass die hysterische Persönlichkeit aus Strukturen nachgebildet ist, die wir aus der Wirklichkeit unserer postmodernen, postindustriellen Gesellschaft her nur zu gut kennen.

Ihr bleibt ein hoch ausgebildeter Narzissmus, dem es, vor allem um Bewunderung geht. Bewunderung ist eine zeitlich andauernde Anerkennung, so sie in materialisierten Formen imponiert; das Haus, das Auto etc. Auch das Bildungsbürgertum tat hier einiges zur Sicherung gesellschaftlicher Anerkennung und zur Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse, die im Kern sich um eine Art Selbstidealisierung drehen, aus der Aufmerksamkeit und Bewunderung ebenso hervorgehen wie die sprichwörtliche Arroganz zur Prävention möglicher Kritik, Misserfolg oder Ablehnung; Angriff ist bekanntlich die oft beste Art der Verteidigung. Die hysterische Person ist bedacht auf Schnelligkeit, Warten ist ihr zuwider. So ohne die zeitraubenden Prozeduren des Nachdenkens, der Selbstreflexion und Selbstkritik fällen sie schnell Urteile und Entscheidungen. Ihre Urteilskraft ist hochgetunt in moralischen Unterscheidungen nach Gut und Böse bzw. richtig oder falsch in logischen Urteilen. Das bietet ihr das moderne Gesellschaftsmodell ebenso wie das Informations- und Kommunikationsmodell. Alles; Waren, Informationen, Tipps und Ratgeber, Jobs und Rezepte, Unterhaltung in filmischer wie in fotografischen Formen, selbst Kunst aus allen Zeiten ist verfügbar, die Welt ein riesiges Kaufhaus, eine grenzenlose Shopping Mall, eine Weltbibliothek und ein globales Kommunikationsmodell.

Moralisch unterscheidet sie die Verhaltensweisen aller Mitmenschen nach Gut und Böse und zeigt dabei erstaunliche Nähe zu einer expressiven wie impliziten Religiosität. Im Denken reicht die Urteilskraft noch zur Unterscheidung von Richtig und Falsch, Wahr und Falsch, je nach Genre. Wie die Moral, so steht auch die Logik heute in der Filiation der Suche nach eschatologischen, nach endgültigen Lösungen, eben nach den sogenannten Patentlösungen, wie wir sie in der Technik und heute in den digitalen Technologien zur Künstlichen Intelligenz hin entwickelt haben. Es ist deshalb in der hysterischen Persönlichkeit auch ein stabiler Hang zum Wunderglauben wie zu Verschwörungstheorien zu entdecken, sollen Wunder und die Frage nach dem Verursacher ja patentierte Antworten geben, zu denen die hysterische Persönlichkeit qua Narzissmus vorgibt, umfassenden und manchen diskreten Zugang zu besitzen; das moderne Copyright berücksichtigt das wider jedes Geschichtsbewusstsein und gegen jede Vernunft der Moderne.

[1] Riemann (a.a.O.) S.171