Einleitung

Der Band VI. unserer Philosophie des menschlichen Daseins beschäftigt sich mit der Frage, wie kommen Veränderungen zustande, was sind die Kräfte, die danach streben, dass etwas sich verändert, welche geistigen Vorgänge sind bestimmend dafür? Und, ohne dies geht es nicht, kommen natürlich auch alle Kräfte zu Worte, die keine Veränderungen wünschen, alle Vorstellungen, Meinungen und Überzeugungen, die Beständigkeit und Beharrungsvermögen, Konformität und Konsens tragen. Da es uns nicht um ein Gegeneinandersetzen von Meinungen, Vorstellungen und Handlungen mit unterschiedlichen Ausrichtungen geht wie etwa in den Kulturwissenschaften, im Journalismus oder in den Sozialwissenschaften, bleiben wir auf den Feldern der Philosophie, nicht, ohne immer wieder einen Blick über die Grenzen zu werfen und quasi in Nachbars Gärten nachzuschauen, was dort so blüht und gedeiht.

Als philosophisch orientiertes Denken kommen wir nicht umhin, den antiken griechischen Gärten gelegentlich einen Besuch abzustatten. Das gründet nicht in historischer oder fachlicher Gründlichkeit, sondern in der Tatsache, dass vieles von dem, was wir heute unter Beständigkeit und Veränderung verstehen, uns seit den „Griechen“ beschäftigt und diese Beschäftigung zugleich auch in vielerlei Hinsicht die Bestimmungen definiert, die unseren beiden zentralen Begriffen von Veränderung und dessen Gegenteil, die Beständigkeit gemein sind. Dynamis und Energeia sind die historischen und die epistemologischen Vorläufer beider Begriffe, mit denen die Griechen vor mehr als zwei Jahrtausenden bereits komplexe gesellschaftliche Realitäten hinterfragten. Sie fanden damals bereits, und dafür stehen beide Begriffe Dynamis und Energeia, allgemeine Grundcharakteristika der gesellschaftlichen und politischen Realität im antiken Griechenland, vor allem im Stadtstaat Athen, was wir als eine Ontologie vorliegen haben.

Solche historischen Denk-Formationen von Gesellschaft und Politik wurden damals stets auch betrachtet aus der Frage heraus, was menschliches Denken, der Geist, der Nous überhaupt und in welcher Weise über diese Realität von Gesellschaft und Politik wissen kann, also aus einer epistemologischen Perspektive, die wir mit Beginn der Neuzeit, also mit der Renaissance etwa historisch datiert, als Erkenntnistheorie kennengelernt haben. Um also hier mit möglichen Begriffsüberschneidungen und Analogien besser umgehen zu können, bestimmen wir die Ontologie als die Philosophie, die sich mit den allgemeinen Grundmustern bzw. Grundcharakteristika einer Realität, also von etwas, was existiert, beschäftigt. Dass dies keine rein historische Betrachtung ist, ergibt sich nun von selbst, da Grundmuster und -charakteristika im philosophischen Sinne nicht nur allgemein sind, sondern auch universell und damit für mehr als eine historische Zeit, eine Epoche Gültigkeit beanspruchen. Betrachten wir denselben „Sachverhalt“ aus der zeitlichen Perspektive, dann kann unser Wissen von der Realität sich als ungenügend, als insuffizient, als unscharf herausstellen, was nicht falsch sein muss, aber eben unvollständig bzw. mangelbehaftet sein kann, insofern eine umfassendere und vielleicht auch bessere Sicht auf eine historische Wirklichkeit sich dabei ergeben kann.

Wenn wir dies im „Kann-Modus“, also im Modus der Möglichkeit und nicht der Notwendigkeit formulieren, so liegt das einfach daran, dass wir bis heute und immer wieder neu mit Fragen der Epistemologie, also mit Fragen wie etwa: welchen Stellenwert hatten Frauen im antiken Athen neue Gesichtspunkte, neue Charakteristika der antiken Gesellschaft herausfinden und auch neue, soziale, politische, wirtschaftliche und kulturell relevante Muster erkennen können, die die Beziehung der Menschen untereinander, hier am Beispiel der Beziehung zwischen Mann und Frau, bestimmen. Wir sehen, ein Muster ist also nicht dasselbe wie ein Charakteristikum und kommt auch nur durch eine ganz andere Herangehensweise an die Realität zustande. Und deshalb ist die Herangehensweise an die Realität, die sehr unterschiedlich sein kann, von ganz zentraler Bedeutung für diesen Band unserer Philosophie des menschlichen Daseins, von dem wir also nicht nur allgemein sprechen, sondern auch mit Fragen begegnen, die universellen Charakter haben und auf allgemeine Grundmuster des menschlichen Daseins orientiert sind; nicht quasi philosophisch vereidigt, sondern kritisch jeder Wissenschaftstheorie gegenüber, auch der Philosophie also.

Wir haben dafür einen „Jungen“ eingeführt, der an seinem ersten Tag unterwegs von einem anderen Jungen namens Paul kurz vor Erreichen des Kindergartens verprügelt wird. Das erinnert Menschen mit literarischen Kenntnissen schnell an die berühmte Szene zwischen Sosias und Merkur in Kleists Amphitryon:
Sosias tritt mit einer Laterne auf: Heda! Wer schleicht da? Holla! […]
Merkur vertritt ihm den Weg: Halt dort! Wer geht dort?
Sosias. Ich.
Merkur. Was für ein Ich?
Sosias. Meins mit Verlaub. Und meines, denk ich, geht hier unverzollt gleich andern. Mut Sosias!
Merkur. Halt! mit so leichter Zech entkommst du nicht. Von welchem Stand bist du?
Sosias. Von welchem Stande? Von einem auf zwei Füßen, wie Ihr seht.
Merkur. Ob Herr du bist, ob Diener, will ich wissen?
Sosias. Nachdem Ihr so mich, oder so betrachtet, Bin ich ein Herr, bin ich ein Dienersmann.
Merkur. Gut. Du mißfällst mir…“

Wir begegnen hier dem unausweichlichen Konflikt zwischen Ontologie und Epistemologie, nämlich einem, heute sagen wir evidenz-basierten Wissen – Heidegger spricht von einem phänomenologischen Wissen – und einem transzendentalen Denken, wenn transzendental meint, ein Denken nach den Bedingungen seiner Möglichkeiten, also einem epistemologischen Denken, welches die Bedeutung von Nicht-da-seiendem mit einbezieht. Unser „Junge“ steht paradigmatisch für Vorgänge, die in fundamentaler und universeller Hinsicht menschliche Möglichkeiten, eine Realität auszulegen und mit ihr umzugehen beteiligt sind. Seit Aristoteles, aber mehr noch seit Descartes beschäftigt sich die Philosophie mit solchen Vorgängen, mit sinnlichen Wahrnehmungen, mit der Vorstellungs- und der Urteilskraft und deren vielfältigen Zusammenhängen, und keine Fachwissenschaft kann sich solchen Fragen entziehen, ob sie die Zusammenhänge zwischen ihrer Ontologie und den darin verborgenen epistemologischen Dimensionen berücksichtigt. Wenn heute in der Medizin an verschiedenen Universitäten der Fachbereich: Gender-Medizin eröffnet wird, nicht immer, ohne einen gewissen Protest, ohne auch ein herablassendes Auge, das leicht lächelnd sich über Fragen lustig macht, ob und inwiefern diese ach so allgemein verbindliche Wissenschaft der Medizin nicht doch Unterschiede zur Kenntnis nehmen muss, die in der Diagnostik und mehr noch in der Therapie den Unterschied zwischen einer erkrankten Frau und einem erkrankten Mann notwendig voraussetzt, dann spricht dies bereits bis hierhin schon für sich.

Führen wir den Unterschied zwischen Ontologie und Epistemologie zurück auf unser Dasein, dann finden wir diesen Unterschied in sehr verschiedenen strukturellen Zusammenhängen und erkennen die Mühen, die er macht, ein komplementäres Verhältnis in ein logisch relationales zu überführen. Diese Transformation von Komplementarität in Relationalität ist eine der Herzkammern des abendländischen Denkens, datiert von der aristotelischen Logik bis in die Logik des Industriezeitalters, das werden wir auch in diesem Band unserer Philosophie aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und seinen Wirkungen wie Folgen auf unser Dasein nachspüren. Eine Betrachtungsweise, die diese Transformation in sich trägt, ist die des menschlichen Daseins selbst, wie sie vor allem von Heidegger angestellt wurde. Das Problem hat er vom Existenzialismus quasi geerbt, als Dasein und Existenz in eine epistemologische Relation gebracht worden sind und damit auch das Leben resp. die Geburt und der Tod in eben eine solche Relation eingedacht wurden.

Wir fragen uns daher: sind Dasein und Existenz wie auch Leben und Tod wirklich aufeinander bezogene Begriffe? Wir befragen diese Relation als eine logische Relation von notwendigen und hinreichenden Bedingungen, aber natürlich auch in einer Betrachtung, die von intersubjektiven und interaktiven Beziehungen eines Daseins zu einem anderen Dasein, also zwischen Menschen ausgeht. Es bleibt stets dabei die grundlegende Frage, was ein Dasein ist und was es mit anderen Menschen verbindet? Ist es individuell oder in seiner Art besonders, also bereits über sich selbst hinaus? Und wie sind aus dieser Betrachtungsweise Massenbewegungen wie etwa der Bauernaufstand, die Französische und die Russische Revolution, der Prager Frühling bis hin zur 68er Bewegung ontologisch und epistemologisch zu unterscheiden? Kurzum, entsteht eine Massenbewegung als eine additive Ansammlung individuellen Protestes oder als ein Massenphänomen an sich? Gibt es Massenphänomene als einen kollektiven Ausdruck von Leiden oder von Gegenwehr gegen eine politische Machtformation, die massenhaft Individuen unterdrückt, oder ist ein politisch motivierter Massenprotest vielleicht gegründet auf ganz anderen Ursachen bzw. Handlungszusammenhängen? Wir beantworten diese Fragen eindeutig mit der These: Alle Formen von Aufstand sind Mobilisierungen gegen eine Vereinzelung des Menschen durch strukturelle, durch politische Machtorganisationen.

Dissozialität also ist ein Seinsentwurf einer von Staats- oder Gesellschaft-wegen vereinzelten Persönlichkeit und ein Heraustreten aus einer Seinsfrage, die keine Antwort gibt auf die Beziehungen eines Individuums in seiner Gesellschaft. Jede Seinsfrage, so zeigen wir, ist durchschnittlich, ob sie metaphysisch als Wesen nachgefragt oder ontologisch vom Dasein aus befragt wird. So können wir von jedem Begriff ausgehend auf alles schließen, was gemein, was verallgemeinerbar ist und kommen letztlich von einer substanziellen, mithin statistischen Sichtweise nicht los. Ob wir Eigenschaften oder Besonderheiten unterscheiden, biologische, physiologische, sprachliche, soziologische, kulturelle und viele mehr, letztlich verlegen wir stets unsere Betrachtung vom Individuum auf die besonderen und allgemeinen Durchschnitte, auf eine Art Gaußsche Normalverteilung in der „negatio est determinatio“. Auch die Philosophie wurde auf dem falschen Fuß überrascht durch die Digitalisierung, die eine Betrachtung eröffnet im statistisch nicht mehr signifikanten Bereich bis hin zur individuellen Krankheit. Deshalb ist Individualmedizin zurecht ein neuer Blickwinkel auf Krankheiten, weil der Blick direkt auf das Phänomen der Krankheit als nicht bzw. noch nicht im ICD-10 katalogisiert sich richtet. Hier steht also die Statistik umgekehrt reziprok zum „negatio est determinatio“, dem berühmten Satz des Spinoza; es wäre jedenfalls wünschenswert, wenn dies gelänge.
Wir kommen nicht umhin, uns mit Hierarchien zu beschäftigen und zeigen darin auf, dass es in Hierarchien keine Perspektiven gibt, wenn Perspektive als eine neue Sichtweise bestimmt ist, da die Richtung der Sichtweise vertikal und somit affirmativ zum Ausgangspunkt ist. Ansichten, das Nebeneinander von scheinbaren Perspektiven aber eröffnen keine wirklich neuen Sichtweisen, ihnen fehlen die Richtung und die Orientierung. So ist Effizienz in der Wirtschaft keine wirkliche Perspektive, sondern eine Ansicht, die ihrem Ende entgegenläuft. Effizienz priorisiert in der Ökonomie allein die Wirtschaftlichkeit des Handelns und wenn dabei die Faktoren wie etwa Arbeit und Kapital so sehr in Widerspruch geraten, dass ein ganzes System und zugleich die Methode des Wirtschaftens zugrunde zu gehen droht. Seit einem halben Jahrhundert entdecken wir zunehmend mehr perspektivisches Denken, das mehr horizontal bzw. faktoriell mehr in Form einer Vektor- als in einer Matrix-Perspektive notiert bzw. formuliert ist, wobei eine horizontale, nicht-linearkombinatorische Sprache außerhalb der Mathematik schwer zu finden ist; sie hat, nicht unerklärlich, kaum eine Abbildung in der Episteme des Abendlandes gefunden. Wir wollen ein wenig mehr Klarheit und eine Erklärung dafür finden, warum dies so ist und den Spuren horizontalen Denkens weiter folgen.

Dazu müssen wir uns mit dem Zusammenhang von Denken, Handeln und praktischer Vernunft beschäftigen und dabei wie immer im Auge haben Möglichkeiten der Veränderung. Wir analysieren die philosophischen Implikationen einer reinen bzw. theoretischen und einer praktischen Vernunft und werden erkennen, dass die theoretische der praktischen Vernunft nicht nur vorhergeht, sondern auch in einer vertikalen Ordnung bestimmt und damit der praktischen Vernunft übergeordnet ist. Die vertikale Blickrichtung von der theoretischen zur praktischen Vernunft ist inhaltlich bestimmend und wir werden sehen, dass Ideen von Freiheit, von freiem Willen, von Autonomie und unbedingten Vermögen im Denken als Möglichkeiten (Dynamis) dem Handeln vorausgehen; aber ist das wirklich so, oder ist das nur eine bestimmte Sichtweise und welche Folgen hat diese dann?

Wir werden erkennen, dass die praktische Vernunft ihre Bedingungen nicht in einer übergeordneten, also bestimmenden Form hat, sondern im Geschehen selbst als bestimmende Bedingung und den dazugehörenden, transzendierenden Möglichkeiten. Hier in der praktischen Vernunft steht mehr die Evidenz des praktisch vernünftigen Umgangs vor einer umfänglich verstehenden Vernunft, und nur unter dem Primat der theoretischen Vernunft wird ein Zurückweisen hinter ein anderes und somit ein Verstellen von Denken, von Vorstellungen und Handlungszusammenhängen aus ihren direkten, unmittelbaren Zusammenhängen vorgenommen, und so die unmittelbaren Bedingungen hinter vermittelte durch ein bestimmtes Denken verdeckt. Wir formulieren einen Grundsatz, dass Denken den Aufmerksamkeitsamplituden der Wahrnehmung folgt, die sich experimentell ausbilden und in Erfahrungen rückkoppeln und das sind die elementaren Bedingungen jeder praktischen Vernunft.
Zu einer Philosophie der praktischen Vernunft, das vergessen oder missachten viele, die sich damit beschäftigen, gehört ganz elementar und natürlich auch eine Beschäftigung mit der Kunst und nicht nur weil Kunst ja auch eine praktische Handlung ist und damit, wenn schon nicht vernunft-bestimmt, so doch zumindest eine vernunft-begleitete Tätigkeit ist. Wen sollen wir über den Tod, das Leben, die Zeit vor dreitausend Jahren befragen? Die Beteiligten sind tot, deren Artefakte holen die Archäologen aus dem Boden und deren Monumente dauern, aber geben die Geheimnisse des Daseins ihrer Erbauer selten preis. Der Umgang mit dem Tod, die Erfahrungen von Leiden und Krankheit, das Verständnis vom Dasein, das und viel mehr noch vermitteln uns die Kunstwerke. Sie sind die metaphorischen Klammern, die Metaphern des vergangenen Lebens, seine metaphysische Ausdehnung. Und darüber hinaus geben sie uns eine Idee von der Freiheit, von dem, was damals Wahrheit war, was Gerechtigkeit, was Weisheit und Glück und was dies alles für uns bedeuteten kann.

Nur in der Kunst, in der Malerei, der Literatur, der Musik und Oper und im Tanz tritt der Mensch in ein Verhältnis zum Tod, in ein intimes, ein bis ins Erotische und Sexuelle assoziierte Verhältnis. Alle bildenden Künste kommen ohne einen Pakt mit dem Teufel und dem Tod nicht aus. Und worum geht es in diesem Pakt zwischen Kunst, Tod und Teufel dann? Es geht um nichts weniger als um die Unsterblichkeit und die Ewigkeit der Künste, um nichts weniger geht es. Und natürlich geht es auch darum, sich aus jeder Umklammerung, selbst die des Todes wieder zu befreien und zu neuen Sichtweisen auf die Vergangenheit, auf die eigenen Vorstellungen und Erinnerung zu kommen; welche Wissenschaft macht dies zugänglich? Alles, was Kunst vorstellt, trägt die Vorstellung einer Veränderung und von neuen Möglichkeiten in sich und damit auch die Frage nach dem Sinn: Hat das, was noch-nicht ist, mehr Sinn, als das was nicht-mehr ist?
Es mag dem einen oder anderen gegen den „Strich“ des Bewusstseins gehen, wenn wir behaupten, dass die Vorstellung von Zeitlichkeit und mithin Zeit wie wir sie wahrnehmen schlechthin sich aus Vorstellungen von Ewigkeit und Unsterblichkeit entwickelt hat, aber es spricht doch einiges dafür; was zu zeigen ist. Zeitlichkeit ist eine Form der Verdichtung, eine Abstraktion wie auch das Individuum, die antiken „Idiotes“ es sind, jene, die der Gesellschaft abhandengekommen sind, das meint Idiotes. Und so haben wir auch die Begriffe Existenz und Dasein ontologisch zusammengelegt und ein Leichentuch über das Wesen der Intersubjektivität menschlichen Daseins gelegt. Wir schauen darunter und entdecken das Urbedürfnis, uns mit anderen zu verbinden, uns mitzuteilen, die Möglichkeit der Kommunikation und Kooperation neu und zwar aus der Veranlagung unseres Daseins selbst heraus; das zeigen übrigens alle Experimente der modernen Entwicklungspsychologie, dass soziales Verhalten, mithin Empathie bei Kleinkindern bereits ausgeprägt ist.

Notwendig ergibt sich hieraus eine Neubesinnung auf Lernen und Wiedererkennen, nun aber unter einer Neubestimmung aus dem Spiel und der Neugier. Spiel und Neugier sind mittlerweile weitgehend abgewertet worden und fristen ein noch gerade geduldetes Dasein im Leben von Kindern und Alten. Wir erinnern an die poetischen und literarischen Erkenntnisprozesse, die Formen des Wiederkennens, von adaptivem Erkennen beschreiben und an Schiller, der das Spiel ganz zentral für soziales Lernen veranschlagte. Ihm folgten inklusive Missverständnis der homo ludens von Johan Huizinga, der eine Antwort auf die von Max Scheler vorgenommene Typisierung des homo faber gab. Bei Huizinga erkennen wir das Spiel in seiner kulturbildenden Funktion und als bestimmenden Faktor, aus dem heraus sich kulturelle Systeme wie Politik, Wissenschaft, Religion, Recht usw. entwickeln. Diese Entwicklung, eingebettet in das soziale Dasein des Menschen und bestimmt aus dessen prinzipiell kooperativen Umgang trägt insofern spielerischen Charakter, als darin prinzipiell spielerische Verhaltensweisen und generell ein Prinzip der Selbstorganisation beschrieben werden können; der Weg hin zu modernen Spieltheorien ist dann nicht weit.

Dagegen steht der Ansatz des homo faber, des regelbasierten Umgangs mit dem Anderen und in der Sache, die sich zum homo oeconomicus als diejenige Form der wirtschaftlichen Organisation entwickelt hat, wie wir sie in den Ausführungen von Vilfredo Pareto nach 1906 kennen. Wir streifen den Homo oeconomicus noch einmal im Hinblick auf Formen der „Selbstorganisation, in deren praktischer Vernunft sowohl kooperative Prozesse wie vorausschauendes Agieren genauso wichtig sind wie die Dehnung von Spielregeln bis hin zum Regelbruch; auch soziale Techniken wie das Tricksen und das Täuschen schauen wir uns genauer an mit einem Rückblick auf die Grundlegung dessen, was Wahrheit und Falschheit im antiken Griechenland einst bedeuteten. Und unter diesem Topos von Wahrheit und Falschheit im antiken „prósopon“, der Persona und Maske schlagen wir einen großen Bogen zwischen der Antike und den virtuellen Realitäten im Cyberspace.
Wir kommen zum Begriff der praktischen Vernunft, die wir kennengelernt haben in einem sozialen Geschehen, einer intersubjektiven Interaktion und so bestimmen wir auch den Begriff aus einer interaktiven Gruppe und aus den vorhandenen sozialen Möglichkeiten eines Individuums. Draus entwickeln wir eine kritische Sicht auf Sorge und Fürsorge, also auf ein wichtiges Element der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, die nicht nur im Sozial- bzw. Fürsorge-Staat sich verwirklicht hat mit all den Unterschieden, die wir an mehreren Stellen unserer Philosophie bereits unterschieden haben zwischen Staaten nach angelsächsischem und Staaten nach kontinental-europäischem Muster. Von hier bedarf es nur eines kurzen Schritts, um einen Blick auf die „Bills of Right“ zu werfen, der für uns unter der Alternative zwischen „global und universell“ im Gegensatz zu „proprietär und nationalstaatlich“ eine erste Zuspitzung erhält. Eine weitere erhält er im Fokus auf das universelle Recht des Zugangs zum Wissen der Welt, vor allem, wenn es darum geht, Bestehendes wie z.B. ein politisches oder ein sozio-kulturelles System zu verändern. Ohne diesen freien Zugang zum Wissen ist ein neuer Anfang notgedrungen ein „Spiel mit dem Naturrecht“, mit einem „Trial-and-Error“ von Geschichte und den Möglichkeiten, die sich in einer konkreten historischen Situation für die Menschen ergeben.

Deshalb erscheint es uns auch zwingend, sich mit den „Diskursen“ zu beschäftigen. Diskurs bestimmen wir ganz aus der Tradition des Ausdrucks: discursus als ‚umherlaufen‘ bzw. „hin und her gehendes Gespräch“, was mithin als Gespräche mit verschiedenen anderen Menschen betrachtet werden kann, worin die gesamte Palette zwischenmenschlicher Beziehungen mitgeht, mitumherläuft. Und selbstverständlich müssen wir eine Brücke zu unseren neuen Kommunikations- und Informationstechnologien schlagen, wozu wir uns die Bedeutung von „Open Content“ vergegenwärtigen. Open Content, auch bekannt als Creative Commons in dessen rechtlichen Mittelpunkt, bezeichnet Zugang zu Inhalten, deren kostenloser Nutzung, Veränderung, Bearbeitung, Zusammenstellung und Weiterverbreitung, so dies urheberrechtlich erlaubt ist. Wir gehen nicht mehr detailliert – das haben wir bereits an anderen Stellen unserer Philosophie ausgeführt – auf die heillosen Zustände im europäischen Datenschutzrecht ein, ein Zustand, zu dem selbst die Juristerei mittlerweile nur noch Kopfschütteln übrig hat; immerhin regt sich hier ein Diskurs als ein neuer Anfang, das Recht auf freien Zugang zum Wissen neu aus rechtlicher Sicht zu diskutieren.

Es geht uns um die wichtigen Dinge, um eine paradigmatische Geltung einer negativen Freiheit, wenn es um Meinungsfreiheit in dem Sinne geht, dass jemand seine Meinung frei äußern darf, ohne von anderen z.B. durch Zensur daran gehindert zu werden. Und es gilt ebenso paradigmatisch, dass wir heute von einer positiven Freiheit sprechen, wenn die modernen, multilateralen Kommunikationstechnologien offen erreichbar und zur freien Meinungsäußerung uneingeschränkt zur Verfügung stehen müssen und zwar so, dass eine freie Meinungsäußerung nicht nur prinzipiell möglich ist, sondern, dass Meinungen auch tatsächlich geäußert werden, Kommunikation und kommunikative Interaktion auch tatsächlich stattfinden kann. Natürlich muss dabei auch ein Fokus gelegt werden auf das, was allenthalben als „Hate-Speech“ gefasst wird und damit auch auf die Frage, was ist eigentlich eine Meinung? Wo endet sie und wird ein Straftatbestand?
Aber vorher muss noch eine grundsätzliche Bestimmung stattfinden, die eine neue Sicht auf die praktische Vernunft erhellt und zwar aus der Betrachtung der neuen digitalen Daten-Technologien und wie wichtig es ist, dass Zugang zur Kommunikation uneingeschränkt für jeden möglich ist. Dabei werden wir entdecken, dass es eben kein Zufall ist, dass dieser, nicht einmal uneingeschränkt freie Zugang zu den modernen Daten- und Kommunikationstechnologien, die Vorstellung einer Ordnung ohne Herrschaft befördert. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass Regierungen sich generell schwertun mit Formen herrschaftsunterlaufender Diskurse, sie am liebsten verbieten oder stark einschränken würden. Aber so einfach ist die Steuerung der Medienkanäle heute nicht mehr, schon rein technisch nicht mehr. Vom politischen Verständnis her wäre es ein Einfaches, Gründe für die Einschränkung der digitalen Kommunikation zu erfinden, aber auch das erweist sich politisch als kleiner Selbstmord. Man greift die moderne Kommunikation gerne in Bausch und Bogen an als gesetzlose Kommunikations-Anarchie, wobei es gerade diese Anarchie ist, auf der unsere Zukunft aufbaut.

Dass Anarchie die Vorstellung einer Ordnung ohne Herrschaft in den politischen Diskurs gebracht hat, eine Vorstellung, in der eine gesellschaftliche Ordnung sich selbst organisiert und selbst regelt, idealerweise über freie Übereinkünfte aller Mitglieder im Sinne von funktionalen Entscheidungen, also keineswegs konnotierend mit Gesetzlosigkeit und Willkür- bzw. Gewaltherrschaft, wird dabei gerne und vielleicht auch noch eine Zeitlang ausgeklammert. Aber die Zeit der Ausklammerung ist auch bereits abgelaufen. Unsere westlichen Industrienationen erleben gerade eben diese Form der Transformation einer Gesellschaft hin zu zeitlich und räumlich und in aufgabenspezifischer Hinsicht schnell wechselnden agilen Gruppen in der zivilgesellschaftlichen Kommunikation, in der Unternehmens- wie der institutionellen Kommunikation; ein wesentlicher Transformationsprozess, der uns fortan stets explizit wie auch implizit in unserer Philosophie begleitet.

Erinnern wir uns also an die unterschiedlichen Bestimmungen des Freiheitsbegriffs, einmal die angelsächsischen, die Freiheit überwiegend und bis heute noch ökonomisch, sozial und kulturell derart segregativ bestimmen, dass damit zu arbeiten und zu denken wenig einträglich ist für eine Vorstellung und Perspektive zu einer neuen Gesellschaft, in der eine positive Freiheit über eine negativ bestimmte verwirklicht werden kann. Wir greifen dazu zurück auf Leibniz, dessen Freiheitsbegriff ganz in unserem Sinne eigebettet ist in eine praktische Vernunft und als Handlungsfreiheit beschrieben wird. Zwar ist der „liberté de droit“, der Träger der Freiheitsrechte nicht mehr nur rein negativ bestimmt, etwa als Abwesenheit von Unterdrückung und Zwang, von Sklaverei und Ausbeutung, vielmehr als vor dem Recht gleicher Bürger; aber einen Ausweg aus Unfreiheit hat Leibniz allenfalls skizziert.

Wir wissen heute, wie wichtig es ist, die soziale und die strukturelle Dimension von Unfreiheit genau zu erkennen und detailliert zu beschreiben, und hierbei hilft auch, wenngleich nicht ausreichend Piketty, auf den wir eingehen werden, besonders, wenn es um moderne Formen der strukturellen Ungleichheit geht. Nicht umhin kommt man, sich in diesem Zusammenhang mit der Charta der Menschenrechte zu beschäftigen, so auch wir nicht. Die Charta der Menschenrechte enthält keine proprietaristischen Vorstellungen und steht, juristisch betrachtet, wohl an der Spitze der zivilen Entwicklung von einem universellen Rechtsstaat, wobei dieser Rechtsstaat auch schon keine nationalstaatlichen Grenzen mehr kennt und somit den Bürger als Weltbürger veranschlagt.
Die Menschenrechte gelten transnational bzw. global und für alle Menschen, was deren Integrität und Schutz vor Willkür, wenngleich dies eher virtuell zu verstehen ist betrifft, und dem menschlichen Dasein eine Perspektive ökonomischer, sozialer, kultureller wie individueller Selbstbestimmung eröffnen. Manche werden sich verwundert die Augen reiben, wenn wir in der Folge unserer Bestimmung der menschlichen Freiheit aus einer praktischen Vernunft heraus auf den Begriff der Anarchie zurückfinden, was mehr sein soll als eine Illustration dessen, was wir mit Freiheit und Selbstorganisation sowie neuen Formen von Veränderung und Perspektiven meinen. Ein kurzer Abstecher in die Welt der Hedgefonds und der Praxis anarchischer Umverteilung von erheblichen Geldvermögen schließen wir mit einem Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit an den US-Finanzmärkten ab; bekannt geworden als die „Wallstreet Bets“.

Dass nicht nur in der Finanzwirtschaft Informationen und Medien von außerordentlich großer Bedeutung sind, weiß man. Heute sprechen wir sogar von Codierungen erster und zweiter Ordnung im Alltag, in der Wissenschaft, im Kulturbetrieb wie in der sozialen, ja sogar in der privaten Umgebung und tun uns immer schwerer, die Sprachen und Ideologien auseinanderzuhalten, mit denen wir unser Verständnis der Welt versuchen. Hinzu kommt, dass heute in einer global vernetzten Kommunikation die erste Codierung, die erste Quelle einer Information kaum noch identifiziert werden kann. Besonders elektronische Medien verbreiten nicht nur Informationen über den gesamten Globus, sie sind bei deren Erzeugung autopoietisch, also selbstaktiv und damit konstitutiv für die mediale Interaktion. Informationsmaschinen sind selbst aktiv, sie verwenden Informationen und Daten eigenständig, verknüpfen sie mit anderen Informationen und Daten von anderen Maschinen oder innerhalb einer Cloud.

Mit kaum nennenswerter KI (Künstlicher Intelligenz) bringen sie es schon zu einem intelligenten Vorschlagswesen, also einer bereits hochgradig individuellen Informationsselektion und zu Hypercodierungen. Suchmaschinen, Datenbanken und Cloud Services sind dabei die Hauptakteure elektronischer Diskurserzeugung, was wir in Anlehnung an die aristotelische Logik ein „Proton Pseudos“, eine erste Lüge oder einen Grundirrtum nennen wollen, wobei es uns darauf ankommt, dass dieses „Erste“ durch keine Logik mehr zur Wahrheit und zur Erkenntnis mehr korrigiert werden kann. Was wir erreichen können ist also nicht, durch Nach- und Bedenken einen Prozess der Wahrheitsfindung einzuleiten, sondern – im Vorgriff auf Späteres – worum es wirklich geht ist, unser objektives Unwissen zu verkleinern. Das beginnt mit einem Abstand, einer Distanz zum Unwissen, die sich z.B. in Formen des Protests ausdrückt, etwa durch: Weg mit Rassismus, Schluss mit Antisemitismus usw. Diese im Raum-stehenden Aussagen des Abstands aber haben noch keine Perspektiven, das „Wohin“ darin hat noch keine Aussage.
Wir folgen daher den verschlungenen Wegen, wie Aussagen ihre Bedeutungen gewinnen und beginnen bei einer grundsätzlichen Betrachtung, bei Mimik und Gestik. Sie sind neben anderen Verhaltungen Spiegelbilder unserer Stimmungen und zugleich Spiegelbilder unserer kognitiven Dissonanzen, was wir mit dem neueren Terminus aus der strukturellen Kommunikationswissenschaft bezeichnen, mit Codierung und Übercodierung . So beginnen wir mit den Überzeichnungen von Befindlichkeiten und emotionalen Stimmungslagen, die stets beteiligt sind am Verstehen und Auslegungsprozessen und im Alltag einen weit größeren Raum belegen, als Prozesse des rationalen Denkens.

Wir werden später sehen, dass diese ersten Auslegungsprozesse von intuitiver Art sind, die schneller, meist spontan und unwillkürlich bzw. vorbewusst ablaufen, wohingegen rationales Denken post festum erfolgt und sehr viel langsamer abläuft und mit erheblich viel mehr an „Aufwand“ verbunden ist. Intuitives Denken ist immanenter Teil des Geschehens und imponiert als „Was-Frage“, als: was passiert hier z.B. Rationales Denken bezeichnen wir mit „Nachdenken“ und „Reflexion“ und imponiert als „Warum Frage“ und setzt nachträglich ein Geschehen in einen Bedeutungs- und Begründungszusammenhang.
Wir gehen kurz auf Leon Festinger ein, dem das Verdienst zukommt, Emotionen nicht wie Charaktereigenschaften betrachtet, sondern ihnen eine Bedeutung innerhalb eines kognitiven Prozesses eingeräumt zu haben. Solche kognitiven Prozesse sind es, die Dissonanzen in der Intersubjektivität und Interaktion entstehen lassen können und keine isolierten Befindlichkeiten oder Stimmungen. Die vielleicht einfachste Dissonanz kennen wir alle als Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, ohne die wohl kein soziales Lernen stattfindet, wohl auch nicht stattfinden würde. Soziales Lernen wiederum findet nicht allein statt innerhalb rein kommunikativer Prozesse, sondern auch und vor allem in alltagspraktischen Zusammenhängen wie etwa dem Beruf, im Umgang mit Medien, im Konsumverhalten usw. und nicht zuletzt über das, was wir im Medienzeitalter an Informationen und Narrativen geboten bekommen.

Wir schwenken zurück auf die politisierten Massenaufläufe auf den Straßen der BRD und der USA, auf die Zeit des Brexits und Pegida und versuchen eine Erklärung, wie nationalistische, antidemokratische, rassistische und ultrarechtsradikale Inhalte übertragen werden bis hin zu einem Phänomen, von dem wir vielleicht glaubten, dass es 1945 mit der Erstürmung des Reichstags untergegangen wäre, dem „Führerprinzip“; mitnichten, ist doch die ideologisch ultimativ geschlossene Formation: Führer, wir folgen dir, längst wieder Realität in weiten Teilen der USA und in Teilen der BRD. Was wir hier besonders betrachten ist, wie die Vereinnahmung von Befreiungsassoziationen durch politische Gruppen, die alles andere als eine Befreiung im Sinn haben, gelingt, weil innerhalb differenzieller Gruppenaktionen keine Erklärungen von Aktivitäten mehr benötigt werden, wenn Dauer, Häufigkeit und Intensität in der Medienpräsenz das Prinzip der Priorisierung einer politischen Assoziation vollenden. Vollendet werden dabei oft als Imitation bezeichnete Prozesse, die aber als imitatio veterum, als Nachahmung der Alten und als Mimese, Fetischisierung und Immunisierung zugleich sich herausstellen und die die Herstellung konformen Denkens und Verhaltens und deren Adhäsionskräfte, also die Kräfte der Bewahrung beschreiben. Dieses Verständnis brauchen wir auch, um aus den assoziativen Kräften auszubrechen und ein Fenster zu einem Raum öffnen zu können, der über die bewahrenden, die konformistischen Elemente hinauszublicken erlaubt.

Wir finden dort und wohin wir auch schauen überall eine Struktur vor, die eine Synthese der Begriffe Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit vorstellt. Ob diese Synthesis an sich besteht oder sich in einem dialektischen Denkprozess herausstellt, ob also ein metaphysisches, sagen wir religiöses System die Begriffe zusammenbringt oder ein irdisches Denken in Begriffen und einer möglichst widerspruchfreien logischen Verwendung wie dies im System des transzendentalen Idealismus von Kant bis Hegel exerziert wurde, wir finden den Weg vom Möglichen zum Notwendigen hin zum Wirklichen in allen Facetten des Denkens seit der griechischen Antike vor.
Was uns verwunderte war, wie eng dieses Denken noch und in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen und Denkern verwoben ist mit der Antike und nicht selten mit Teilen der christlichen Metaphysik. Nun, es waren ja auch Kirchenvertreter wie Luther und Calvin, die ausgerechnet den Begriff der Arbeit in dieses System einer nun Glaubens-Dialektik zu nennenden Systematik eingebunden haben. Die Systematik betraf und das ist von glaubenstheoretischer Bedeutung, das Leben der Menschen von Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Möglichkeit, Notwendigkeit, Wirklichkeit, die Realmodi der Neuzeit, bekamen eine neue Systematik und damit Bedeutung und einen Sinn erst aus der Trennung von Transzendenz und Immanenz, wie sie die christliche Glaubenslehre formuliert hat. So säkularisiert Calvin die menschliche Existenz in eine Arbeitsexistenz und weil Arbeit (Berufsarbeit bei Luther) generell nun der Beiwohnung des Gottesdienstes und einer göttlichen Ordnung gleichgestellt ist und der Christ durch sein Streben nach beruflichem Erfolg einer göttlichen Wahl nachkommt, an dem Ort, an den er beruflich gestellt ist, sein Bestes zu geben hat. Wir können nun leicht einen Bogen schlagen zum angelsächsischen Puritanismus und dessen religiöser Überzeugung, dass der Mensch selbst wie die soziale Gemeinschaft am beruflichen Erfolg ablesen können, ob er von Gott erwählt worden ist, oder nicht, und auch in welcher graduellen Güte Gottes der Mensch bzw. seine Familie stehen. Gut sind die Menschen, die beruflich viel schaffen, besser die, die über Generationen hin Gottes Wohlgefallen verdient haben; so glaubt bis heute ein großer Teil der amerikanischen Nation.

Wir zeigen, dass der Calvinismus Arbeit personalisiert und individualisiert hat, dass es eine Person ist, die hart arbeitet, um sich aus der Armut zu befreien, und es sind alle Armen, die so tun müssen und tun können, jeder Einzelne. Der Proprietarismus des monetären Reichtums ist sogleich als Summe aller Individuen durchgezählt eine Gesamtgesellschaft in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Zur Herausstellung der Gründe für die Entwicklung solcher segregativen Gesellschaftsstrukturen gehört natürlich zugleich auch ein bestimmtes politisches ‚Mitbestimmungsmodel‘, welches als Zensussystem bekannt geworden ist. Wie in der attischen Demokratie war auch das römische Zensussystem von dieser strukturellen Einteilung der Bürger der römischen Republik in Zensus- und damit auch in soziale Klassen. Das bedingte, dass in der wichtigsten Volksversammlung der Römischen Republik, der Comitia Centuria, auch nur Bürger der wohlhabenden Schichten, die Nobilität (u.a.) vertreten waren und mit ihrer Stimmenmehrheit politisch stets der realen Mehrheit der einfachen, der gemeinen Bürger im Volke, den sogenannten Plebs stets überlegen blieben. Der Überlegenheitsgedanke ist also alt und lebt bis heute, gleichwohl in den modernen Gesellschaften die Prinzipien der Meritokratie, des Proprietarismus‘ und des Zensussystem nicht mehr auf die antike Art miteinander verbunden sind.

Hieraus haben sich im Laufe der letzten zweihundert Jahre in enormer Differenzierungs-Geschwindigkeit alle Lebensbereiche der Menschen verändert, was wir zunächst epistemologisch angehen. So kommen Fragen in den Blick, wie wir etwas bewerten, sei es politisch, ethisch oder moralisch, aber vor allem aus der Perspektive eines Grundes, also der „Warum-Frage“. Wir werden zeigen, dass ein Sachverhalt, der aus der Frage nach dem Warum zunehmend an Gewicht gewinnt, dadurch ge-kennzeichnet ist, dass er die Realsphäre von der Wirklichkeit und Notwendigkeit hin zu einer Möglichkeit verschiebt, hier bestimmt als eine neue Möglichkeit der Sicht auf einen Sachverhalt.
Und diese neue Sichtweise ist eine, die sich so weit wie möglich von einer metaphysischen Sichtweise entfernen will, was zu einem neuen Verständnis von Kultur und Wissenschaft führt. Am Beispiel der Covid-19-Pandemie zeigen wir, dass Fachwissenschaften wie die Virologie, die Medizin etc. allesamt als getrennte diskursive Systeme neben anderen wie etwa die Politik, die Wirtschaft, die Medien etc. existieren und welchen Einfluss diese schwer wieder zusammenzubringenden, zu synthetisierenden Systeme auf die Lebensführung und auf die modernen Gesellschaften haben.

Kommen wir sodann auf einen wichtigen Unterschied: Während die fachwissenschaftlichen Diskurse alle ihre Aussagen referenzieren auf ein System methodisch strukturierter Aussageformen und einen Konsens herstellen durch Rede und Gegenrede oder in Form wissenschaftlicher Abhandlungen bzw. öffentlicher Diskussion, fehlen diese Formen im alltäglichen Diskurs weitgehend. Der Alltagsdiskurs funktioniert ohne jede Metaebene, die vorab eine Form des Konsenses garantiert. Verbindlichkeit, Vertrauen in das Ausgesagte, Verlässlichkeit und anderen konsensuale Verständnisformen sind also im Alltagsdiskurs weder gegeben wie in der Wissenschaft der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis, noch sind sie leicht zu bekommen, nicht einmal leicht unter zwei Personen. Intersubjektivität im Sinne einer alltäglichen Übereinstimmung von Wahrnehmungen, Meinungen und Urteilen ist ein Desiderat ohne Referenz und bleibt damit als ein fortwährender Prozess der Auseinandersetzung mit Aussagen im Diskurs erhalten. Dem Alltagsdiskurs bleiben nur Fragen, Fragen nach Meinungen und Intentionen, nach einem möglichweise vorhandenen Hintergrundwissen resp. nach Informationen, nach Gesprächskonventionen, wie man sie vor allem im Berufsalltag kennt, fragen nach Definitionen und Referenzierungen usw. und jeder weiß wie schwierig es ist, eine Bedeutung im Gespräch zu erschließen und Verstehen zwischen zwei und mehr Personen herzustellen.

Was also in-Frage-steht sind Meinungen, Intentionen, sind Bedeutungen und der Sinn des Gesprochenen, nicht selten dessen Relevanz; nach alledem fragen wir auch und erkennen, dass Bedeutung bestimmt ist von einem Zeitfaktor, also nicht plötzlich erscheint, und dass über einen eher langen Zeitraum die Bedeutung einer Aussage ihr quasi von außen zugeschrieben wird durch eine diskursive Auseinandersetzung, durch einen öffentlichen Diskurs. Deshalb ist auch jede Rede von einer Bedeutung innerhalb eines privaten Diskurses fehl am Platze. Und wir nehmen noch eine andere Erkenntnis mit, dass nämlich selbst was ein Richter sagt, keine Bedeutung hat, wenn es nicht als geschriebenes Urteil überreicht oder per Post nachweislich übermittelt worden ist. Es ist völlig egal, was wer irgendwann oder irgendwo aussagt, ohne schriftliche Aufzeichnung und eine offizielle Auszeichnung ist alles Gerede. Deshalb beschäftigen wir uns gleichsam notgedrungen mit dem Phänomen, dass der schriftlichen Aufzeichnung so wenig Bedeutung zugeschrieben worden ist, vor allem in der Philosophie, gleichwohl doch die Philosophie selbst sich mit Schriften beschäftigt.

Unter dieser Randnotiz der Schrift steht gewissermaßen eine Zeile darauf eine andere, die uns weiter beschäftigt und mit in das geistige Arsenal der Urteilskraft aufgenommen werden muss: Niemand im antiken Athen oder Rom wäre auf die Idee gekommen, beim Anblick eines Tempels von wahr oder falsch, sondern allein von der Göttin oder dem Gott „würdig“ zu sprechen, was darauf hinweist, dass Urteile wie etwa „würdig“ Vernunfturteile sind und Urteile wie wahr und falsch logische Urteile und man beide Former des Urteilens unterscheiden sollte, ja muss. Und dies hat dann sogleich wieder einiges an Bedeutung. Bevor wir uns mit der „Urteilskraft“ dann eigens beschäftigen, bearbeiten wir vertiefend noch deren Umfeld. Dort unterscheiden wir zunächst zwischen gesprochener Rede und schriftlichen Dokumenten, die vor allem in der praktischen Vernunft eine ganz wesentliche Rolle spielen. Kaum etwas in der praktischen Vernunft ist von Relevanz ohne Dokumente, sei es ein Vertrag, ein „letter of agreement“ usw. Kaum etwas trägt hier eine Orientierung an neuen Perspektiven, verlöre die praktische Vernunft ihre Aufzeichnungsebene.
In den Wissenschaften ginge nichts, ohne diese. Auch wissenschaftliche Diskurse laufen ständig Gefahr, wie Gerede zu enden, werden sie in sprachlichen Auseinandersetzungen geführt. Eine öffentlich geführte Rede hat in der Hinwendung zum Publikum mit ähnlichen Prozessen zu rechnen wie eine öffentliche Auseinandersetzung in den neuen Medien. Wir werden zeigen, dass die Ausrichtung an den kleinsten Nenner oder anders gesagt, die Erfüllung von Erwartungen auf einem niedrigen bzw. durchschnittlichen Niveau nicht nur den Diskurs spaltet in Relevanz und Irrelevanz, sondern dass der überwiegende Teil der klassischen Reichweitenmedien und der gesamte Teil der neuen Medien mit großem Erfolg an der organisierten Agnostik und an neuen Formen der Häresie arbeiten; und das hat weitreichende Konsequenzen. Und wir bemühen dazu noch einmal die Frage über die Möglichkeiten und Grenzen von Meinungs- und Redefreiheit und deren Funktion innerhalb demokratischer Systeme wie wir sie aus den USA und Europa kennen.

Im weitesten Sinne nähern wir uns Urteils- und Entscheidungsprozessen an über eine Betrachtung, was in den letzten Jahrzehnten mit Verantwortung und Entscheidung in der Ökonomie passiert ist. Wir fragen: Was sind eigentlich die Triebkräfte, die Top-Manager dazu treiben, ihrer Verantwortung rigoros auszuweichen? Wir erkennen eine Verschiebung, wenn immer es möglich ist, die Verantwortungsebene von den Entscheidungsträgern abzutrennen und in die Organisation hinein zu verlagern, dorthin, wo operative Teams in der Form des neuen, des agilen Managements unter Verantwortungsstress arbeiten, ohne an der Entscheidungsfindung direkt und ausreichend beteiligt zu sein.
Und wir erkennen, dass Verantwortung auszuweichen zugleich den größeren Raum der Gestaltungsmöglichkeiten für Entscheider eröffnet, dort zu entscheiden, wo mit jedem Grad an Wichtigkeit und Reichweite einer Entscheidung Gestaltung möglich wird, politische, wirtschaftliche, kulturelle und private Gestaltung. Und das hat bisweilen sogar libidinösen Charakter, gleichsam eine fast süchtig machende Entscheidungs- und Gestaltungslust, der manche Top-Entscheider geradezu verfallen sind. Dabei leitet uns auch die Frage, was den Willen zur Gestaltung antreibt bzw. woraus sich dieser Wille entwickelt, denn vom Himmel fällt er weder noch erwirbt man ihn en passant im Laufe des Berufslebens. In unserer Betrachtung dieses Beispiels werden wir entdecken, dass es nicht einfach das Denken ist, welches als die stärkste Antriebskraft im Dasein des Menschen begriffen werden muss, weil Denken komplex ist und verschiedene Formen beinhaltet, die weit über rationales Denken hinausgehen und nicht wie Phasen in einer Entwicklung abgelöst werden. Wir können die Dialektik der Aufhebung vorheriger in höheren Phasen des Denkens erschüttern und zeigen, dass verschiedene Formen des Denkens ein Leben lang komplementär, also nebeneinander bestehen bleiben. Der Drang nach Wissen entspringt wie auch sonst kein Antrieb aus einem A-Privativum, ob aus einem Mangel, einer Angst oder einer Sorge, wie dies die Philosophie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts bestimmt hat.

Wir bestimmen dagegen den Drang zu verstehen und zu wissen im Rekurs auf die Neugier, zumal nur hier auch die Motivationen und Emotionen im Drang nach Wissen und in der Wissbegierde deutlich hervortreten. Wir nehmen zur Neugier noch das Spiel hinzu, aber in einer Bestimmung, die das Spiel nicht nur als zweckfrei bestimmt, denn das Spiel kennt auch den Nutzen in den Informations- und Lernspielen, kennt Regeln und Sanktionen. Im Spiel lassen sich Menschen auf die Gegebenheiten und Möglichkeiten ein, die ihnen die Welt als Aufgabe stellt und so ist kein Plan, keine Geschäftsplan, Bauplan, Projektplan usw. ohne spielerisches Element.
Wir fragen uns: Aber wer vermutet Ähnliches in der Arbeit von Vorständen? Wir versuchen eine Antwort in der Betrachtung der Tätigkeiten von Entscheidern und vergleichen deren Denken, Motivation und Kontext mit anderen Entscheidungsträgern in Unternehmen, mit der heute sogenannten Projekt-Ebene im Unterschied zur Ebene der strategischen Unternehmensentscheidungen. Und wir werden auch hier entdecken, welchen hohen Bedeutungsgrad gerade bei strategischen Entscheidungen die Elemente des Spiels und der Neugier besitzen, sie heißen hier natürlich anders.
Ohne eine gründliche Reflexion auf das, was eine Identität ausmacht, kommen auch wir nicht aus und nicht in die Nähe unseres Ziels, die Begriffe Veränderung und Perspektive umfassend zu bestimmen und vor allem, bei diesem Bestimmungsversuch die Elemente freizulegen, die in jeder Bestimmung von Identität maßgeblich beteiligt sind. Diese Elemente sind allesamt Denkformationen, auch Ideologien zu nennen, wenn es um starre, sich nicht verändernde Formen der Identitätsbestimmung geht. Identität ist also keine rein individuelle Angelegenheit und das hat Einiges an Auswirkungen für jeden Einzelnen wie auch für unser Denken und Handeln. Da es, wie wir mehrfach nachgewiesen haben, nichts gibt, was sich nicht verändert im Laufe der Zeit, können starre Identitäten daran erkannt werden, dass Beharrungskräfte wirken, was ja Ideologien sind, seien diese politischer oder im weitesten Sinne kultureller Art. Solche sind z.B. der Rassismus, auch, wenn er als ein struktureller Rassismus ohne Rassen imponiert. Natürlich gehören konfessionelle Ideologien hierher wie einige andere mehr wie z.B. soziale bis hin zu wissenschaftlichen Ideologien, deren Erscheinungsformen wir versuchen aufzudecken und deren Spuren in der Geschichte wir folgen. Und nicht zuletzt auch der Existenzialismus, der doch gerade dafür stehen sollte, eine Denkformation ohne Ideologien zu sein.

Damit wagen wir uns in ein Feld vor, welches selbst als ein hochgradig ideologisiertes Feld beschrieben werden muss, das der Freiheit, die auf Identität, auf personale wie auf nationale Identität basiert. Wir bleiben noch ein wenig beim Existenzialismus und zeigen auf, dass Grundbestimmungen der Existenz nicht ohne die Erfahrung und die Auseinandersetzung mit zwei Weltkriegen in Deutschland und in Europa sich so gefügt hätten. Existenzialphilosophie fokussierte auf die Themen Angst, Mangel, Tod, Verantwortung im Geiste wie im Handeln, die als die elementaren Erfahrungen des menschlichen Daseins das neue Gedankengebäude einer Theorie des Einzelnen, des menschlichen Daseins tragen sollten. Freiheit, einst elementare Bedingung des aufgeklärten Menschseins, wurde natürlich in den Nachkriegsjahren zuerst zu einem politischen Desiderat, was zählte, war die unmittelbare Erfahrung, die das Dasein trug. Die „Facta bruta“, bei Leibniz noch das Prinzip des Widerspruchs und das Prinzip des zureichenden Grundes reichten nicht mehr an das heran, was zwei Weltkriege an Erfahrungen vermittelten, Erfahrungen, die scheinbar bedingungslos grausam und widersprüchlich, grundlos und für nichts gut die Menschen miteinander konfrontierten, sowohl, was deren Interaktion wie deren Intersubjektivität im Modus des Krieges offenbarten.

Natürlich ist es ein weiter Bogen über wenige Jahrzehnte der Nachkriegszeit hinweg zwischen 1945 und Mai 1968 zu spannen, aber ohne diesen Bogen wären die neuen Bestimmungen von Freiheit und Individualität kaum sichtbar zu machen. 68 sah man sie buchstäblich auf allen Straßen, die existenzial-ontologischen Bedingungen der Möglichkeit des Freiseins, die ohne BH und im Minirock, mit neuem Beat und experimenteller Musik, mit einem schier endlosen Happening in den bildenden Künsten auf Bühnen und Leinwänden und neuen privaten Lebensformen wie etwa Kommunen und mit wechselnden Identitäten einhergingen; rein äußerlich betrachtet. Mit einher ging eine neue Philosophie der Praxis, am Beispiel von Lefebvre vorgestellt, die in Anlehnung an Hegel und die Zeit den Moment der „totalen Philosophie“, der Wahrheit und des absoluten Wissens postulierte; voilà, c’est si bon.
Die neue Philosophie der Praxis legte in Anlehnung an ihre Zeit eine neue Sichtweise in die Philosophie, die den Menschen ins Zentrum des Denkens stellte, vor jede Ideologie, vor jeder rein theoretischen und vor jeder rein wissenschaftlichen Betrachtung; so jedenfalls war ihre Absicht. Der Mensch lebt in Zusammenhängen von Intersubjektivität, also nicht nur allein und auf sich selbst bezogen, und in interaktiven Zusammenhängen, die das, was ist, verändern wollen. Veränderungswille ist damit noch keineswegs dogmatisch zu verstehen, also als eine Form der Negation oder eines irren Willens zu Macht, niemand wollte damals seinen Eltern ein Leben in einer Kommune mit wechselnden Sexualpartnerschaften aufzuzwingen, sondern neue Lebensformen einfach für sich ausprobieren. Negativität gegenüber bestehenden Lebensformen, sagen wir nun Seinsentwürfe, sind selbst wiederum Seinsentwürfe, aber andere als bestehende, veränderte, vielleicht neue. In-der-Welt-sein ist also die Basis, ist das, was wir sind und verstehen und wenn das so ist, dann ist auch die Philosophie in der Lage, die Probleme, wie sie z.B. in der sozialen Praxis gegeben sind, zu verstehen, vielleicht auch zu lösen; und wenn nicht die Philosophie, wer sonst?

Die neuen Facta bruta der Empirischen Sozialwissenschaften erhielten einen ungeahnten Aufschwung, eine neue Dynamik in der Wissenschaft, in der technisch-technologischen Entwicklung, aber auch in den Entwicklungen politischer Systeme. Es war von Vorteil für viele, das Europa zu wirtschaftlicher und dann zu politischer Zusammenarbeit fand, was sollte dagegensprechen? Galt bislang das „Ich denke, also bin ich, so kehrte es sich nun um in ein „Ich bin, also denke ich“ mit der Einschränkung: „…wenn es unbedingt nötig und zu meinem Nutzen ist.“ War der Existenzialismus noch eine Betrachtungsweise, in der Existenziales wie Dasein, Geburt, Tod, Endlichkeit, Uneigentlichkeit, Verfallensein bis hin zu Schuld und Gewissen im Vordergrund standen, so entzerrte sich dies in die Serialität von existenziellen Einzelphänomen mit den Phänomenen von Arbeit und Kapital an deren Spitze. Zu sehr hat der Existenzialismus an einer bestimmten Betrachtungsweise laboriert, „die es ablehnt, dem Menschen eine für immer festgelegte Natur zuzuschreiben“, aber das war eine Scheinbefreiung, denn auch eine existenzialistische Betrachtungsweise kann die Strukturzusammenhänge nicht freilegen, die das Leben in einer modernen Gesellschaft weitgehend bestimmen. So ist die Radikalisierung der existenziellen zu einer existenzialen Sichtweise zwar gelungen, aber für das Verständnis der Daseinsentwürfe sind beide kaum brauchbar. Und letztlich hat sich dann doch die existenzielle Sichtweise durchgesetzt, oder?
Wirtschaft lehrt die Facta bruta, so war und ist die Kernlehre dieses Denkens, welches sich hauptsächlich der Naturwissenschaften in weiten Teilen bediente, besonders der empirischen Sozialforschung mit ihren statischen Hochrechnungsmodellen, den Kausal- und Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Wir folgen dem ein Stück des Wegs und sehen in einer spezifischen Raum-Zeit-Betrachtung die Ressourcentheorie euphorisch aufsteigen und entdecken einige wichtige Substanzen wie z.B. Dampf, Plastik, Papier, Holz, Öl und Metalle, passager auf Seltene Erden, die vor allem für die mobile Kommunikation gebraucht werden, was aber auch eine arge Verkürzung noch im semantischen Realismus der Wissenschaften markiert. Wie die „Substanzen“ so dematerialisiert sich auch der semantische Realismus aus demselben Grund, dass nämlich Raum und Zeit als substanzielle Bedingungen unserer Wirklichkeit sich als wenig brauchbar erwiesen haben wie auch die Substanzialität bzw. Materialität der Dinge, des Seienden um uns herum ein flüchtiger Faktor zu sein scheint, so flüchtig, dass mit jeder Dematerialisierung auch die Raum-Zeit-Koordinaten des Seienden sich verflüchtigen, aus den Erinnerungen verschwinden, vergessen werden, und auch den Wahrnehmungen nicht mehr zugänglich sind. Und die Phänomenologie der Dinge zeigt uns nicht nur die Geschwindigkeit ihrer Dematerialisierung – heute ungenügend mit Digitalisierung bezeichnet – sondern auch, dass aus unserem linear strukturierten Denken in Raum und Zeit längst ein serielles Denken in Raum-und-Zeit-Verschränkungen geworden ist, wobei wir bereits im Band V. ausführlich nahegelegt haben, in fraktalen Modellen zu denken; an dieser Stelle sei angemerkt, dass fraktale Denkmodelle keine Brüche mit Kausalmodellen bezeichnen, weil sie aus dem inneren Kern von seriellen Modellen entstehen, also wenn schon, dann Brüche mit diesen seriellen Modellen markieren.

Das Dilemma mit der Identität ist auch das mit dem Wahrheitsbegriff antiker, griechischer Herkunft, dass nämlich etwas in eine Beziehung als übereinstimmend gesetzt wird, was einer ganzen Reihe von Veränderungen unterliegen kann und so auch die Grundlagen von Identität und Wahrheit verändert. Wir studieren dies ein wenig entlastend vom schweren Gedanken an Phänomen der personalen, kulturellen und nationalen Identität am Beispiel von Sarden aber auch am Beispiel eines sogenannten Seevolkes, den Vezos. Wir werden sehen, dass die Anerkennung der Zugehörigkeit zur sardischen Kultur nicht einfach eine beliebige Form der Zustimmung, sondern eine Auszeichnung bestimmter Merkmale der Zugehörigkeit ist, die den Begründungszusammenhang herstellen, warum jemand als Sarde gilt und warum nicht und der dann in Form eines gesellschaftlichen Urteils: du bist ein Sarde bestätigt wird. Nun haben wir in anderen Kontexten gesehen, wie löchrig alle Merkmale und deren Zusammenhänge im Lauf der Zeit oder in der Vita eines Menschen werden können, trotzdem bleiben das Urteil bzw. die Urteilsfindung, was etwas im Sinne der Beständigkeit, also der Identität ist, stoisch an dieses Begründungs- und Legitimationsverfahren gebunden; mit weiteren nachhaltigen Konsequenzen.

Wahrnehmungen, Wahrheiten und Identitäten sind Bestandteile von Konzeptionen, mit denen wir die Wirklichkeit auszeichnen. Solche Auszeichnungssysteme aber beginnen gleichsam bescheidener mit Intuitionen, Vor-Wissen, Vorerwartungen und Vorurteilen, mit Klischees und Muster von Ähnlichkeiten. In die sind unsere Wahrnehmung wie Wäsche in die frische Luft hineingehängt, sie unterwandern unsere Sinne und belüften sie mit dem Äther der Geschichte, aus dem sie heraustreten müssen, irgendwann in irgendeiner Weise. Diese Weise, die das uralte Problem der Methexis berührt, beginnt damit, dass wir Menschen ontologisch nicht unterscheiden können, was an unseren Wahrnehmungen ist tatsächlich von uns und was von den „Alten“, was ist tradiert.
Im sprichwörtlich doppelten Sinne der Frage: Was haben wir von den Alten? versuchen wir den Kern freizulegen, einmal festzustellen, was tradiert und übernommen wurde und welchen Sinn solche Traditionen haben? Wir werden zeigen, dass es eben nicht das Problem der Methexis ist, Reales von Idealem zu unterscheiden, sondern deren sehr unterschiedlichen Beziehungen zueinander nachzuspüren. Wir sagen nachspüren um zu verdeutlichen, dass die Beziehungen reflektorischer Art sind, also in uns selbst entdeckt und nachgedacht werden wollen. Wir bebeispielen dies und haben in allen diesen Formen der Methexis, seien dies immersive Realitäten wie etwa die Welt der Augmented Reality (AR), die Welt der Kunst, der Medien o.a. eben diese spezifischen Formen der „Übereinstimmung“ im Blick, aus deren Unterschiedlichkeit wir unterschiedliche Formen der Repräsentation der Wirklichkeit herauslesen.

Wir sprechen von Ähnlichkeitsbeziehungen und von hochgerechneten Wahrscheinlichkeiten, die uns eine beständige, eine stabile Weltwahrnehmung zu erzeugen in der Lage sind und bemühen dazu das alte Motiv der „Kette des Homers“, die Aurea catena homeri, die vielleicht das sinnfälligste Bild ist der verketteten Welt der Ähnlichkeiten, der „convenientia“ zwischen allem, was zum Reich der Götter gehört und zusammenhängt mit allem Irdischen. Sie mag das Urbild der Verkettung sein, aber sie ist als diese Form der Repräsentation zugleich auch eine Art Befreiung aus scheinbar stabilen Bindungen des Menschen. Mit der Aurea catena homeri ist zugleich auch eine andere Form der Repräsentation erfunden worden, deren Prinzip der Schein ist, das ist das Prinzip der „aemulatio“. Das Prinzip der Aemulatio, der Nacheiferung, basiert auf zwei geistigen Kräften, einmal der wetteifernden Nachahmung und das Überbieten, wobei letztere historisch sich am Vorbild der Natur und der Götter, später dann sich am Vorbild in der Literatur und der bildenden Kunst orientierte. Anders ausgedrückt, steht die Aemulatio nicht in direkter, gleich ursprünglicher Beziehung wie die Convenentia, die aurea catena, sondern steht mit ihr im (künstlerischen) Wetteifer oder, ökonomisch gesprochen, im Wettbewerb. Denn die Emulation will nicht sein wie und steht daher auch nach antiker Auffassung nicht im Gegensatz zum Original, zur Eigentlichkeit. Aemulatio steht in wetteifernder Nachbildung, die nach weiteren Möglichkeiten sucht, die bislang nicht in den Ähnlichkeitskonzeptionen enthalten sind. Das ist der Kern des Wettbewerbs, nicht nur Nachahmung, sondern eine Verbesserung anzustreben, eine Sicht auf mehr als die vorhandenen Möglichkeiten freizulegen.

Mit der Emulatio ist der Geist aus der Flasche, der Geist, der wetteifert und dies in massenhafter Vermehrung von Ähnlichkeiten, der Serialität oder seriellen Produktion, der Vervielfältigung, dem Wettbewerb und der Überbietung im Kern; das ist der Industriestandard nicht nur der Produktion, sondern auch der Industriestandard modernen Denkens und dessen Seinsart ist die Proportion. Es reicht heute nicht mehr, bevor man ans Werk geht, die Welt auf eine je eigene Art und Weise nachzuahmen, man soll sich auch auskennen darin, man muss Wissen erworben haben und Wissen zu den Talenten hinzufügen. Das wird erwartet und nicht nur von Künstlern, die daselbst in der übergroßen Menge heute viele Aufgaben mehr selbst übernehmen müssen, die einst von Galeristen ihnen abgenommen worden sind. Die Aufgaben steigen somit mit den Erwartungen und Anforderungen, die Arbeitsteilung, einst eine äußerliche Angelegenheit der Differenzierung von Tätigkeiten und deren Aufteilung unter die Menschen, wird zunehmend eine Angelegenheit des einzelnen Menschen selbst, ganze neue Berufsfelder sind entstanden und Multitasking ein Ausdruck darin.
Wir entdecken Schopenhauer neu, was nicht heißt, unkritisch. Was Schopenhauer vom modernen Denken einfordert ist, Vorstellungen, Begriffe und Urteile nicht länger mehr thematisch voneinander so zu unterscheiden, dass Vorstellungen, Begriffe und Urteile gesonderte Teilbereiche des Denkens ausmachen, nun gehören sie zusammen wie Multitasking, also die Erledigung von verschieden Aufgaben in einem Arbeitsprozess. So bestimmt Schopenhauer auch konsequenterweise den „Satz vom Grund“ neu und entwickelt seine Reflexion zu einem Modell, welches große Ähnlichkeit besitzt mit den späteren Erkenntnissen der Neurophysiologie und deren Aufteilung des Gehirns in verschiedene Areale, in denen verschiedene kognitive Prozesse in einer Art arbeitsteiliger Parallelverarbeitung stattfinden. Wir fragen: Und wo ist der Unterschied im Kern des Schopenhauerschen Modells im Vergleich zur Konfiguration moderner Rechnersysteme, bestehend aus emulierten Betriebssystemen und daran per Schnittstellen locker verbundenen, verschiedenen Anwenderprogrammen, den Apps? Wir erinnern an Schopenhauers Wiederentdeckung des Begriffs der Dianoiologie, die aus der Wahrnehmung, aus Beobachten und Urteilen besteht, später sich im wissenschaftlichen Diskurs aus Wahrnehmung, Beobachtung und Experiment bzw. Hypothesenbildung differenzierte. Wenn Wissenschaft also nichts anderes ist, als die nach Regeln systematische Kombination wissenschaftsförmig geordneter Fragen, Schlüsse und Urteile, dann befinden wir uns auf dem Feld der Dianoiologie in einer Form der vor-wissenschaftlichen Urteilsfindung. Hier werden also nicht einfach nur spontan und willkürlich Wahrnehmungen und Beobachtungen geordnet, sondern als wahrheitsfähige Repräsentationen des Wirklichen vorgestellt, gleichsam wie Platon die Dianoia bestimmte als eine Art Zwischenstatus zwischen bloßer individueller Meinung und wahrer Vernunfteinsicht.

Und wie findet der Mensch heraus aus diesem Zwischenstatus? Es ist nach Schopenhauer der Wille, der zwischen Vorstellung und Wirklichkeit vermittelt. Diese Vermittlung aber ist keine, wie wir sie seit der Philosophie der Renaissance kennen, also keine zwischen einem Denken und einer Wirklichkeit: Ich denke, also bin ich. Dass wir Schopenhauer so viel Aufmerksamkeit wieder widmen hat einen Grund, und der liegt in der Tatsache, dass die Philosophie sich mehr mit den Bestimmungen des Denkens beschäftigt hat als mit den Bestimmungen, die das Denken in die Wirklichkeit zur Umsetzung bringt, in die vielen Facetten des praktischen Umgangs des Menschen mit seiner Wirklichkeit also. So wenig sich die transzendentale Philosophie mit dem Willen beschäftigen musste, so sehr muss eine Philosophie der Praxis dies tun. Ohne Willen ist menschliche Praxis weder möglich noch denkbar. Zum Willen aber gehören Entscheidungen und Verantwortung, ohne die der Weg zu einer Philosophie der Praxis versperrt bleibt, weil Interaktion trüb und Intersubjektivität folgenlos und leer bleiben ohne Rückkopplung aus den praktischen Beziehungen und Anforderungen, die der Mensch eingeht.

Wir streifen im Feld des Willens natürlich den Dialog, also den Austausch von Gedanken, Einstellungen, Meinungen, Überzeugungen und Erkenntnissen mit anderen Menschen und über Medien und bestimmen die Grenzen dieses Austauschs als leere Rede einmal und als diskursive Vereinnahmung andererseits, wobei der Wille bei beiden Extremen stets noch als treibende Kraft sichtbar wird. Und ebenso sichtbar wird auch, worum es bei der leeren Rede und bei der Vereinnahmung geht, eine Vereinnahmung zielt nicht auf den im Willen enthaltenen Erkenntnisgrund, da bleibt es meist bei der Bekundung größten Verständnisses für das Anliegen, sondern die Vereinnahmung zielt direkt auf den Willen selbst. Der Wille soll sozusagen kaltgestellt werden. Es geht darum, den Erkenntnisgrund von seinen Handlungsoptionen abzuschneiden, jede Handlung und auch jede Anschlussaktion abzustellen. Die leere Rede, bei der beide Seiten Gedanken, Einstellungen, Meinungen, Überzeugungen etc. einfach nur austauschen und in der ein nicht erkennbarer Willensakt auf einer oder beiden Seiten beteiligt zu sein scheint, bleibt leer, weil ohne Folgen, ohne Anschlusshandlungen; weite Teile des medialen Diskurses folgen diesem Muster heute: sehr schnell, sehr viel reden.

Hierbei haben wir unmerklich bereits ein weiteres Begriffspaar gestreift, die Thematik von Willen und Relevanz. Motivation allein genügt nicht, um relevante Prozesse anzustoßen. In der Kommunikation, in der Politik, in den Medien, vor allem in der Wissenschaft wird nach der neuen Generalthese der Reziprozität gehandelt, wobei man jedem Teilnehmer oder Teilhaber an kommunikativen Prozessen die gleiche Relevanz grundsätzlich einräumt. Nur haben sich zwischenzeitlich die Verhältnisse, in denen relevante Willensbekundungen und gerichtete Handlungen erscheinen, fundamental verändert. Es ist eine Alltagserfahrung, dass jemand, der z.B. im beruflichen Kontext in seiner Abteilung über hohes Ansehen und hohe Relevanz in seinen Entscheidungen und Handlungen verfügt, in der benachbarten Abteilung allenfalls noch höflichen Respekt erhält, aber keinerlei Relevanz mehr dort hat. Wir sprechen seither deshalb nurmehr von funktionalen bzw. von Teilrelevanzen und haben dabei die Systemtheorie von Luhman entweder im Hinterkopf oder gehen direkt auf sie ein, bis wir zur letzten, entscheidenden Relation kommen, der zwischen Willen, Wahrheit und Verantwortung.

Zum Willen gehören viele Aspekte, ein wichtiger dabei ist eine Form der Negation, die des Nicht-Hinnehmens im Wissen-Wollen. Genau genommen ist dies bereits eine doppelte Negation, wenn das Wissen-wollen nicht einfach nur affirmativ ist, ohne zu hinterfragen, ob denn das, was man wissen will, nicht auch etwas ist, was man nicht hinnehmen will oder kann. Diese doppelte Negation ergibt nun nicht nach Maßgabe der Dialektik ein Positives, es bleibt negativ und drängt sich dem Fragenden so auf, dass er selbst dem Grunde nachgehen muss. Wir haben 2021 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erleben dürfen, das politische Entscheidungen in eine neue Zeitdimension von politischer Verantwortung gestellt hat . Politik verantwortet nun auch in ihrer Klimapolitik weit mehr, als das, was sie in ihrer Legislaturperiode an politischen Entscheidungen trifft. Und dies nicht nur generell, sondern auch speziell, insofern die Freiheit, die finanzielle Selbstbestimmung und die Gesundheit jedes Einzelnen zukünftiger Generationen von politischen Entscheidungen mit Langzeitfolgen betroffen sind.

Wir können quasi ablesen, wie ein Denkmuster ein anderes abzulösen beginnt. Wenn Freiheit nicht mehr als persönliche Freiheit in Anschlag gebracht wird, dann verändert dies nicht nur den Begriff der Freiheit, sondern auch alle damit verknüpften politischen Implikationen wie Verantwortung und Relevanz; leider noch nicht ausreichend auch die Haftung. Es ist dann eine neue Denknotwendigkeit, dass, wenn Freiheit grundsätzlich als eine soziale Freiheit begriffen werden muss, alle möglichen Formen, auch die der individuellen Freiheiten, nicht als Freiheiten von einer Gesellschaft, sondern als Freiheiten in einer Gesellschaft zu verstehen sind. So haben wir bereits auch kooperatives Handeln und ökonomische Tauschvorgänge als Freiheit nicht nur in einem nationalen, sondern auch transnationalen Sinne verstanden als eben eine grenzüberschreitende Interaktion, die ihre Freiheit darin findet, dass Kooperation als Kooperation gelingen kann. Und dies gelingt natürlich nur in der Reziprozität verbindlicher Regeln, die die Freiheit des anderen anerkennen wie dies vom anderen für die eigenen Freiheitsrechte erwartet werden darf. Hier die Wettbewerbsrechte, dort die privaten Freiheitsrechte sind also im Sinne Hegels Anerkennungsrechte, wechselseitige Anerkennung von z.B. ökonomischen bzw. politischen Bindungen, Vereinbarungen und multilateralen Regeln. Das heißt etwas für die neue Semantik der Freiheit, dass hegemoniale, nationale und persönliche, sprich individuelle Auslegungen von Freiheit nichts anderes mehr bewirken, als die globale und die universelle Semantik der Freiheit in Kooperationen, in Interaktion und Intersubjektivität auf nationale Eigeninteressen und einen strukturellen, affirmativen Eigennutz hin zusammenstutzen.

So gehört auch der Begriff der Solidarität in dieses Muster, der, wie wir mehrfach an verschiedenen Stellen bereits ausführt haben, nicht als ein isolierter Begriff allein betrachtet werden darf. Lange Zeit beschäftigten sich verschiedene Wissenschaften mit dem Begriff der Klassensolidarität, worunter eine bestimmte Form der Solidarität mit und unter den Werktätigen, heute den Lohnbeschäftigten verstanden wurde. Solidarität wurde zum Ausgangspunkt einer Form der Annäherung an besser bezahlte Werktätige und diese Annäherung wurde verstanden als Lohn- bzw. Angleichung der Vergütung durch Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands. Das als ein Muster des Denkens betrachtet offenbart recht schnell, dass die Angleichung von Arm und Reich eine Form des materiellen Ausgleichs vorstellt, die nichts anderes ist als ein Nullsummenspiel, welches nicht nur Defizite im nationalen, also volkswirtschaftlichen Rahmen, sondern auch im globalen Wirtschaftsgeschehen ausweist. Der „dumme“ Kern von Nullsummenspielen ist zu glauben, dass eine gerechte Verteilung eines Ergebnisses, also des gesellschaftlichen Wohlstands, auch die begünstigt, die vorher weniger hatten und bei dem die Besserstellung der Armen bzw. prekären Schichten der Gesellschaft zu Lasten der Reichen bzw. Besserverdienenden allein geht. Das aber macht den Kuchen nicht größer und den Bäckerlehrling nicht zu jemanden, der nicht am Ergebnis, sondern bei der Wertschöpfung beteiligt ist. Wir werden also die verschiedenen Denkmuster wie die Umverteilung analysieren und der Vorstellung einer Umverteilung, also einer distributiven Vorstellung eine inklusive entgegenhalten. So alt und hartnäckig der (Um-) Verteilungsgedanke sich in der politischen wie der ökonomischen Diskussion hält, so kindisch ist er und hat wenig an intellektuellem Potenzial und auch historisch nichts anderes als diese traurige Tatsache beweisen können.

Natürlich kommen wir auf Verantwortung zu sprechen. Verantwortung wird abgeleitet aus einem individuellen Rechtsgeschehen, das beginnt mit einem Erkenntnisgrund und einer institutionellen wie auch privaten Beurteilung der willentlichen wie der stellvertretenden Folgen einer Handlung zum Schaden einer anderen Person, Institution oder Körperschaft, so bestimmen wir den Begriff. Persönlich oder stellvertretend trägt also eine Person oder eine Körperschaft die Verpflichtung, für etwas Geschehenes einzustehen und ggf. entstandenen Schaden zu begleichen; das sind dann Fälle eines Aktionsergebnisses, das zu unterscheiden ist von einem Interaktionsergebnis. Letztere sind keine Folgen, die auf individuelle Handlungen und auch auf keinen handlungsführenden Erkenntnisgrund zurückgeführt werden können. Wir werden zeigen, dass es nicht ausreicht und ganz besonders nicht für eine digitale Zukunft, in der weltweit kommuniziert, interagiert, entschieden und gehandelt wird, auf der Basis komplexer Interaktion und kulturell recht verschiedener, intersubjektiver Handlungsmotivationen, Verantwortung wie bisher traditionell aus der begrifflichen Semantik von Individuum und Gesellschaft zu bestimmen. Was nottut ist eine Neubestimmung systemischer Formen der Betrachtung intersubjektiver und interaktiver Handlungsoptionen, wozu wir einen älteren Terminus aus der Systemtheorie neu bemühen, den der Governance. Er bezeichnete allgemein das Steuerungs- und Regelungssystem innerhalb von Strukturen wie etwa bei Aufbau- und Ablauforganisationen einer politisch-gesellschaftlichen Einheit wie Staat, Verwaltung, Gemeinde, sowie bei privaten oder öffentlichen Organisationen; wir verwenden ihn ganz generell im Sinne einer Steuerung oder Regelung einer jeglichen Organisation öffentlicher oder privater Rechtsformen.

Diese Erweiterung von Steuerung und Verantwortung außerhalb des politischen Sektors deutet schon an, worauf der Terminus in unserer Bestimmung auch zielt, nämlich auf Elemente und Strukturen von Eigenverantwortung in zivilen Sektoren einer Gesellschaft. So beinhaltet der Begriff Governance auch Formen der Kooperation mehrerer Akteure, was für uns von zentraler Bedeutung sein wird. Lenkung über kooperative Formen kann dann, wenn keine Kooperation mit dem ersten Sektor einer Gesellschaft (Politik) stattfindet, sondern im zweiten oder dritten Sektor verbleibt, als vollständige private Selbststeuerung bestimmt werden. Im Zusammenhang mit dem Europäischen Integrationsprozess wurden spezielle Lenkungsstrukturen entwickelt, die in der Forschung auch unter dem Begriff der New Governance bzw. New Public Governance versammelt wurden.
Wir betrachten den Prozess einer immer schneller wachsenden Differenzierung einer Gesellschaft, der die traditionellen Semantiken immer mehr auflöst auf einem Weg wachsender und einflussreicher Bürgergesellschaften, die sich aktiv in die politischen Gestaltungsprozesse einbringen. Corporate Citizenship, also das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen, hat sich in den letzten Jahrzehnten spürbar weiterentwickelt, weiter, als man gemeinhin angenommen hat. Nicht alles daran war und ist mehr als Lobbyismus zu verstehen, vieles verdient eine nähere Betrachtung. Denn es gibt mittlerweile viele Probleme, die sich einfach nicht mehr mit den traditionellen Mechanismen der Regierungen und der Nationalstaaten lösen lassen; wir haben den Klimawandel erwähnt, den Hunger in der Welt, die aktuelle Pandemie.

Wenn also nationale Regierungen die großen Probleme der Welt nicht allein zu lösen in der Lage sind, was bedeutet das dann für die Zivilgesellschaften? Dass Überzeugungen wie auch Entscheidungsprozesse davon abhängen, wie stark logische- und diskursive Erklärungssysteme, wie Meinungen, Erfahrungen, Begründungen und Wissen miteinander vernetzt sind und die Engmaschigkeit solche vernetzten Überzeugungen in argumentativen Ketten angelegt sind, sagt heute angesichts globaler Herausforderungen selbst unter wissenschaftlichen Kriterien an und für sich nichts aus über die Qualität von Überzeugungen und Entscheidungen. Und selbst wenn Überzeugungen auf dem Boden hochgradig kohärenter logischer und erklärender, also in sich zusammenhängender inferentiellen Beziehungen sich gebildet haben, ein wissenschaftliches Überzeugungssystem z.B. ist deshalb noch nicht sinnvoll, weder in seiner Überzeugungs- noch in seiner Erklärungstiefe.
Das hat die Wissenschaft der Mathematik und ihre nahen Anwendungsgebiete, besonders in den empirischen Sozialwissenschaften beeinflusst. Mathematik hat eingesehen, dass ihre aus der Natur entlehnten Gesetzmäßigkeiten für die Sozial- bzw. die Humanwissenschaften nicht mehr hinreichen und ein neuer Denkansatz deshalb notwendig geworden ist. Dieser Denkansatz, den wir bereits im Band V. unter der Überschrift Künstliche Intelligenz behandelt haben, beschäftigt sich mit dynamischen Systemen, also mit allen Datentypen, die aus statischen und Bewegungsdaten bestehen. Bewegungsdaten mathematisch zu analysieren und zu berechnen führt dazu, veränderliche Positionen und Geschwindigkeiten gemeinsam so präzise wie möglich zu schätzen, dass Fehler in der Schätzung so minimal sind, dass man sie vernachlässigen kann. Filter wie der Kalman-Filter dienen dazu, nicht direkt messbare Systemgrößen zu schätzen, während gleichzeitig die Fehler der Messungen optimal auf ein Minimum reduziert werden.

Aus Schätzwerten, Fehlerschätzungen und Korrelationen bildet der mathematische Filter dabei eine Art Gedächtnis für die gesamte bisher gewonnene Information aus vergangenen Messwerten. Nach jeder neuen Messung verbessert der Kalman Filter die bisherigen Schätzwerte und aktualisiert die zugehörigen Fehlerschätzungen und Korrelationen. So spricht man heute beim Kalman-Filter von einer „Zustandsraummodellierung“, bei der, im Gegensatz zu traditionellen Filtern der Zeitreihenanalyse, explizit zwischen der Dynamik eines Systemzustands und dem Prozess der Messung unterschieden werden kann, was natürlich gerade bei solchen Anwendungen von deutlich besserer Effizienz ist, die sich mit dynamischen Systemen beschäftigen. So seltsam es auch klingt, aber in unserem Denken ist die Zukunft solch ein System, ein geschätzter Zustandsraum, und wir bewegen uns darin mit virtuoser Gegenwärtigkeit.
Es klingt seltsam, weil jeder weiß, die Zukunft kann man nichtvorhersagen, auch nicht schätzungsweise. Aber wir machen das tagtäglich und entscheiden auch tagtäglich auf der Grundlage von Schätzungen, Vermutungen, Ahnungen mit möglichst wenig Irrtumswahrscheinlichkeiten. Nun sprechen wir in diesem Zusammenhang zwar nicht über sequenzielle Monte-Carlo-Methoden (SMC-Modelle), die zur Klasse der stochastischen Verfahren, die Zustände in einem dynamischen Prozess errechnen gehören, aber ein kleines Spiel mit dem Glück ist es selbst, wenn wir uns verabreden, zur U-Bahn gehen oder unseren Job wechseln, eine neue Beziehung eingehen oder eine politische Partei turnusmäßig wählen gehen. Überall dort geht es um die Zukunft und die betrachten wir als einen Schätzwert möglicher Zustände; vielleicht weniger bei der „Liebe auf den ersten Blick“.

SMC-Methoden kommen zur Anwendung, wenn in der Anwendung sichtbare und unsichtbare Zustände zugleich zu berechnen bzw. zu schätzen sind, also etwas, was der traditionellen naturwissenschaftlichen Methodik geradezu extrem widerspricht, dass sie sich nicht mehr allein auf empirisch messbare, sichtbare Erscheinungen beziehen, sondern die Welt sich in sichtbaren und unsichtbaren Variablen operationalisieren und so in Aussagen über den wahrscheinlichsten Systemzustand des dynamischen Systems formulieren lässt. SMC-Modelle sind also in der Mathematik und in den Sozialwissenschaften veranschlagt als modellhafte Spiele mit dem Zufall und wir werden dem entgegenhalten, dass sie Mustererkennung von verborgenen aber möglichen Mustern in Wahrheit sind. Sie schätzen die gesamte unbekannte „A-posteriori-Wahrscheinlichkeitsdichte, d.h. nicht sichtbare Systemzustände und weil keine Messung die Systemzustände korrekt wiedergeben kann, sind diese Systemzustände mit sequenziellen, nichtlinearen Methoden der Stochastik mit einer hohen Wahrscheinlichkeitsdichte qualifizierbar.
Wir sprechen dabei nicht nur über Wetter- oder Wahlprognosen. Wir berühren Themen wie die mobile Robotik und die mobile Navigation, die unsere Arbeitswelt und die private wie die öffentliche Mobilität bereits heute stark beeinflussen. SMC-Modelle sind im Einsatz in verschiedenen Echtzeitsystemen verschiedener technischer Anwendungsbereiche wie bei der Auswertung von Radarsignalen oder von GNSS-Daten zur Positionsbestimmung sich bewegender Objekte, aber auch in allgegenwärtigen elektronischen Regelkreisen in Kommunikationssystemen wie etwa Radio oder Mobilfunk oder in der Steuerung von elektromobilen Fahrsystemen. Und kaum ein Bereich der Ökonomie, der Politik und der Sozialsysteme kommt heute mehr ohne solche Zukunftsmodelle aus. Was weniger im Detail als viel zu allgemein betrachtet wird, ist der Einfluss solcher Modelle auf unser alltägliches Leben, insofern uns ein Bild der Zukunft vermittelt wird, dass diese als beherrschbar, als einigermaßen kalkulierbar erscheinen lässt. Und solange wir noch etwas von den Modellen und den darauf basierenden Prozessen verstehen, können wir solche Prognosen auch kritisch begleiten; aber das wird nicht lange mehr so der Fall sein.

Schleichend werden wir an Veränderungen gewöhnt, die wir nicht mehr beeinflussen können, so als seien diese ein Schicksal erster Ordnung, also Veränderungen, die scheinbar notwendig uns erscheinen. Dabei verbergen sich darin dynamische Prozesse, die wir durchaus gewohnt sind für unsere Entscheidungen jederzeit heranzuziehen. Es ist daher nicht unwichtig, uns wieder an diese Denkmuster zu erinnern und gleichzeitig diese kritisch zu betrachten, auf deren Grundlage sich unsere schier unüberschaubar vielfältigen Auslegungsmuster unserer Wirklichkeit entwickelt haben, um alte und neue Auslegungsmuster unterscheiden zu können. Und wir sagen es an dieser Stelle bereits im Vorgriff auf die Ausführungen in diesem Band: waren in der Antike noch Auslegungsmuster der Wirklichkeit rar und über eine lange Zeit hinweg mehr Desiderate als Gewissheiten, mit denen wir in einem leidlich stabil Rahmen unsere Welt wahrnehmen und uns darin zurechtfinden, auch was die Zukunft betrifft, so sind solche „stabilen“ Muster heute ganz und gar als instabil verworfen worden. Heute scheint alles nach Mustern abzulaufen, die wir gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Berechnungen sind unser Schicksal erster Ordnung geworden, woran wir uns orientieren, auf deren Grundlage wir entscheiden, die unsere Handlungen diskret beeinflussen und steuern. Schauen wir also auf das, was unserem Dasein begegnet, als das, was so zu sein scheint, wie es ist, und auf das, was unser Dasein beeinflusst, insofern wir selbst es sind und Veränderungen, die sich unserem Bewusstsein entziehen, unserem Willen nicht zuzurechnen scheinen, sich aus unseren Handlungen sich scheinbar nicht erschließen und unsere Freiheit im Denken und Handeln übersteigen.