Individuelle Macht gibt es nicht

INDIVIDUELLE MACHT GIBT ES NICHT! …SONDERN NUR POLITISCHE MACHT

Nicht immer macht es Sinn, das Ergebnis eines Gedankens oder die Antwort auf eine zentrale Frage wie die: Was ist Macht? so sie schon vorliegt, auch gleich niederzuschreiben. Nicht, wenn die Absicht wie in diesem Kapitel ist, dass jeder, der es liest und sich wirklich mit der Frage beschĂ€ftigen will, dies auch auf seine Art und Weise tun kann. Denn bei der Frage um die Macht geht es in unserer Zeit so sehr auch um die eigenen Überzeugungen, die, wenn sie nicht klar und im Einzelnen widerlegt werden, auch keine Änderung einer festen Überzeugung möglich machen.

Wir wollen die feste Überzeugung, dass es individuelle Macht gibt, erschĂŒttern. Eine Überzeugung, die von den allermeisten Menschen wohl ohne Abstriche geteilt wird. Von Philosophen, von Soziologen, Psychologen, Genforschern usw. Sie alle gehen von dem Vorhandensein von etwas aus, das einer individuellen Handlungsmacht entspricht. Max Weber, der sicherlich den grĂ¶ĂŸten theoretischen Vorschub dazu geleistet hat, definiert die Macht wie folgt: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ Nun macht diese Definition wenig Sinn, denn das Definiens ist eine „Chance“ und selbst die wird nicht weiter qualifiziert, weil es ja ganz gleich ist, welche QualitĂ€t sie hat. Den eigenen Willen gegen den Widerstand anderer durchzusetzen, dafĂŒr gibt es viele Beispiele. Etwa mit körperlicher Gewalt. Mit verbalen Drohungen. Mittels Erpressung, durch EntfĂŒhrung oder – wie immer gerne genommen – mit ein paar Kumpels und der Kalaschnikow mal eben die Bar durchsieben. Durch UnterdrĂŒckung, Kompetenz, soziale, informelle Segregation, Beeinflussung, Zwang, Folter
 die Liste wird lang.

Aber wozu brauchen wir hier noch den Begriff Macht? Wir haben doch fĂŒr alle diese Erscheinungen jeweils einen wunderbaren und auch brauchbaren Ausdruck. Ein Begriff will mehr. Ein Begriff will ja alle diese Erscheinungen zusammenfassen unter einem inneren Wesen, einer verbindenden Eigenschaft, einer ĂŒbergeordneten Idee, einer tragenden Struktur o.a. Weber spricht von Macht und meint auch den Begriff Macht. Und er bestimmt den Begriff als „soziologisch amorph“ (ebenda). Ist diese Bestimmung, die ja nun auch nicht viel aussagt, nicht viel vorstellt, der holprige Versuch eines philosophisch nicht so geschulten Soziologen, oder was mag Weber in diese Vagheit und Unbestimmtheit gefĂŒhrt haben? Mit „soziologisch amorph“ kann er ja kaum etwas anderes im Sinn haben, als dass sich Macht innerhalb sozialer Wirklichkeiten realisiert, aber nicht identisch ist mit den jeweiligen Handelnden, seien es die Menschen selbst oder soziale Formen von Handlungsmacht.

Unsere kleine Liste an Beispielen wird der Weberschen Definition insofern gerecht, auch wenn wir sie schier endlos verlĂ€ngern wĂŒrden, weil Macht darin sozial amorph bliebe, also unbestimmt und unkenntlich. Und dies ist der eigentliche Wesenszug aller individuellen Vorstellungen von Macht, individuell deshalb, weil sie in jedem einzelnen Menschen und auch in den unterschiedlichen sozialen wie privaten Institutionen ganz spezielle Formen ausprĂ€gen kann, eins zu mystifizieren, nĂ€mlich wirkliche Macht. Sie alle verschleiern bzw. geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind, nĂ€mlich Macht. Sie alle sind auf ihre Weise BestĂ€tigung von Macht, ein, manchmal auch unbeabsichtigter Kniefall vor ihr. Die Mystifikation von Macht in den Formen individueller Machtvorstellungen haben ihren Grund in der Zeit des 18. Jh. und den ‚Wirren‘ der AufklĂ€rung, die sich in Kontinental-Europa – im Gegensatz zu England – am massivsten und signifikantesten ausgeprĂ€gt haben und die sich im Ruf Friedrichs II. als „aufgeklĂ€rter Monarch“ als „erster Diener seines Staates“ und als „Philosoph auf dem Königsthron“ manifestierten.

Dieser Ruf manifestiert auf deutliche Art eine fatale Wendung der AufklĂ€rung in Hinblick auf den Begriff und die politische Wirklichkeit von Macht, wie sie sich im Anschluss an die ĂŒber England vor allem durch Voltaire nach Kontinental-Europa eingefĂŒhrte Philosophie der Politik entwickelt hat. Was Montesquieu als dessen VorlĂ€ufer in seiner Staatsphilosophie noch undeutlich im „esprit gĂ©nĂ©ral“ als liberale Grundordnung einer Gesellschaft und als Gegenentwurf zur korrupten Einheit von Staat, Kirche und Aristokratie entwickelt hat, fand in den „Lettres philosophiques“ von Voltaire eine, auf der Basis der Entwicklung der AufklĂ€rung in England ĂŒbersetzte europĂ€ische Fortschrift. Voltaire war fasziniert von den Schriften von Bacon, Locke und Newton und erbitterter Gegner der französischen Staatsverfassung, vor allem gegen die korrupte Herrschaft von Adel und Kirche im damaligen Frankreich. „Die englische Nation hat es als einzige verstanden, die Macht der Könige im Zaum zu halten, indem sie sich ihnen widersetzte“, schrieb er in seinen „Briefen ĂŒber EnglĂ€nder“. Und die wesentlichen Elemente dieser Machtkontrolle und MachteinschrĂ€nkung sah Voltaire in den Elementen der englischen Verfassung, in denen es um den Schutz der natĂŒrlichen Rechte an Person und Eigentum, in der Religions- und Pressefreiheit sowie um die Gewaltenteilung geht.

FĂŒr uns ist wichtig, bestimmte Elemente der Philosophie der AufklĂ€rung unter dem Horizont der Vorstellung ihrer politischen Umsetzung zu beleuchten und dabei den Begriff der Macht in seinen grundsĂ€tzlichen Bestimmungen zu reflektieren. Wir sind der Meinung, dass gerade die Unterscheidung zwischen europĂ€ischer und englischer AufklĂ€rung hier weiterhilft. Wir haben das historische GlĂŒck, dass die politische Verfassung Englands und der Frankreichs sowie anderer europĂ€ischer LĂ€nder nicht im Gleichschritt sich entwickelte. Ebenso nicht die Philosophie der AufklĂ€rung, die in England maßgeblich durch die Entwicklung der Naturwissenschaften, in Europa durch die französische und die deutsche Variante geprĂ€gt wurde. Ob in dieser unterschiedlichen Entwicklung weiterfĂŒhrende Erkenntnisse zur Idee von Macht und deren politischer RealitĂ€t liegen, ist eine der zentralen Fragen dieses Kapitels.