TĂĽrmer – Seite 255ff

„Und nicht einmal von seinem eigenen Sein versteht es etwas, weil es sich die Frage nach dem eigenen Sein nur in der persönlichsten Form stellt: was will Ich? Was soll ich schaffen, was darf ich wollen, was soll ich glauben, welchen Werten soll ich folgen?“
Beide waren sich schnell einig, dass das Ich nun alles das in sich vereint, auch das, was einmal nicht zu ihm gehörte. Das Ich wurde Maß, Wertmaßstab allen Seins, zum Wert aller anderen Lebewesen und aller Dinge. Türmer sah in den Augen des Alten, wie dessen Leidenschaft langsam entschwand und seine Augen trübte, seinen Gang erschwerte und seinen Körper neigte.
„Mein Freund, du wirst deine Redlichkeit vom Leib und von der Liebe bald verlieren. Alles ist gesagt, alles geschrieben. Wie viele Zeilen und Seiten stehen in deinem Bücherregal, in denen vom Leib und von der Liebe, vom Sein und vom Nichtsein wortgewandt die Rede ist, gedichtet in schwärmerischer Manier oder akademischer Exaktheit, die aber die zerbrochenen Flügel deiner zerrissenen Seele nicht mehr zu heilen vermögen? Denn selbst im Untergang schwärmt der Mensch von seinen Möglichkeiten in den bedeutendsten Werken der Kunst, sogar der Wissenschaften.“
„Immer redlicher wird das Ich über seinen Geist und seinen Leib. So redlich, dass die Fettleibigkeit hier, der optimierte Körper dort, der alles wissende, sklerotische Geist und die neue Mystik der künstlichen Intelligenz zu den Maximen und Markenzeichen der neuen Diskurse geworden sind. Alles eine Folge geistiger und körperlicher Bulimie, alles im schwärmerischen Überschwang.
„Nacktheit ist zurückgekehrt und entblößt mit dem Körper die geistige Dürftigkeit“, warf der Alte ein, „du kannst dich nicht an diese Zeiten erinnern, als der Leib noch Gegenstand reinen Schwärmens war. Du warst noch nicht geboren. Heute schwärmen alle wieder über den Körper, den nackten, schönen Körper, die offen erotischen Gesten, das selbstbewusste Ich in einem zum Maximum optierten Körper, dessen Ideal das fast noch unschuldige Kind ist, mit dem die Schwärmerei von der ewigen Jugend verbunden ist.“
„Und der Geist verfällt ins Schwärmen über sich selbst“, unterbrach Türmer, „der neue Schöpfergeist, dessen Gottgefälligkeit man daran erkennen kann, wie sehr der alte Schöpfergott zu dessen Vorbild taugt. Wesen erschaffen aus dem Nichts heraus, eine ganze Gattung, wie es sie noch nie gab, die maschinentaugliche Intelligenz, die die erste, nicht biologische Schöpfung in den Tälern des Silicon Valley erdacht und von dort in die Welt exportiert wurde. Gottgleich wollen sie sein, ja sogar den bereits getöteten Gott noch einmal töten, um Herrschaft und Macht über alles Sein zu erlangen, das ist ihr Traum, davon schwärmen sie und ihre Untertanen heute schon.“

Hatte der Gott in der Stunde der Schöpfung von sich selbst abgesehen, sein Auge dem Unvollkommenen zugewandt, was er bereit war zu schaffen, so gilt der Blick der neuen Gottheiten nurmehr sich selbst. Und dieses Ich, das zum Selbst aufgestiegen ist, beherrscht bereits die Welt. In seiner Selbstherrlichkeit und Selbstgefälligkeit manifestieren sich Glaube und Wissenschaft in einem superoptimalen Zustand, in dem nur noch sie etwas und gar das Ganze wollen, weil niemand anderes mehr einen anderen Willen hat, als den des deus ex machina zu folgen, in dem sie alle Götter und alle Gläubigen in einem Akt der Selbstermächtigung zugleich schaffen.

Sie schaffen die Welt neu und in ihr die neuen Hinterwelten, wo die Menschen leben, die ihren Idealen ungenügend sind und die leben in einer Welt, die schlimmer ist als das griechische Labyrinth mit der Bestie des Minotaurus, schlimmer als Dantes Hölle und die zahllosen Habitate der Kranken und Aussätzigen, der Folterkammern, wo die Dissidenten ihr Leben ließen.
Das Opfer der neuen Welt ist die Seele der Menschen. Mit jedem Jota mehr an Wissen ĂĽber den Leib, mit jedem Jota mehr an der Vernunft des Machbaren, wurde die Seele aus den Menschen vertrieben. Heute ist die Seele, wenn ĂĽberhaupt noch etwas, etwas, was irgendwo am Leib seinen Sitz hat, und Neurophysiologen spĂĽren sie auf, sind ihr bereits nahe auf den Versen.
Für sie ist der Leib ein Gefäß, wo Geist und Seele aufzuspüren und hernach zu kopieren sind. Kopiert nach außen an einen Ort, der nie schläft, nie erschöpft ist, nie verzweifelt oder dissident, der größeren Reserven, multiplizierten Speicher- und Rechenkapazitäten mit der Cloud als deren Unsterblichkeit und Selbstreproduktion.

Die Arterhaltung in der Cloud ist der vorerst letzte Schöpfungsakt, den der kleine Geist als Anleihe noch bei seinem größeren, älteren Bruder nehmen muss; aber nicht mehr lang, dann hat auch das sich erledigt wie von selbst. Mit den kleinen Spielzeugen des Geistes und des Leibes schaffen sie schon gigantische Maschinen und schwärmen von der großen Vernunft, die sie die ihre nennen.
Stolz sind sie darauf wie kleine Kinder, die die Welt entdecken, nur spielen um des Spieles willen haben sie verlernt. Stolz geschwellt schwärmen die neuen Schöpfergottheiten von ihrer kleinen Vernunft und ihrem hässlichen Körper als die Instrumente einer neuen Weltordnung, in der ihr Ich allein das Sagen hat; so träumen sie und verhalten sich danach, nach dem Erwachen.

Der Glaube, das die Welt nach dem Erwachen so ist, wie die Welt in ihren Träumen, ist fest. Fest glauben sie daran, dass sie selbst es sind, die die Welt nach ihren Träumen gestalten. Aber weder sind sie es, noch sind es ihre Träume, aber was ist dann dieses Selbst, das hier träumt und gestaltet?