Die Desillusionierung der Wirklichkeit

Wie kann man nur der Wirklichkeit gegenüber so ungerecht sein zu behaupten, früher war alles besser. Fragen wir nach der Seinsart dieses erkennenden Subjekts, dann haben wir schnell die Vorstellung eines frustrierten Besserwissers vor Augen; aber so einfach ist es dann leider doch auch wieder nicht. In der Vorstellung eines frustrierten Besserwissers identifizieren wir ja bereits einen Menschen, der nicht in der Vergangenheit existierte, sondern mitten unter uns weilt und der Früher mit Heute vergleicht und bei diesem Vergleich zu einem Werturteil kommt. Es folgte beim Nachdenken darüber nun entweder die Frage: warum war früher alles besser? Oder die wesentlich interessantere Frage, was unser frustrierter Besserwisser denn alles aus den vielen Bereichen und Möglichkeiten von heute mit entsprechenden Bereichen und Möglichkeiten früher verglichen hat? Nun haben wir aber gesehen, so einfach ist es gar nicht zu vergleichen, da viele Möglichkeiten, die heute bestehen, früher nicht bestanden, dass Lebensbereiche sich so sehr verändert haben, etwa im Bereich Arbeit, dass ein Vergleich zwar möglich ist, aber kaum ein aussagekräftiger Vergleich sein kann und schon gar keiner, der als Grundlage für Werturteile dienen könnte; und wie bewertet man die Tatsache, dass heute die EU existiert?

So wäre auch zu bedenken, dass früher auch nicht alles schlechter war, weil z.B. heute die Rezeptur einer Zellophan Folie wiederentdeckt wird, die bereits vor mehr als hundert Jahren, 1908, von einem Schweizer erfunden worden ist, die damals aber von dem preiswerteren Erdöl gänzlich verdrängt worden ist und in Vergessenheit geriet, die aber heute das nicht unerhebliche Problem der Plastikverpackungen ganz oder teilweise zu lösen in der Lage ist. Die Firma Superseven aus Börnsen bei Hamburg entwickelt biologisch abbaubare Verpackungen aus nachwachsenden Rohstoffen – Hauptbestandteil ist Zellulose, dazu kommen Zucker, Glycerin, Öl und Stärke – die nach wenigen Monaten einfach zu Biomasse zerfallen. Also, alles ein altes Rezept, nur wiederentdeckt? Mitnichten. So schön wäre es, könnte man die Geschichte in diese glatte Formel und ein lineares Zeitmaß einfassen, aber damals im Jahr 1908 sah die Wirtschaft noch ganz anders aus, sie hatte andere und nicht die Möglichkeiten und Anforderungen von heute. Denn für die Superseven aus Börnsen besteht gerade die Hauptherausforderung heute darin, aus den alten Rezepten modernste Lösungen zu generieren, die den heutigen industriellen Anforderungen genügen.

Wir sehen, eine einfache Übernahme von etwas aus früheren Zeiten in heutige ist nicht, ist nie möglich, da Zeit zu sich selbst auch in einem komplementären Verhältnis steht, anders also als wir gewohnt sind, Zeit linear zu denken. Aber Zeit verläuft nicht wie eine Uhr und wenn man es genau will, dann ist Zeit im Raum und somit in allem, was ist, enthalten. Eine Zeit, die man aus allem heraushalten oder abstrahieren kann, ist somit eine künstliche Zeit, eine menschliche Vorstellung, die unsere Wirklichkeitswahrnehmung und unseren Wirklichkeitsbegriff konstituiert. Wenn wir also über Zeit und Raum sprechen, dann sprechen wir bereits und von Anfang unserer Philosophie an von einer künstlichen Zeit, eine Kombination unseres Verstandes und nicht über Zeit als etwas Vorhandenes, als etwas, was an-und-für-sich so ist. Zeit also gibt es an-sich nicht, sondern ist lediglich im Modus für-uns, für uns alle eine Vereinbarung auf eine lineare Funktion von Zeit; gleichwohl es Raum und Zeit somit nicht gibt, so sie so nicht existieren, kommen wir aber doch einigermaßen damit klar, wenn alle sich an die Vereinbarung, die Uhr, und die Dreidimensionalität halten (Band I. Kap. 4 u. 5).

Die Philosophie hat Raum und Zeit bis Kant als absolute Substanzen betrachtet. Dann sagte Hegel: Die Substanz ist als Subjekt zu betrachten und hat nachweislich unversehens Raum und Zeit zur Subjektivität geschlagen und, in unseren Worten, Raum und Zeit zu transzendentalen Anschauungen, zu reinen intellektuellen Vorstellungen transformiert. Die Desillusionierung von Raum und Zeit als Substanzen hat wenig überraschend dazu geführt, dass die modernen Menschen immer mehr gelernt haben, in einem Modus von gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit zu leben; die Welt wahrzunehmen und über sie nachzudenken. Gleichzeitigkeit meint ja innerhalb unserer Wahrnehmung, dass wir die Dinge um uns herum als hier-seiend wahrnehmen und von Dingen, die nicht hier sind ausgehend, dass sie in der Vergangenheit existierten oder als ein Erbe der Vergangenheit existent sind wie etwa ein Oldtimer, der irgendwo in einem Schuppen herumsteht oder aufpoliert über die Straßen fährt und Staunen hervorruft. Das aber ist noch eine alte Einteilung der Wirklichkeit in Zeiträumen oder Epochen, die über die Existenz von Dingen, von dem, was in der Zeit ist, ausgeht. Aber ist das so, gelingt dies so heute noch?

Schauen wir genauer hin, dann erkennen wir eine Veränderung in der uns umgebenden Umwelt und auch global, also außerhalb unserer direkten Wahrnehmung, dass die Dinge in Raum und Zeit sich dematerialisieren . Schmidt-Bleek, ein vehementer Vertreter der o. g. Ressourcen-Theorie, plädierte für eine Reduzierung der Stoffströme um den Faktor 10 und begründete das damit, dass der Fortschritt, vor allem der technische, ein überproportionales Wachstum der Stoffströme und somit des Ressourcenverbrauchs bedingt. So fand man z.B. in bekannten Studien des Club of Rome heraus, dass lediglich 20 % der Erdbevölkerung 80 % der Ressourcen und der damit verbundenen Stoffströme nutzen, dass also für 80 % der Bevölkerung lange Zeit nur 20 % der Stoffströme zur Verfügung standen und dass schließlich durch das starke Wirtschaftswachstum einiger Schwellenländer im Zuge der nachholenden Entwicklung die Stoffströme, global gesehen, seit einigen Jahren stark zunehmen. Die Folgen dieses Ressourcennutzen sind konkret abzulesen als z.B. Ozonloch, Klimawandel und Versteppung oder noch in unbekannten negativen Auswirkungen. Der Club of Rome verlangte daher wie alle Umweltorganisationen heute im Sinne des generativen Vorsorgeprinzips eine drastische Reduktion der Stoffströme, um den Kollaps der ökologischen Systeme zu verhindern, den man an der Reduktion des Grundwasserspiegels und des Bodenverbrauchs z.B. ablesen und für die Zukunft extrapolieren kann; so, ganz kurz gesprochen, gelingt das bisherige Konzept der Dematerialisierung, wir aber gehen dies ergänzend von einem anderen Begriff der Dematerialisierung aus.

Schauen wir auf den technischen Fortschritt ohne ideologische Brillen anzuziehen, dann stellen wir bei Beibehaltung aller Kriterien der Dematerialisierung durch Schmidt-Bleek auch fest, dass der technische Fortschritt an und für sich bereits eine Form der Dematerialisierung zeigt, die sehr vielfältig ist und eigenartigerweise im Begriff der Ökologie nicht auftaucht. In den vergangenen Jahrzehnten hat der technische Fortschritt in vielen Bereichen eine enorme Reduktion der Stoffströme und Dematerialisierung innerhalb der Warenwelt mit sich gebracht. Die ersten Aluminiumdosen für Getränke wogen noch vor einigen Jahrzehnten etwa 80g und heute kaum 15g, eine Dematerialisierung um mehr als 500 Prozent. Telefonierten wir vor nicht allzu langer Zeit noch über endlose Telefonleitungen, die über zahllose Masten gespannt waren und physikalisch Atome durch Kupfer leiteten, so ist diese Infrastruktur weitgehend verschwunden und durch den kabellosen Transport von Bits und Bytes langsam ersetzt worden. Wir betrachten bitte den Zeitfaktor und stellen fest, dass es noch Dosen und Leitungen wie auch Masten gibt, dass aber damit ein ungleich anderer Faktor der Stoffströme verbunden ist. So sind die Stoffströme zur Produktion von Zeitungen und allen möglichen papiergebundenen Medien dabei ersetzt zu werden von Cloud-gestützten Downloads und Streaming-Contents und was früher einmal die eigene Plattensammlung war, wurde erst zu CDs mit digitalen Inhalten und dann zu MP3 verdichteten mobilen Privat-Diskotheken; wenn heute die gute alte Vinyl wiederentdeckt wird, spricht dies prinzipiell nicht gegen die besagte Dematerialisierung, sondern kann wie ein geliebter Oldtimer betrachtet werden.

Nehmen wir nur einige wichtige Substanzen wie Plastik, Papier, Holz, Öl und Metalle dann erkennen wir schnell, welche Ausmaße die Dematerialisierung des Seienden mittlerweile angenommen hat und welche Dimensionen der Zeitverschiebung damit verbunden sind. Wer erinnert sich nicht noch an die Zeit, also uns technical devices en masse umgeben haben, als unsere Wohnzimmer voll waren mit TV-Geräten, mit Tonbandgeräten, Radios, Wecker – mindestens einen – mit Telefon, separatem Anrufbeantworter, Taschenrechner und in mindestens einem Regal oder Schrank standen Akten meterlang, Wörterbücher und Enzyklopädien, die schnell fünfzig Kilogramm und mehr auf die Waage brachten, dazu diverse Kalender, für jeden in der Familie mindestens ein Tagebuch oder Notizbuch, dazu die gesammelten Stadtpläne der wichtigsten europäischen Hauptstädte aus den letzten Reisen, ach ja, einige Reisekataloge, der „Dierkes“, ein Faxgerät, ein Kompass, eine Taschenlampe, ein Innen- und ein Außenthermometer, eine Wasserwaage, ein Metronom, ein ganzer Schrank an Notenblättern und vielleicht auch einige Partituren usw. usw. Und diese Liste ist heute nichts anderes als eine Aufzählung von nur einigen wenigen Apps auf einem einzigen Smartphone. Und alle diese Entwicklungen der einzelnen Geräte und Anwendungen sind in unterschiedlichen Regionen der Welt geschehen und in unterschiedlichen Zeiträumen, wovon wir heute im Gebrauch eines Smartphones nichts mehr wissen, es sei denn, es interessiert uns und wir forschen nach. In vielen Hauhalten sind die „Oldtimer“ des Smartphones mittlerweile ganz verschwunden, entsorgt worden, und Kinder, die heute sechzehn Jahre alt sind, wissen nicht mehr, was ihre Eltern so alles in der Hand hatten und kennen also auch deren Alltag wenig, wenn überhaupt.

Alle diese „Dinge“ haben sich also unterschiedlich in Raum und Zeit entwickelt und dabei gab es keine Zwangsläufigkeit, weder eine notwendige noch eine hinreichende. Und auch keine, die der Wahrnehmung stets zugänglich war oder ist. Was wir heute so abschlägig Trends nennen sind in Wirklichkeit Entwicklungen, die nicht zwangsläufig, sondern meistens gänzlich ohne Zwang, sorglos und jenseits von Gesetzen und Kausalitäten sich spontan erfinden und entwickeln, allein, weil Menschen in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmte Ort ihre Möglichkeiten entdecken und nutzen, weil sie vor Ort die Entscheidungen treffen, die sich später als richtig herausstellen oder nicht und diese Entscheidungen etwas damit zu tun haben, wie sie sich ihr Leben in der Zukunft vorstellen, wie sie also leben oder besser zu leben wünschen. Besonders Deutschland mag hier als ein Beispiel gelten; führend bei der Erfindung und ersten Entwicklung von Rechenmaschinen und Computern ist der Entwicklungsprozess dieser und damit verbundenen Technologien irgendwann einmal abgebrochen, gingen Siemens Nixdorf, Schneider Elektronik etc. den Weg des Verkaufs oder der Insolvenz wie auch europäische Unternehmen wie Nokia bei Handis und Eriksson bei Datentechnik. Nicht aber, weil die Märkte solche Produkte nicht wollten, das belegen ja die USA und Japan zur gleichen Zeit genau anders herum, sondern weil die Geschäftsmodelle und die Geschäftsführer wenig visionäre Kraft in Hinblick auf eine längst florierende Technik und Technologie aufzubringen in der Lage waren; die deutsche Automobilbranche mag ein eigenes Lied über Antriebstechnologien anstimmen.

Raum und Zeit als substanzielle Bedingungen unserer Wirklichkeit haben sich also als wenig brauchbar erwiesen wie auch die Substanzialität bzw. Materialität der Dinge, des Seienden um uns herum ein flüchtiger Faktor zu sein scheint, so flüchtig, dass mit jeder Dematerialisierung auch die Raum-Zeit-Koordinaten des Seienden sich verflüchtigen, aus den Erinnerungen verschwinden, vergessen werden und auch den Wahrnehmungen nicht mehr zugänglich sind. War es in der Philosophie noch bis vor Kurzem ausgemacht, dass das Wirkliche auch das ist, was existiert und den Sinnen des Menschen zugänglich ist, so sind nun also Vorhandenheit und empirisch-sinnliche Zugänglichkeit als die beiden wichtigsten Bestimmungen, sozusagen als Realitätsmodi unverlässlich geworden. Aber von welcher Realität sprechen wir? Wir sprechen im Rückblick von der menschlichen Realität, also von allem, was von Menschen gemacht und erdacht worden ist in primärer Absicht. Das gilt also nicht vom Kosmos, von Mond und Sternen. Die physikalische Welt ist eine ganz andere als die menschliche Welt, gleichwohl wir alle in einer physikalischen Welt leben und Teil davon sind als biologische Wesen.

Der Physiker empfängt akustische Signale vom Urknall und elektromagnetische Wellen von längst verglühten Sternen. Das eine alte Revox-Maschine einmal Vorläufer der digitalen Aufzeichnungsmaschine in unserem Smartphone gewesen ist, davon hören, sehen und wissen die meisten von uns nichts, auch, weil es nicht stimmt. Denn zwischen der Revox und dem iPhone gibt es keine Zwangsläufigkeit wie es Zwangläufigkeiten analog zur physikalischen Welt nicht gibt. In der Physik hat die Realität im Sinne von Vorhandenheit und empirisch-sinnlicher Zugänglichkeit Vorrang vor allem anderen, ist sozusagen Prima Materia, wohingegen beiden Bestimmungen des Wirklichen für uns Menschen nur nebensächliche Bedeutungen zukommen; der Elektromagnetismus und die Thermodynamik haben sozusagen kein Gedächtnis, keine Aufzeichnungsebene außerhalb des Menschen, sie können quasi nicht vergessen. Bleiben wir entspannt und sagen, den Urknall werden nicht los, die Revox umso schneller. Für uns Menschen ist die Realität immer das, was wir vorfinden und uns zugänglich ist, also das, was existiert und uns umgibt, das sind natürlich auch die anderen Menschen. Aber Realität für uns ist keineswegs an Ort und Zeit substanziell gebunden, sie wird uns auch übergeben von den „Alten“, ist also auch eine imitatio veterum, in die wir qua Geburt eingesetzt sind; haben elektromagnetische Wellen Vorfahren? Das würde uns interessieren. So ist dann auch die zweite Desillusionierung der Substanz von entscheidender Bedeutung für unser Realitätsbewusstsein und unser Bewusstsein von uns selbst, die beide von Diskontinuität sind.

Das führt uns zur nächsten Desillusionierung, dass nämlich Identität existiert. Identität, so haben wir an anderer Stelle bereits ausgeführt, bedeutet Beständigkeit in der Zeit. Natürlich ist dies denkbar, dass etwas so bleibt, wie es ist, obwohl die Zeit voranschreitet und selbst den Energiehaushalt betrifft. Für die Physik ist es einfach, denn z.B. ein System, welches aus vier möglichen Zuständen bestehen kann – bei dem z.B. vier Atome jeweils entweder auf der rechten oder der linken Seite eines Behälters sein können – zeigt insgesamt eine Potenz von diesen vier Zuständen, nämlich insgesamt sechzehn Möglichkeiten. Nun hat auch noch kein Physiker jemals genau diese Verteilung sinnlich wahrnehmen können und deshalb spricht er auch nicht von einer ontischen Vorhandenheit und Zugänglichkeit, sondern von einer Ontologie eines Systems, in dem die Eindeutigkeit eine Form der thermodynamischen Beschreibung und das Gesamtergebnis eine Form der stochastischen Argumente repräsentiert. Wenn somit die Physik über eine zeitliche Asymmetrie spricht, ob im Kosmos oder auf unserer kleinen Erde, dann versteht sie dies stets in Bezug zu einem Anfangszustand, ob im Wasserglas bei der Berechnung der Mischentropie oder im Weltall; diesen glücklichen Umstand kennt die moderne Philosophie eigentlich schon lange nicht mehr. Die Zeit des Universums reichte nicht aus, um die möglichen Zustände der Menschheit innerhalb eines Zeitraums von nur einem Tag auch nur zu berechnen und es besteht durchaus einiger Zweifel, dass dies mit der nächsten Generation von neuronalen Rechenmaschinen auch nur annähernd gelingt.

Wie dem auch sei, wir alle glauben an so etwas wie Identität. Und dieser Glaube, das sei vorab sogleich gesagt, wird von der Physik im Verein mit allen anderen naturwissenschaftlichen Denkmodellen noch unterlegt. Diese Unterlagen geben den Boden ab, den Beweis, dass es Identität gibt und dass eine Übertragung der Gesetze der Gravitation und der Thermodynamik auch für die menschliche Welt und den Menschen selbst möglich ist. Wir werden verrückt, wenn wir die Vorstellung von der Identität unserer Wirklichkeit und von uns selbst verlieren. Wir kämen nicht einmal bis zur nächsten U-Bahn, wenn wir von der Beständigkeit unserer Wirklichkeit nicht ausgingen. Um beim Bild zu bleiben; unsere Identität ist wie ein „schwarzes Loch“, das sich auflösen kann, wenn die Energie der abgestrahlten Hawking-Strahlung (durch die die Masse des Schwarzen Lochs abnimmt) für einen ausreichend langen Zeitraum den Energieinhalt der einfallenden Materie übersteigt . Oder anders gesagt; Identität verbraucht eine ganze Menge an Wirklichkeit, ohne deren Zufuhr sie sich auflöst wie ein schwarzes Loch im Universum. Und man könnte, so man wollte, auch noch ein Gesetz daraus machen und unsere Identitäten wie ein Phasenraumvolumen betrachten, deren größtmögliche Entropie die Großstadt repräsentiert.

Dort, wo das Man in das Jedermann sich aufgelöst hat, ist auch und zugleich in Raum und Zeit die größtmögliche Ausprägung von menschlichen Identitäten vorhanden, so sehr vermischt im Behälter Großstadt, dass keine einzelne Identität mehr ihre eigene Repräsentanz, sondern die Repräsentanz aller Identitäten darstellt. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass besonders in geografisch kleineren Regionen das Postulat eigener Identität auch am lautesten erscheint und besonders auch dort, wo durch einen größeren Nachbarstaat die regionale Identität am meisten bedroht scheint, auch der Kampf um die eigene, individuelle wie lokale Identität umso erbitterter geführt wird. Nehmen wir das Baskenland, Katalonien, Nordirland und das Kosovo als Beispiele, dann sehen wir, dass die Bedrohung der Identität durch z.B. einen größeren Nachbarstaat den Anspruch und den Willen auf eine Identität deutlich erhöht, im Beispiel Nordirland ist zudem die Besonderheit festzustellen, dass es sich nicht um eine Bedrohung wie in den anderen Fällen handelt, sondern um ein Resultat des Brexits, also einer Entscheidung Englands, die die irischen Royalisten nun mit einer Zollgrenze beschenkt hat, die sie wirtschaftlich so erscheinen lässt, als wären sie keine „Engländer“ mehr. Und Sardinien macht deutlich, dass es in allen Äußerungen von Identität um den Verlust einer lokalen bzw. einer Form der Abstammungsidentität geht, die sowohl das Konzept der personalen wie der Gruppen-Identität bzw. der politischen Identität trägt.

Nun sind beide Formen der Identität in den letzten Jahrzehnten nicht nur von „außen“ bedroht, bedroht von einer größeren, dominierenden Gruppe oder Gesellschaft, wie etwa Spanien zum Baskenland und Katalonien oder Italien versus Sardinien, England versus Nordirland (Teil). Das Wir-Postulat in dominierten Gruppen hat eine politische Seite, aber auch die kulturelle Seite spielt dabei eine entscheidende Rolle. Neue sexuelle Orientierungen, Migrationen aus wirtschaftlichen Gründen, Wegzug aus ganz individuellen Entscheidungen lösen Wir-Postulate umso stärker aus, als die Gruppe oder Gemeinschaften sich dekulturieren. Dekulturation präzise von politisch bedingtem Identitätsverlust zu unterscheiden ist nicht immer leicht und oft sind heute die Vertreter der Wir-Postulate eher Minderheiten in der eigen lokalen Gruppe wie etwa im Baskenland und in Katalonien. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Druck von außen auf die eigene individuelle und die kulturelle Identität weniger stark ist als der Druck, der durch die kulturellen und individuellen Um- und Neuorientierungen ausgeht.

Wir können feststellen, dass in vielen Gruppen der „innere“ Druck deutlich anwächst und den „äußeren“ Druck übersteigt. Während also Teile einer sozialen Gruppe so bleiben wollen, wie es in ihrer Geschichte als Vermächtnis von einer Abstammungsidentität erscheint, orientieren sich andere Teile dieser Gruppe oder kulturellen Einheit an anderen Möglichkeiten der personalen wie der kulturellen Identität. Die einen postulieren zunehmend separatistische Inhalte und fordern mehr politische Selbstbestimmung zur Bewahrung der eigenen kulturellen Identität, die anderen werden, meist gegen ihren Willen, zu inneren Kritikern und votieren für einen politischen Status Quo, zumindest nur abgeschwächt reformiert. Der überwiegende Teil der sardischen Bevölkerung z.B. ist in wenigen Jahrzenten ausgewandert aus den heimischen Dörfern in gebirgiges Inland der Insel, an die Küsten zu den touristischen Zentren, ans italienische Festland oder ins Ausland aus persönlichen Gründen. Ist deren Identität weniger Wert als die der Minderheit, die ihre kulturelle Identität alljährlich feiert und tagtäglich zu bewahren sucht?

Wir sehen, dieses Beispiel zeigt schon wie kulturelle Identität ihren Bestand nur halten kann, wenn andere, neue Forme von Identität einfach nicht wahrgenommen werden, als wären sie nicht vorhanden und wenn diesen Formen von Identität keinen kulturellen Ausdruck, kein Dabeisein im Wir erhalten. Um also den Bestand an Identität aufrechtzuerhalten, ist es somit zwangsläufig vonnöten, Heterogenität so weit wie möglich zu exterminieren, kulturell wie politisch auszuschließen. Das ist das Paradox der Identität, dass kulturell und politisch betrachtet, die Aufrechterhaltung von Identität im Kern die Auflösung des Identitätspostulats betreibt; dies konnte man auch sehen, dass die Radikalisierung des Feminismus im Postulat des „autonomen Feminismus“ zur inneren Auflösung der feministischen Emanzipation geführt, mindestens gewichtig dazu beigetragen hat. Wir erkennen also, dass die Wahrnehmung und die Orientierung an einen vermeintlichen Bestand, an etwas, was mit sich selbst gleich oder weitgehend gleich ist, so einfach nicht ist; im Gegenteil. Alles, was nicht gleich ist und dies auch aus sich selbst heraus wie eine persönliche oder eine kulturelle Identität ist, umso bedrohter erscheint, als der innere Druck, die Selbsterhaltung zunimmt. Halten wir fest, die kulturelle wie die persönliche Identität in einer Kultur sind nicht zu halten, ohne inneren Separatismus, das ist das Identitätsparadox. Dieses Paradox zeigt an, dass eine kulturelle Wahrnehmung einer Realität insofern eine paradoxe Wahrnehmung ist, als diese eben das ausschließt, was sie bewahren wollte, nämlich die Gemeinsamkeit der Herkunft einer Gruppe oder kulturellen Einheit. Diese Einheit gibt es also nur und ist auch als solche als beständig wahrnehmbar, wenn die Wahrnehmung sich selbst nicht mit ihrem „heteron“, ihrem Anderen konfrontiert. Also, was ist nun mit diesem Anderen der Identität, existiert dies nicht?

Kommen wir zu einem vorläufig letzten Kriterium für unsere Desillusionierung der Wirklichkeit. Soeben haben wir gesehen, dass Identität eine Illusion ist, eine, deren Charakter keine „Spinnerei“, sondern eine knallharte Ontologie ist mit zahllosen Opfern von Gewalt, körperlicher wie seelischer Art. Gewalt, so sie nicht einfach krimineller Natur ist, sondern auftritt als legitime Form der Separation, also als emanzipatorisches, kulturelles oder politisches Postulat, rechtfertigt sich stets in einer ontologischen Form, also einer Aussage, die Wahrheit an-und-für-sich beansprucht. Das Postulat ist an-sich begründet in einer Form der Herkunft, mithin also in Form einer historisch-linearen Argumentation. Die Aussage: „Ich bin ein Berliner“ von John F. Kennedy an der Berliner Mauer ist keine Aussage dieser Art wie man auch selten Aussagen findet wie etwa „Ich bin New Yorker“ oder „ich bin ein Pariser“, die auf eine Herkunft bzw. Abstammung rekurrieren. Die „zweite Heimat“ ist nicht die erste Heimat und ist mittlerweile in Europa, Latein- und Nordamerika nicht die einzige, die wahre Heimat.

Die Aussage, das ist meine, unsere kulturelle Heimat, belegt die Wahrheit dieser Aussage mit seiner Herkunft und zugleich mit einer historischen Identität, mit seiner Zugehörigkeit zu einer Kultur, die linear sein kann, als Menschen den Ort oder das kulturelle Zentrum ihres Lebens nie verlassen haben, aber auch nicht linear, insofern sie einmal ausgewandert sind, sich selber aber noch zugehörig fühlen bzw. an kulturellen Festtagen ihre Heimat besuchen. Die persönliche Identität im Sinne einer kulturellen Zugehörigkeit gründet somit in der Legitimität der Aussage, die eine Wirklichkeit beweist, nämlich die Kontinuität der Zugehörigkeit. Kontinuität muss nicht in Form einer Präsenz legitimiert sein, sie kann auch nicht linear im Dasein, aber linear im Bewusstsein als kulturelle Überzeugung und Haltung begründet sein. Zugehörigkeit aber existiert nicht, ohne dass eine Nicht-Zugehörigkeit ausgesagt werden kann, also eine kulturelle Nicht-Identität, ohne deren Unterscheidung auch eine kulturelle wie eine persönliche Identität nicht legitimiert sein kann. Wir erkennen bereist bis hierhin die wesentlichen Elemente einer kulturellen und einer, auf einer kulturellen Identität basierenden personalen Identität, die sind eine Übereinstimmung zwischen einer linearen historischen und einer ontologischen Legitimität.
Betrachten wir die historische Legitimität, dann wird hier mit der Abstammung argumentiert, gleichsam ontisch beweisbar in Kirchenregistern und anderen Abstammungsurkunden. Betrachten wir die ontologische Legitimität, dann besteht diese aus einem kulturellen Bewusstsein, einer Haltung und einem Verhalten, welches von der Gemeinschaft anerkannt wird, selbst wenn der Einzelne lange Zeit außerhalb der kulturellen Gemeinschaft schon lebt; die Rückkehr des „verlorenen Sohns“ ist also abhängig von der kulturellen Familie, die seine Zugehörigkeit anerkennt und bestätigt. Wir erkennen in dieser Denkfigur den alten, antiken Wahrheitsbegriff, der als Übereinstimmung hier formal legitimierenden also ontologischen Charakter und zugleich einen ontischen, einen historischen Charakter hat, die beide zusammen die Synthese bilden in der Übereinstimmung einer Aussage wie „ich bin ein Sarde“ mit der kulturellen Anerkennung einer Gemeinschaft. Es reicht also nicht, in einer Kultur geboren zu sein oder von Eltern dieser Gemeinschaft abzustammen, sondern die „veritas est adaequatio rei et intellectus“ ist ganz erheblich davon abhängig, dass meine kulturelle Identität auch der der Gemeinschaft entspricht.

Wir sehen einen sachlichen und einen ideologischen Sachverhalt, einen Begründungszusammenhang, der sich aus beiden bildet. So kann ein Nicht-Sarde nie ein Sarde im Sinne der kulturellen Zugehörigkeit werden, sondern zu einem Freund der sardischen Kultur erklärt werden, wie auch ein Sarde zu einem Feind der sardischen Kultur oder einfach als nicht mehr dazugehörend erklärt werden kann, nicht aber zu einem Nicht-Sarden; und dabei geht es also nicht um eine Staatsangehörigkeit, die man ja nicht so ohne Weiteres verlieren kann. Diese Denkfigur, dass Wahrheit eine Form der Übereinstimmung ist, wenn urteilender Verstand und die zu beurteilende Sache übereinstimmen, haben wir soeben am Beispiel der kulturellen und persönlichen Identität ein wenig erschüttert, geht doch dieser Wahrheitsbegriff, der wohl von Avicenna aus dem arabischen Raum in den europäischen Raum über die Renaissance des aristotelischen Wahrheitsbegriffs durch Thomas von Aquin tradiert wurde, eben davon aus, dass eine Aussage, die ein Verstand oder Geist formuliert, übereinstimmt mit einer Wirklichkeit. „Ein Satz ist wahr, wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt“, so hat wahrscheinlich Avicenna geschrieben und damit eine Diskussion entfacht, die bis heute anhält. Die Aussage: Ich bin ein Berliner haben wir bereits notiert und die veritas est adaequatio rei et intellectus als die Grundbestimmung des Wahrheitsbegriffs gleich mit widerlegt. Zuviel in der Formel der Identität ist an Heterogenität enthalten, nicht sichtbar in der Aussage, aber sichtbar in der Wirklichkeit und daher auch unsichtbar in der Wahrheit als Form der Übereinstimmung. Es stimmt halt meistens mehr nicht überein, und wenn Wahrheit eine Form der Beziehung zwischen einer Aussage und deren Wirklichkeit ist, deren Wirklichkeit aber in der Sache mit der Aussage nicht übereinstimmen kann, was ist dann Wahrheit, was Identität?
Wir haben am Beispiel Sardiniens gesehen, dass die kulturellen Bestimmungen der Abstammung allesamt recht löchrig werden können in der Vita eines Sarden und allein die lebenden Sarden selbst sagen am Ende aus, ob man noch zu einer kulturellen Gemeinschaft gehört oder nicht, gleichwohl Nationalität und Abstammung natürlich bestehen bleiben. Das Dilemma mit der Identität ist auch das mit dem Wahrheitsbegriff antiker, griechischer Herkunft, dass nämlich etwas in eine Beziehung als übereinstimmend gesetzt wird, was einer ganzen Reihe von Veränderungen unterliegen kann und so auch die Grundlagen von Identität und Wahrheit verändert. Bleiben wir weiter an der Sache und untersuchen nur diese eine Weise der Übereinstimmung, die Gleichheiten und Ähnlichkeiten in Beziehung bringt. Gleichheiten und Ähnlichkeiten liegen uns vor als Kategorien, wie sie Aristoteles aufgeschrieben hat. Und nur in unserer Übereinkunft können wir sagen: wir sind alle Menschen. Diese Aussage aber ist schwer zu beweisen, wer kennt bzw. sieht schon alle Menschen?

Die Übereinstimmung und damit die Wahrheit allein schon dieses einen Satzes – wir haben darüber bereits ausführlich gehandelt im sogenannten „Universalienstreit“ (Band I. Kap. 4) – setzt voraus, dass wir uns einig sind darüber, dass es Begriffe vom Menschen außerhalb unseres Bewusstseins gibt. Wir sagen also Menschheit und behaupten ohne irgendeine empirisch-sinnliche Evidenz, dass es außerhalb unseres Bewusstseins Menschen gibt, dass dort draußen Menschen existieren, die wir wahrscheinlich, nein, ganz sicher, nie sehen geschweige denn kennenlernen werden. Es gibt sie also ohne mich und sie sind, was sie sind, und machen, was sie wollen, haben also ein eigenes Sein und brauchen mich für-sich nicht. Die Übereinkunft ist so in diesem Falle eine Tatsache, die uns ermöglicht, Philosophie und Wissenschaft zu betreiben, uns über die Menschen Gedanken zu machen wie über Dinge, die da sind wie die Wüste Gobi, die aber auch kaum jemand von uns selbst einmal gesehen, geschweige denn durchquert hat.
Diese tatsachen-adäquate Übereinkunft nennt man heute ontologischer Realismus, der uns also möglich macht, über das Seiende nachzudenken, also über alles, was ist, selbst wenn es nur ausgesagt ist wie die Wüste Gobi. Und der ontologische Realismus ist wohl die größte Erfindung der Menschheit, die uns erlaubt, nicht ständig Eisenbahnen bzw. Dampfmaschinen, Telefone oder die Seefahrt neu erfinden zu müssen, so wir eine Konstruktionszeichnung oder eine Seekarte vorfinden. Dass diese Erfindung des otologischen Realismus nicht nur eine Aufzeichnung, sondern eine Übereinkunft ist, zeigt sich daran, dass wir wissen, dass zu einem analogen Telefon z.B. eine spezielle Infrastruktur gehört, ohne die man zwar ein Telefon bauen, aber noch lange nicht damit telefonieren kann. Wir wissen, wenn wir mit einem Schiff durch die Ägäis fahren, dass das nicht dasselbe ist wie das, was die Argonauten damals auf See gesehen und erlebt haben, und für eine Eisenbahn braucht es auch Schienen, die vielleicht in der Zukunft alle verschwunden und durch Magnetschienen ersetzt sein werden. Das, was wir also aus der Geschichte übernehmen ist nicht dasselbe, nicht einmal ähnlich mit dem, was es einmal war und nicht besser sieht es im sogenannten Hier und Jetzt aus; davon gleich mehr im 7. Kapitel.