Einleitung

Der Band VII. unserer Philosophie des menschlichen Daseins beschäftigt sich mit dem, was möglich ist. Haben wir uns im Band VI. noch damit beschäftigt, was möglich ist und was dem Möglichen so sehr entgegensteht, dass dies nicht zur Entfaltung kommt, so steht nun im Zentrum der Betrachtung das, was möglich ist, selbst, indem es sich aufdrängt, fast schon unausweichlich geworden ist. Natürlich ist mit jeder Veränderung auf eine Möglichkeit hin auch verbunden eine Veränderung der bestehenden Sichtweisen und die betrachten wir natürlich mit. Wenn wir von einer Reform der Demokratie sprechen, dann analysieren wir also nicht nur die Schwachstellen, die wir im System der Repräsentativen Demokratie ausgemacht haben, sondern deren komplementäre Faktoren (Band I. Kap. 1: Der Begriff der Komplementarität[1]), die Strukturen von Urteilen und Fehlurteilen in kulturellen, politischen und juristischen Hinsichten. Wir beschäftigen uns mit den Folgen der Repräsentativen Demokratie, einmal mit der Frage, ob die demokratischen Verfahren von Wahlen, Abstimmungen, Befragungen und medialer Diskurse noch ihren Zweck erfüllen, dass in politischen Urteilen (Mehrheitsurteilen) sich auch die politische Willensbildung repräsentiert.

Urteil und Wille, stehen sie wirklich in einem relationalen Verhältnis zueinander, oder entwickeln sich beide zueinander wie Paralleluniversen? Dieser Band VII. wurde in Zeiten der Corona-Pandemie geschrieben und wenn es markante Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser Zeit gibt, dann dass politische Urteile und politischer Wille auseinanderstreben, sich so sehr voneinander entfernen können, dass eine nachvollziehbare Beziehung zwischen beiden schwer bis unmöglich ausfällt. Im Verhalten von Politik konnten wir über einen langen Zeitraum kaum logisch nachvollziehbare Entscheidungen und Handlungen erkennen, zu verstehen gab es dabei auch recht wenig, einzig, dass mit anstehenden Wahlen eine politische Zweckrationalität dominierte und alles andere im Stauraum des aktuellen Geschehens ablegte.

Der war mit der Zeit zum Platzen vollgestellt und immer noch quellen die politischen Unterlassenschaften vieler Jahre hervor. Deutschland hat keine digitale Nachverfolgung der Inzidenzen, obwohl deutsche Software in einigen afrikanischen Ländern diesbezüglich gute Dienste leistet. Deutschland hat extremen Mangel bei der Beurteilung, was Freiheit ist; eine kulturelle Schande für den Umgang mit der deutschen Aufklärung, mit Kant und Hegel, mit Leibniz, Fichte und Schelling, mit Erasmus von Rotterdam und Luther, um nur einige zu nennen. Immanuel Kants berühmte Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Dezember 1784) zeigte doch einen Ausweg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch die Fähigkeit des Menschen, sich Klarheit über einen Sachverhalt zu verschaffen, aus der dann die Entwicklung einer mündigen Persönlichkeit sich zu entfalten vermag, die das Wagnis, klug oder gar weise zu sein, einzugehen und über die Lebenszeit hinweg zu bestehen vermochte.

‚Sapere aude‘, was ist daraus geworden?  Wie sollen Wille und Urteil zusammengehen, wenn das Urteilsvermögen bei jedem Einzelnen aus den Fugen gerät, wenn Urteils- und Willensbildung auf einer Tour der Unvernunft unterwegs sind? Verschwörungstheorien haben Konjunktur, Shitstorm ist das neue Wort für Kommunikation mit Ansichten von Clowns, die es bis zu Regierungschefs bringen; und Fake News suggerieren, es gäbe noch eine Mehrzahl an Informationen mit klarem Sachverhalt.

So kommen wir nicht umhin, uns mit Urteilen und mit dem Willen und deren Zusammenhängen zu beschäftigen. Was bedingt unsere Urteile, was bedingt unsere politischen Entscheidungen und auch unsere politischen Willensbekundungen? Aber wir bleiben nicht bei den Fragen stehen, sondern versuchen uns in jedem Kapitel dieses Bandes um Lösungsansätze. Wir erarbeiten einen erweiterten Begriff der Repräsentation und dehnen diesen so weit wie es geht aus. Uns reicht es nicht, uns in politischen Urteilen repräsentiert zu wissen, zumal wir immer weiter weg uns entfernen von einem repräsentativen Mehrheitsprinzip. Und weil wir heute über eine ganze Reihe von Möglichkeiten verfügen, die unseren politischen Willen besser und differenzierter repräsentieren können, als bislang. Aber nicht nur dem politischen Willen im engeren Sinne wie bei Wahlen und Abstimmungen gilt unser Augenmerk. Auch unsere Wirklichkeit soll hinterfragt werden, was sie repräsentiert. Was repräsentiert unser Rentensystem, was unser Gesundheitswesen, was unser Wohnungsmarkt und können wir in den dortigen Entwicklungen wirklich die Umsetzung der Bedürfnisse der meisten Menschen in unserer Gesellschaft verwirklicht sehen?

Wenn es nun nicht so ist, dass sich unser Dasein entlang unserer Bedürfnisse und Interessen entwickelt, jedenfalls der Bedürfnissen und Interessen der meisten von uns, was bleiben dann für Möglichkeiten? Wir sehen eine Antwort auf diese Frage in Verfahren der Direkten Demokratie und verbinden diese Verfahren mit unseren ökonomischen, sozialen und moralischen Wirklichkeiten. Es mag für viele von uns so scheinen, als lebten wir in einer Welt, die uns ermöglicht, viele Bedürfnisse mehr als noch vor wenigen Jahren zu befriedigen, und nicht nur das, sondern dazu noch auf recht komfortable Art und Weise. Wir shoppen vom Bett aus, kommunizieren mit der Welt und in verschiedenen Gruppen, haben ganze Stadtbibliotheken auf unseren Festplatten oder Zugang zu weltweiten Informationen und Services über Clouds, alles, nur für uns. Wir teilen zwar die Links und Likes, aber ist eine Gruppe oder gar eine Gesellschaft, die Informationen und Wissen untereinander teilt, die ausgiebig kommuniziert und global kooperiert deshalb schon eine soziale, eine solidarische Gesellschaft?

Wir können bestimmte Themen nicht mehr diskret behandeln oder gar weit von uns weisen oder an die nächste Generation übergeben. Beim Thema Umwelt- und Naturschutz, beim Thema Schulden bzw. Staatsverschuldung gelingt die Staffelübergabe nicht mehr, die Jugend läuft nicht mehr mit. Also weichen wir der Frage nicht aus, was wir tun können, ja tun müssen, um selbst bei solchen Themen voranzukommen, ganz beheben, was unsere Generation versaut hat, können wir nicht mehr. Was wir in der Zukunft tun können, was auch möglich ist, ist mehr direktdemokratische Verfahren nutzen, um die Politik zu schnelleren Entscheidungen zu motivieren, dazu machen wir eine Reihe von Vorschlägen, die nicht ideologisch, sondern technischer Art sind. Dazu nutzen wir moderne Technologien zur Vorbereitung parlamentarischer Verfahren. Warum?

Weil die Themen, die unsere Gesellschaft beschäftigen, immer zahlreicher werden und Politik, wie in den letzten beiden Jahrzehnten ganz besonders ernüchternd erfahren werden musste, drängende Themen einfach liegen gelassen, auf die lange Bank geschoben hat, oder wie die Kanzlerin der vertagten Lösungen gerne ausdrückte: wir müssen Zeit kaufen. Die Arbeitsverweigerung der ehemaligen Regierungen, aus welchen Gründen auch immer, aus Gründen anstehender Wahlen oder Rücksichtnahmen diverser Interessengruppen usw. kommen allen, aber vor allen der nächsten Generation unrechtmäßig teuer zu stehen; das hat sogar das oberste Gericht Deutschlands so festgehalten[2]. Deutschland hat in vielerlei Hinsicht sein Tafelsilber verscherbelt. Die Infrastruktur hat den maroden Grad manches Schwellenlandes erreicht, bei der Versorgung mit 5G im Kommunikationsnetz ist Deutschland bereits zum Entwicklungsland geworden. Energieunabhängigkeit und Transformation von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern ist in weite Ferne gerückt, auch wenn nun ambitionierter regiert wird. Was das in Preisen und politischer Gestaltungsfähigkeit bedeutet, sehen wir heute im Februar 2022 in Europa. Seit dem 24.02.2022 ist wieder Krieg auf dem alten Kontinent; davon handelt unser Schlusskapitel dieses Bandes.

Spricht man über das, was möglich ist, sollte es gute Sitte sein, auch einige Gedanken daran zu verschwenden, wie das, was man da für möglich hält, auch finanziert werden könnte oder sollte. Es war uns über alle sieben Bände hinweg ein wichtiges Anliegen, über Geld zu sprechen. Wie wir es verdienen, wofür wir es einsetzen, welchen Einfluss Geld auf unser Dasein hat und wir haben dabei gesehen, so einfach sind solche Themen nicht, schon gar nicht in nonchalanter Art abzufertigen, wie dies in der zeitgenössischen Philosophie und in Teilen der Politik üblich geworden ist. Wir zählen bereitwillig vorhandenes Geld und fragen uns, ob und wie man das Geld besser verwenden könnte. Dabei werden wir feststellen, dass auch die alten Unterscheidungen von Geld und Kapital so richtig nicht mehr sind, schon gar nicht wirklich brauchbar für die neuen Anforderungen, gesellschaftliche und von Menschen gemachte „natürliche“ Probleme zu bewältigen. Auch darin sehen wir eine Form der intellektuellen Arbeitsverweigerung, wie schnell und behend Politik vorangeht mit einem Katalog neu erfundener ethischer Grundsätze, als wäre der gleichzusetzen mit der Bibel moderner Politik; honi soit qui mal y pense!

Themen von Relevanz werden zahlreicher, ihre Lösungen teurer. Da hilft keine Ethik-Kommission, dieses scheinheilige Aperçu politischer Dekadenz, kein Feierabendgespräch oder dessen Kaminvariante, wenn es um die Sozialsysteme einer Gesellschaft geht und um eine Art zu wirtschaften, die am Ende die Spaltung zwischen Arm und Reich in Konfliktbereiche treibt, die keine Gesellschaft sich heute mehr leisten kann. Wir scheuen uns nicht, das Revolution zu nennen, wenn es um eine Um- und Neuorientierung in der Wirtschaft und im bürgerlichen Bewusstsein geht, weg von der Liberalen Doktrin in der Ökonomie und weg vom alles überbordenden Subjektivismus, von der personalen Ich-Identität. Wir stellen also nicht nur Fragen in die Formen der kollektiven Finanzierung der Sozialsysteme, ob diese ihre Funktion noch erfüllen, erfüllen können in der Zukunft. Wir stellen Fragen in die Finanzierungssysteme für den Natur- und Umweltschutz und ob diese privatwirtschaftlichen Ansätze den einzigen Sinn machen müssen, und ob nicht andere Formen der Finanzallokation und -Konstruktion weit mehr Erfolg versprechen und zudem weitere Teil der Solidargemeinschaft und der Zivilgesellschaft einbeziehen können.

Das mag illusionistisch erscheinen, ist es auch. Aber was wären wir, ohne unsere Vorstellungskraft? Wir jedenfalls wollen lieber illusionistisch sein als moralisch, eine Einstellung und Umgangsart zwischen Menschen, die zur Zeit enorm zunimmt. Was in der Politik den Dispens des Denkens durch ethische Grundsätze  ausmacht, spiegelt sich proportional in der Zunahme moralischer Urteile in der Zivilgesellschaft. Es gibt fast schon eine Faustformel ab, in Krisen schürfen Politik und Bürgerin und Bürger ihr Bewusstsein aus Ethik und Moral. Ist die Welt ja schon komplex genug, dass in Friedens- und Hochkonjunkturzeiten die Antworten auf Fragen, die sich in der Politik, in der Wirtschaft und in der Kultur stellen, sich so viel Zeit lassen, dass die Umstände sich schneller den Fragen entziehen, als diese Antworten zugeführt werden können, so gilt dies mehr noch unter den Tempomachern moderner Krisen. Dann spricht man schnell Unsinn, vom Verfall der Werte, vom traurigen Ende von Sitte und Moral und anderen lausigen Seinsauslegungen, die eine nie gekannte Anzahl an Veröffentlichungen hervorbringt. Die Virologen haben noch nicht ansatzweise die Corona-Pandemie verstanden, gibt es schon Dutzende von Büchern zum Umgang mit der Pandemie, gibt es Demonstrationen allen Ortes und aller geistiger Kolorationen, selbst US-Präsidenten gerieren sich als medizinisches Fachpersonal und antivirale Heilsbringer und schlagen vor, Reinigungsmittel in den Blutkreislauf zu spritzen, denn, was Haushaltsbakterien besiegt, macht wohl auch mit Viren im Körper kurzen Prozess.

Es scheint ein wenig so zu sein, als ob eine immer differenzierter werdende Welt das Bewusstsein der Menschen nicht unbeschadet lässt und dabei die Frage auftaucht, was an der Welt und am Bewusstsein der Menschen überhaupt noch brauchbar zusammengeht? Und der Prozess der Differenzierung nimmt eher Fahrt auf, als dass er sich verlangsamt. Hinzu kommt noch, dass diese Differenzierungen stattfinden in Zeiten großer Transformationen, was die Sache noch zusätzlich erschwert. Das politische System ändert sich, das demokratische Mehrheitsprinzip ist mittlerweile so sehr ausdifferenziert, dass eine Repräsentation des Volkswillens in den politischen Institutionen kaum mehr kenntlich erscheint. Die politische Ökonomie ist zu einer Politischen Ökonomie geworden und kaum mehr ist noch auseinanderzuhalten, was ist noch Marktwirtschaft, was eine moderne Form von Staatswirtschaft, was noch eine Lobby und was nicht bereits eine durch ökonomische Interessen gesteuerte Politik. Märkte verändern sich stark, aber das taten sie auch in der Vergangenheit, nur nicht so rasant schnell. Aber unter dem Einfluss von immer mehr Finanzkapital und zudem von neuen Technologien wie der Blockchain, die weit über das hinausgeht, was bislang noch mit dem Begriff Digitalisierung zusammenging, transformiert sich weit mehr als unser traditionelles Finanzsystem, in dem Banken die zentrale Rolle spielten.

Heute könnten wir auf Banken verzichten und dieser Verzicht konnotierte nicht wie üblich mit Einschränkungen; im Gegenteil. Neue Geldformen, neue Finanzdienstleistungen, neue Währungen ermöglichen auch einen neuen Umgang mit Geld und Kapital. Europa muss keine neofeudale Marktwirtschaft akzeptieren oder einer solchen gar folgen. Eine neosoziale Geldwirtschaft – um bei diesem etwas unglücklichen Ausdruck zu bleiben – eine viel mehr kooperative Kapitalwirtschaft können die Bekämpfung sozialer Ungleichheit zu einer wertschöpfenden Wirtschaftskraft werden lassen; denken wir solchen Ideen einmal nach. Wertschöpfung, nicht Umverteilung muss unsere Orientierung und unser Maßstab sein. Das haben wir in verschiedenen Zusammenhängen betrachtet und, es funktioniert. Besser noch in einer großen Wirtschaftsunion wie der EU, wenn denn dort Politikerinnen und Politiker Entscheidungen träfen, die auf Kenntnisse neuer Möglichkeiten durch die transformatorischen Veränderungen auf den Märkten, den Finanzmärkten wie den Erzeuger- und Konsummärkten, basierten. Wir können uns leider nicht des Gedankens erwehren, dass gerade in Hinblick auf die neuen, digitalen Technologien die Kenntnisse in Europa und in Deutschland besonders gering ausgeprägt waren und nur mühsam der Rückstand aufzuholen ist.

Immerhin, man liest mit Freude, dass Deutschland gerade bei den Digital Ledger Technologien (Band V. Kap.2) eher einen vorderen Platz im internationalen Vergleich einnimmt. In diesem Zusammenhang aber müssen wir auch feststellen, dass die für die Umsetzung solcher neuen Technologien gebotene Rechtssicherheit nicht gegeben ist. Hier werden wir emotional, wenn wir feststellen, dass die Jurisprudenz  im Wissen wie in dessen Anwendung bei der Gesetzesausgestaltung hoffnungslos überfordert zu sein scheint. Welche Dimensionen die neuen Technologien in der juristischen Ausgestaltung der gesetzgeberischen Beschlüsse annimmt, scheint deshalb so schwierig zu handhaben zu sein, weil wenig Kenntnis vorhanden ist, wie die neuen Technologien funktionieren. Aber damit eine technologische Transformation gelingen kann, wäre mehr als Unwissen darüber von enormem Vorteil für das ganze Land; mit altem Wissen an neue Möglichkeiten heranzutreten, ist wenig hilfreich. So mag im Grundsatz die DGSVO zwar richtig sein, aber selbst nach dieser langen Zeit ihrer Ausgestaltung ist doch nur ein unpraktikables Machwerk herausgekommen, das zudem den kulturellen Entwicklungsprozess derart monetarisiert, dass wir fürchten, dass kulturelle Prozesse demnächst nur noch von reichen Ideologiekonzernen betrieben werden können.

Was wir nicht brauchen ist ein Mehr an Privatisierung, eine bis ins kleinste Detail privatrechtlich organisierte Kultur. Wir werden sehen, dass so im kulturellen Bereich, vor allem in den öffentlichen Diskursen, in der Wissenschaft, bei den unabhängigen, privaten Medien bzw. der privaten Kommunikation Parallelwelten entstehen wie auf den Finanzmärkten die ungeregelten, grauen Märkte, und wir scheuen uns nicht davor, die Schattenhaushalte der Regierungen hier mit hineinzunehmen. Am Gartentörchen stehen die Anwälte, Richter und Gerichte und bringen ein Schild nach dem anderen an: Betreten verboten, Parken nicht erlaubt, lautes Sprechen nach 22.00h nicht erlaubt, Werbung unerwünscht usw. und im Keller oder Gartenhaus filmen die Nachbarn die Vergewaltigung von Kindern und stellen diese ins Darknet. Und der Rechtsstaat muss tatenlos zusehen oder die Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger verraten und Staatstrojaner erlaubt werden; well done, Adam. Zu langsam, zu uninformiert, zu uninspiriert. Dazu ineffektiv, teuer und mit den Ressourcen am falschen Ort; das würde allemal ausreichen, um einen Mitarbeiter zu entlassen oder einen ganzen Konzern aufzugeben; den Juristen geht es gut. Damit kein falscher Eindruck entsteht, wir führen nicht das Wort gegen den Rechtsstaat wie wir auch nicht gegen demokratische Institutionen sind, aber mehr als Standesdünkel und Besitzstandswahrung darf man doch auch von denen erwarten, unter deren Talaren sich wieder der Mief von vielen Jahren unterlassener Selbsthygiene ausbreitet.

Es ist schön, vom Wertewandel zu schwadronieren, wenn man in die Sache wenig Zeit und Mühen investieren will oder kann. Es ist leicht zu reden vom Untergang der Demokratien und wenige Worte gegen die zu erheben, die den Untergang der Demokratien betreiben. Wir haben uns bereits wieder an die Straßenaufmärsche, auf Fackelzüge und Versammlungen vor den Häusern von Politikerinnen und Politiker gewöhnt. Und alles dies geschieht unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung und ähnlichem juristischen Gequatsche; ein wenig mehr politisches Bewusstsein wäre schon wünschenswert und ein Ausweg ist das nicht, wenn der einzige Weg über den Verfassungsschutz führt. Der Wertewandel heute ist leider kein Wandel mehr in bildungsbürgerlichen Paradigmen, er spielt in der Liga der Mächtigen. Und mit Mächtigen meinen wir jene, denen diese Bestimmung heute zukommt, das sind die neuen Patriarchen in den USA, in der VRC und in Russland. Wohin der sogenannte Wertewandel wirklich führt, sehen wir ja gerade in der Ukraine und in Russland. Und der ewig grinsende Xi steht schon Gewehr bei Fuß mit Blick nach Taiwan. Aber der Aufmarsch hat bereits begonnen.

Das Aufmarschgebiet sind Spratly und Paracel, chinesisch „Nansha“ und „Xisha“. Die Paracel-Inseln sind eine Gruppe kleiner Korallenatolle, rund 330 km südöstlich der Insel Hainan im Südchinesischen Meer und werden in Gänze von zwei Nationen als ihr Territorium beansprucht: Volksrepublik China und Vietnam. Spratly und Paracel – die Namen dieser beiden Inselgruppen aber stehen nicht nur für den Konflikt um reiche Fischgründe, sowie große Öl- und Gasreserven. Sie stehen für die Kontrolle einer der bedeutendsten Schifffahrtsrouten der Welt, und damit über die Kontrolle von globalen Handelsbeziehungen von Billionen von US-Dollar, mithin über den Wohlstand vieler Nationen. Ein Drittel des Welthandels wird über das Südchinesische Meer abgewickelt – der Streit berührt also auch Europa ganz erheblich.

Funkspruch eines chinesischen Zerstörers vor den Paracel-Inseln: „Philippinisches Flugzeug, dies ist die letzte Warnung! Entfernen Sie sich, oder Sie tragen Verantwortung für die Konsequenzen.“ Solche Drohungen sind Alltag im Seegebiet zwischen dem Golf von Thailand im Südwesten und dem Golf von Tonking im Nordwesten. Nirgendwo auf der Welt konzentriert sich so viel militärische Feuerkraft: Chinesische Kriegsschiffe, amerikanische Flugzeugträger, philippinische Zerstörer, vietnamesische Fregatten, ungezählte Kampfjets – dazu hunderte Fischerboote, die sich ihr Recht auf einen guten Fang ertrotzen wollen.

Chinas Führung hat nach geltendem Recht „keine rechtliche Grundlage für ihre Gebiets-Ansprüche. Sie hat sich stattdessen entschieden für einen ziemlich dubiosen juristischen Ansatz, um diese Ansprüche zu rechtfertigen“, so Adam Ni vom Thinktank China Policy Center in Canberra. Ein symbolisch wichtiger Schritt war Mitte April die Schaffung von zwei neuen Verwaltungsbezirken im Südchinesischen Meer. Damit wollten die chinesischen Behörden verdeutlichen: Es handelt sich bei den Inseln im Südchinesischen Meer nicht einfach nur um besetzte Inseln, wie die Anrainerstaaten sagen, sondern um chinesisches Kern-Territorium; wer erinnert nun nicht die jüngsten Ereignisse in der Ukraine in allen ihren bisweilen grotesken Narrativen?[3]

Fast zwei Jahre her, aber stets aktuell, die Narrative der patriarchalen Macht[4]. Dieser bedingungslose Wille zur Macht, grundlos, unbegrenzt, ein alles umfassender Nihilismus, lässt sich nicht mit Werten bekämpfen. Denn nur er bestimmt, was Wert ist und dabei geht er bis zum äußersten; der nächste kriegerische Konflikt hat also bereits begonnen und wird wohl seinen Anfang im Südchinesischen Meer finden. Und in wessen Kopf er gedeiht, in welchen Köpfen er seine ‚Resonanzräume‘ findet, dürfte auch jedem bekannt sein. Wir kommen also nicht umhin, uns auch in diesem Band mit der Macht zu beschäftigen, nun als ultimative Erscheinungsform im modernen Patriarchat. Denn so fürchterlich es auch ist, man sieht, sie entscheidet über Krieg oder Frieden, sie macht den Krieg und auch den Dritten Weltkrieg bzw. Atomkrieg möglich. Sie ist damit eine sehr konkrete Möglichkeit im Dasein aller Menschen und deshalb gehört sie in diesen Band. Was möglich ist, ist leider nicht immer konnotiert mit einer positiven Möglichkeit und so hat sich die Möglichkeit eines Krieges in Europa in diesen Band gedrängt. Das Kapitel über die neuen Patriarchen in diesem Band war bereits längst abgeschlossen, als die Bomben von Putin auf die Ukraine flogen. Unserer Ausführungen zur Macht ist nichts hinzuzufügen, außer, dass sie in ihrer ultimativen Ratio, dem Krieg, jederzeit sich realisieren kann.

Patriarchale Macht und ihre semantischen Derivate wie Autokratie, Tyrannei, Führerprinzip etc. ist natürlich nie wertegetriebene Politik. Uns muss natürlich sofort interessieren, ob politische Macht in Demokratien diese wertebasierte Entscheidungsfindung trägt, oder eher nicht? Sind Demokratie, Freiheit, Recht und Solidarität wirklich jene Werte-Basen, auf deren Grundlage Politik ihr „Geschäft“ betreibt, oder ist Politik nicht doch zu einem großen Anteil „selbstmotiviert“, also ein an der eigenen Macht bzw. am Machterhalt orientiertes Verhalten?[5]  Politische Karrieren sind nicht selten fast schon strategisch geplante Verhaltensweisen zum Aufbau von Strukturen, die, demokratisch betrachtet, im kleinen wie im entwickelten Stil eher korrupt sind, und ein Netzwerk bilden, welches nach der Übernahme eines politischen Mandats dessen Erhaltung sicherstellt; wir denken in diesem Zusammenhang nicht an Altkanzler Schröer, sondern genereller. Auch die demokratische Macht fürchtet nichts mehr als ihre Abwahl, ihren Sturz durch Parteifreunde, was nicht selten große Ähnlichkeiten mit einem Putsch zeigt. Sich dagegen zu immunisieren ist eines, wenn nicht das probate Mittel. Resilienz heißt heute das schöne neue Wort für ein Verhaltens- und Bewusstseinstraining, welches die Person davor schützen soll, jederzeit und nachhaltig kampfesbereit zu sein, um politische Attacken wie Bakterien und Viren abzuwehren. Immun vor Widerspruch von außen und innerer Selbstkritik kann da schon viel bewirken.

Um bei dem Bild und in der Terminologie zu bleiben: schlimm und gefährlich ist ein Zustand, den man gemeinhin mit Immunsuppression beschreibt. Wenn noch keine Resilienz sich aufgebaut hat, die alten Abwehrkräfte und Medikamente nicht mehr oder nur  mäßig Linderung schaffen, dann wird es schwierig, wechseln die Ansichten und Einstellungen sogar zu lange Bewährtem und hektische Nervosität, bisweilen sogar hysterische Zustände erzwingen schnell wechselnde Entscheidungen, wie man heute in Fragen der Energiepolitik, der Mobilität und vor allem beim globalen Handel feststellen muss. Die Transformation zu den Erneuerbaren Energien[6] zeigt heute, dass der Wandel weder vernünftig noch in wirtschaftlicher Hinsicht gut vorbereitet und eingeleitet war. Beim Wandel von fossilen auf Erneuerbare Energie im gesamten Bereich der Mobilität fallen Alleingänge, blanke Unvernunft und eine eigenartige Sorglosigkeit auf, die schon verwundert, fragt man nach den vielen beratenden Experten, warum sie sich in so zurückhaltender Vorsicht über Jahre hinweg dieses Thema auf Distanz gehalten haben. Es wird enorm spannend zu sehen, bis wann und wie eine flächendeckende Infrastruktur erzeugter, echter grüner Energie bis an die Fahrzeuge, in die Industrie und in die Haushalte kommt.

Was also tun im globalen Desaster des Klimawandels? Was tun im globalen Handel mit weltbeherrschenden Patriarchaten; was, wenn donald t. wiederkehrt wie Nosferatu allnächtlich? Die Symbole des Grauens sind von den Leinwänden in die Regierungsbänke der Parlamente und Präsidien gezogen und haben dort Platz genommen. Und das Publikum ist Kino und darf noch applaudieren, aber auch das ist verzichtbar. Weder den Klimawandel noch die Globalisierung können wir zurückdrehen. Aber haben wir wirklich alle unsere Möglichkeiten bereits ausgereizt? Wir wissen es nicht, aber was wir wissen ist, dass, wenn nur eine Möglichkeit noch offensteht und alles andere keinen Weg ins Offene weist, dann muss sie ergriffen werden, dann geht buchstäblich kein Weg daran vorbei. Wir sehen noch eine Brücke über tiefes, schnell fließendes Wasser. Sie ist weder die Ponte Vecchia, noch die Brooklyn Bride, obwohl wir über die letztere durchaus dorthin gelangen, wo etwas trockenes Ufer noch ist. Die südlich in Manhattan gelegene Wall Street verfügt über genügend Ressourcen, um den Klimawandel weltweit aufzuhalten, jedenfalls, was in menschlichem Ermessen noch liegt. Aber uns geht es nicht nur um Fragen der Finanzierung, uns geht es auch um die Ursachen der großen Probleme der Menschheit, wobei wir hier anmerken möchten, dass ein Nachdenken über solch gewaltige Zusammenhänge nur ein bescheidener Versuch und Beitrag sein kann, im besten Falle.

Eine Ursache ist für uns die Fehlallokation des Kapitals. Zuviel Geld und Wertschöpfung fließt in solche Felder der Arbeit, die Naturschutz nicht als Quelle kollektiven Wohlstands[7] bislang entdeckt haben. Und der Prozess der Kapitalakkumulation zum Zwecke privatwirtschaftlichen Reichtums geht nicht in verminderter Fahrt weiter, im Gegenteil. Sagenhafte Reichtümer werden akkumuliert und wir wollen nicht durch Ausführungen zu Umverteilung und Enteignung unser Bestes dazu geben. Wir wollen aufzeigen, dass es Möglichkeiten gibt, sehr viele Möglichkeiten, Kapital in Wertschöpfungen zu „locken“, die dem Gemeinwohl dient, wozu wir auch Natur und Umwelt, also unsere Lebensgrundlagen zählen. So haben wir in Band I. begonnen, so enden wir den Band VII. mit einem neuen Versuch, Wohlstand für alle zu denken, aber nicht auf einer vergessenen,  theoretisch übersehenen Grundlage, die der menschlichen Existenz. Unsere natürlichen Grundlagen zu bewahren erfordert aber nicht nur ein neues Umweltbewusstsein. Das wäre aus einem Grund schon nicht genug, wenn die Spanne zwischen Armut und Reichtum weiter auseinander ginge.

Nicht missverstehen; Armut und Reichtum sind nicht die Ursachen von Umweltzerstörung, auch nicht die Folgen eines Bewusstseins, welches sich an der Ausbeutung von Natur und Mensch erfreut; das wäre zu einfach. Aber selbst wenn es so wäre, ein solches Bewusstsein zu ändern fiele wohl nach wie vor schwer nach all den vielen fehlgeschlagenen Versuchen in den vielen vergangenen Jahren. Nehmen wir zum Beispiel einen SUV[8]. Da gibt es große, teure, aber auch preiswertere. Alle aber verbrauchen eineinhalb Parkbuchten in unseren engen Innenstädten, die leider keine Erweiterung von Parkbuchten erlauben, zumal mit jedem SUV zusätzlich rein rechnerisch die Anzahl der Parkbuchten verdoppelt werden müsste. Ein SUV belastet somit das Gemeinwohl, wenn wir das auch als Parkmöglichkeit verstehen, um einhundert Prozent. Das möchten wir zum Faktor Arbeit hinzuzählen, also als eine neue Taxonomie der Arbeit und indirekt damit auch als Taxonomie des Kapitals anregen. Die Taxonomie des Gemeinwohls beinhaltet somit  Faktoren wie Umwelt, Energieverbrauch, Parkraumverbrauch usw. Nehmen wir ein anderes Beispiel, die Kreuzfahrtschiffe. An manchen Tagen ankerten vier bis fünf der Riesen in der Lagune von Venedig, bliesen das Gift ihrer Schlote und jedes ein paar Tausend Besucher tagtäglich in die Stadt und beim An- und Ablegen vom Pier wurde Venedigs Untergrund derart belastet, dass die Stadt zu versinken drohte; was daran ist Gemeinwohl? Richtig. Venedig muss erhalten bleiben. Hier hilft nur eine neue Taxonomie von Arbeit und Kapital, die den Kreuzschiffahrtsbau zwar nicht verbietet – etwas verbieten wollen wir nicht –  aber jede Kabine so teuer macht, dass nur noch Scheichs sich eine leisten können, die auch für nur eine Nacht in der siebenhundert Quadratmeter großen Suite im Burj al Arab vierzehntausend USD hinblättern; Venedig wäre gerettet. Natürlich wollen wir keine Luxussteuer, der Sinn der neuen Taxonomie soll sich in einer Gemeinwohlabgabe ergeben, die auf den Verkaufspreis eines SUV aufgeschlagen wird, der eine bestimmte Breite z. B. übersteigt; andere Parameter sind denkbar. Wir wollen und können weder ins Detail hineinrechnen noch in alle rechtlichen Details hineinschauen, denn es geht uns ums Prinzip. Das Gemeinwohl-Prinzip soll das Leistungsprinzip nicht ersetzen, es soll zu diesem hinzutreten immer dort, wo es betroffen ist.

Kommen wir zur Verwendung der Gemeinwohl-Abgabe. Ihr Nutzen ist am Größten, wenn sie dazu dient, die Spreizung zwischen Arm und Reich zu vermindern. Deshalb ist darauf zu achten, dass die Abgabe nicht den Weg einer Steuer nimmt, sondern – unser Vorschlag –  in einen staatlich kontrollierten, privatwirtschaftlich agierenden Fonds fließt, um darüber zu Kapital aus Wertschöpfung zu werden. Dann haben wir keine Umverteilung, sondern Kapital aus Wertschöpfung, an dem Menschen mit geringem Einkommen oder die aus staatlichen Zuwendungen leben, beteiligt werden. Nehmen wir zum Beispiel die Energiewende. Claudia Kemfert beziffert den finanziellen Aufwand für die deutsche Energieunabhängigkeit von fossilen Brennstoffen auf etwa 500 Mrd. Euro, verteilt auf zehn Jahre, also auf 50 Mrd. p.a. Mögen die Wirtschaftsexperten weiter redlich streiten über Kosten und Einsparungen, für uns liegt hier ein Marktpotenzial mit enormer Wertschöpfung und darin soll auch unser Gemeinwohl gedeihen. Deutschland hat kein Erdöl wie Norwegen und kann deshalb auch keinen Staatsfonds aus Erdöleinnahmen finanzieren, der allein im Jahr 2021 einen dreistelligen Milliarden-Gewinn einfahren konnte. Dabei profitierte der Pensionsfonds zusätzlich von den Kursgewinnen am Aktienmarkt[9]. Deutschland könnte aber mühelos durch Gemeinwohl-Abgaben und privaten Anlagen sowie der Öffnung gegenüber institutionellen Anlegern ein Fonds-Volumen vergleichbar mit dem des norwegischen Staatsfonds aufbringen, wobei es uns aber mehr um das Geschäftsmodell als solches geht.

Dieses Geschäftsmodell sähe große Ähnlichkeiten mit den Norwegern – wir dürfen uns auch bei diesen Ausführungen an die sogenannte Deutschland AG[10] erinnern – , die seit vielen Jahren ihre Einkünfte an den internationalen Finanzmärkten investieren. Über diese Investitionen hält der Fonds aus Norwegen mittlerweile Beteiligungen an knapp 9100 Unternehmen weltweit, ist also hinreichend diversifiziert und wir sähen diese Diversifizierung überwiegend in Umweltprojekten. Was die Norweger machen kann auch als eine Blaupause für einen deutschen Staatsfond werden, nämlich zudem in nicht börsennotierte Immobilien und Infrastruktur für Erneuerbare Energien zu investieren, ist doch die energetische Transformation anders kaum zu schaffen und für den privaten Immobilienmarkt stehen ebenfalls neue Geschäftsmodelle aus, die die steigenden Mieten von den geringverdienenden Menschen in unserer Gesellschaft weitgehend fernhalten können. War der norwegische Fonds eine Erfindung der 1990er Jahre, um die umfangreichen Leistungen des Sozialstaats zu finanzieren und sich vor Schwankungen an den Rohstoffmärkten zu schützen, so mutet es ein wenig seltsam an, dass Deutschland, immerhin die Erfinderin der Sozialen Marktwirtschaft, auf diese Finanzierungsideen nicht selbst gekommen ist. Mag sein, dass dies mit daran lag, dass in Deutschland der Weg über die Finanzmärkte seit den Fuggern im Mittelalter mit extrem negativen Konnotationen versehen ist und bis heute ist „Heuschrecke“ noch eine der netteren Bezeichnungen für Finanzmarkt-Tätigkeiten.  Mag sein, dass seit dem Kapital von Marx dem Kapital schlechthin jede Form der Beteiligung und Entwicklung von Gemeinwohl abschlägig attestiert wird, wobei dann allerding völlig unklar bleibt, warum selbst die allermeisten Deutschen der Idee der Sozialen Marktwirtschaft positiv gegenüberstehen, ja sogar ein wenig stolz sind darauf, zu deren Erfindern zu gehören; vielleicht tragen unsere Darlegungen ja auch ein wenig zur De-Ideologisierung bei.

Als wir den Titel des 8. Kapitels verfasst hatten, waren wir noch ein paar Wochen vom Krieg entfernt. Umso wichtiger und bedenkenswerter halten wir die darin vorgestellten Gedanken und Ideen, die wir an einer Stelle sogar als „revolutionär“ kategorisiert haben; das sind natürlich keine revolutionären Ideen im klassischen Sinne. In der Zukunft den Blick vermehrt auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten vom Gemeinwohl her zu definieren, dürfte aber notwendig werden und die Marktwirtschaft ist auch jederzeit in der Lage, aus einem komplementären Verhältnis von Gemeinwohl und Privatwohl ihre Erfolgsaussichten zu lesen. Wir müssen natürlich die Betrachtung eines „Sowohl-als-auch“ oder „Entweder-oder“ verlassen und Gemeinwohl und Privatwohl gleichwertig in den Blick nehmen, wo immer dies auch geht. Aber es geht nicht immer gleichwertig. Dann ist für das Gemeinwohl zu entscheiden. Alles, was sich Natur- und Umweltschutz nennt, muss diese Entscheidung treffen und den Menschen vermitteln. Die Grundlagen der Existenz aller Menschen sind nicht verhandelbar oder abwägbar, das haben wir zulange gemacht mit dem Ergebnis, wie es heute sich uns zeigt. Der Verbrauch der natürlichen Ressourcen und vor allem die Entsorgung verbrauchter Ressourcen wieder in der Natur hat lange funktioniert durch die Selbstheilungskräfte der Natur und unsere grobe Sinnlichkeit, die wenig vom Dreck gesehen, gerochen und geschmeckt hat, zumal wir den ja etwas weiter entfernt von unseren Nasen, Augen und Ohren verbracht haben; nun ja, alles geht einmal zuende.

So sollte das Schlusskapitel auch ein großes Finale aller Themen der letzten sechs Bände werden, aber da kam dann der Krieg dazwischen und hat dieses Kapitel aus der Aktualität der Ereignisse gedrängt. Was alle heute sagen, der Krieg markiere eine Zeitenwende, ist unseres Erachtens schon die nächste Stufe des „unglücklichen Bewusstseins“, der wir uns nicht so ohne weiteres anschließen werden. Es wendet sich nichts, es vollendet sich, was lange Zeit schon währte. Und es verschärft sich sogar, was lange währt, die Rückkehr der Patriarchen. Wie kann es sein, dass im 21. Jahrhundert und nach den großen, verheerenden Kriegen des letzten Jahrhunderts ein einzelner, kleiner Mann, ohne Haare auf dem Kopf, mit Schweinsaugen – die teilt er mit donald t. – etwas steif in den Hüften wie die meisten Juristen, ganz allein über Krieg und Frieden, über die Existenz und den Untergang der Menschheit entscheidet? Und die nächsten stehen schon vor den Toren oder haben ihre schmutzigen Finger bereits an den roten Knöpfen der Macht. Das nächste Kapitel, welches es unbedingt zu schreiben gilt, heißt: wie verhindern die Menschen die Rückkehr der Patriarchen? Es wird nicht reichen, mit Trump, Putin, Xi oder den klerikalen Fanatikern im Iran usw. Handel zu treiben und wie der damalige deutsche Kanzler in die Formel schrieb, auf „Wandel durch Handel“ zu hoffen[11]. Wir haben Handel getrieben mit Russland bis über die Grenze der energetischen Abhängigkeit, und was hat es geholfen? Wir treiben noch viel mehr Handel mit dem Chinesen, welchem Wandel sehen wir entgegen? Die Formel mag schön sein, der Wandel weniger. Bislang ist das Ergebnis der Formel dies: nach dem Handel kommen die Sanktionen, der Handel mit Waren, Gütern und heute Finanzdienstleistungen wird eingestellt. Hätte man dies nicht präventiv vorher besser überlegt und geregelt?

Was bringt es, die Demokratien ins Feld zu schicken? Das hat nicht funktioniert in Korea, nicht in Vietnam, nicht im Irak und in Afghanistan? Und sind nicht die USA eine lupenreine Demokratie und hat diese diesen Irren aus Queens, NYC, verhindert? Immerhin, wie es scheint muss auch dieser Patriarch bevor er die alleinige Verfügungsgewalt über den roten Knopf erreicht, die Checks and Balances, die wichtigsten demokratischen Institutionen und den öffentlichen Diskurs unter seine Herrschaft bringen. Aber was ein einzelner, alter weißer Mann in nur fünf Jahren diesbezüglich geschafft hat, ist beachtlich. Auch zu ihrer Abschaffung bleibt der Demokratie nicht viel Zeit unter unglücklichen Umständen. Unser unglückliches Bewusstsein ist wohl dann doch nicht ein, durch Irrtum, Entfremdung, Unwissen und an sich selbst entzweites, ein mit sich selbst unversöhntes Bewusstsein. Und wenn es ein der Wahrheit entfremdetes Bewusstsein ist, dann stimmt noch das, was Hegel darüber sagte. Der Mensch birgt nun mal nicht alles, woran er glaubt und wovon und worin erlebt, in sich, schon gar nicht klar und bestimmt wie Descartes das dachte. Er hat seinen Lebensinhalt ganz wesentlich außer seiner selbst und dort ist auch ein Teil der Wahrheit, aus der der Mensch lebt, aus der er leben kann oder nicht; das zeigt der Krieg. Und der von Pudn (amerikanische Sprechweise) vom Zaun gebrochene Krieg kann auch in Zukunft von keinem Bewusstsein versöhnt werden, es irgendwie glücklich machen, nicht einmal durch Drogen.

Das Selbstverständnis wird von jedem Krieg zerrissen, entzweit. Es bleibt ein unglückliches Bewusstsein, das in Stücke zerbrochen auf dem Boden liegt und sich einmal mehr fraktal im eigenen Spiegelbild begegnet. Pudns Krieg ist kein Lebensirrtum, keine verkannte Wahrheit in der Phänomenologie des Geistes; es ist die erkannte Wahrheit im Unglück des ukrainischen Volkes, das auch nicht unter der innerweltlichen Sinnlosigkeit, sondern unter Bomben, Hunger, Durst, Verletzung, Trennung und Angst leidet und dessen Leiden das Unglück konkret sein lässt, für viele bis zum bitteren Ende; der Krieg sorgt sich nicht, weder um etwas noch als etwas. Pudns Krieg macht mehr als alles andere deutlich, dass die Wahrheit doch ein Abstraktum ist, solange sie in der totalen Usurpation patriarchaler Herrschaft gefangen existiert.

Zu Dionys dem Tyrannen, schlich
Damon den Dolch im Gewande,
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
Die Stadt vom Tyrannen befreien!“[12]

Es gibt heute keine Versöhnung mehr mit Tyrannen, was bliebe wäre ein altes probates Mittel, der Tyrannenmord, die Tat, die in die Geschichte eingeht und von der dann in tausend Jahren vielleicht die Kinder in lateinischen Unterrichtsstunden lesen lernen. Schillers Gedicht aber endet anders, wie man weiß. Zwischen Macht und Mensch steht die Demokratie als „Dritte im Bunde“. Auch sie vermag das Unglück aus dem Bewusstsein nicht zu vertreiben, versöhnen mit der Macht soll sie sich nicht.

 

[1] Zwei komplementäre Eigenschaften gehören in der ursprünglichen Bestimmung des Begriffs der Komplementarität zusammen, sofern sie dieselbe Referenz haben, also dasselbe „Objekt“ betreffen, jedoch kausal nicht voneinander abhängig sind. Beispiel: Licht als Teilchen bzw. Materie und als Energie.

[2] Siehe BvG Beschluss vom 24. März 2021

[3] Holger Senzel und Steffen Wurzel im Deutschlandfunk vom 02.07.2020: Pekings Imperialismus / Der Konflikt im Südchinesischen Meer. Abgerufen am 09.03.2022

[4] Zum Begriff Patriarchat siehe hier Kap. 7: Das Ende der Patriarchen.
Abgeleitet vom griechischen und römischen Recht wird als Patriarchat in der Familiensoziologie eine familiale Organisation verstanden, die dem männlichen Oberhaupt in Anlehnung an den pater familias als dem „Herrn des Hauses“ die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen Familienmitglieder zuschreibt.[1][2]

Der älteste griechische Text, der ein Patriarchat bezeugt, ist die Ilias von Homer. Bevor die griechische Flotte in See stechen kann, opfert der Heerführer Agamemnon seine Tochter Iphigenie, um die Götter, die zu Troja halten, auf seine Seite zu ziehen. Hinter dem Agamemnon des Mythos verbirgt sich der Anführer des kriegerischen Volksstamms der Achäer, der im 2. Jahrtausend v. Chr. die auf der Peloponnes ansässigen Völker unterjochte und etwa um 1500 v. Chr. die minoische Kultur auf Kreta, die einzige europäische Hochkultur ohne Patriarchat, ablöste.[3]

[1] Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats. Campus 1991, S. 295

[2] Vgl. Michael Mitterauer, Reinhard Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft, Becksche Reihe, C.H. Beck, München 5. Aufl. 1991, ISBN 978-3-406-35575-2.

[3] Alfred Weber: Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Piper, München 1960, S. 125–126.

[5] Dazu als ein drastisches Beispiel: Anne Spiegels wahre Sorgen. Cicero vom 09.03.2022. Abgerufen am 10.03.2022

[6] Erneuerbare Energien schreiben wir substantiiert, weil es sich mittlerweile um einen feststehenden Begriff, einen energetischen Gattungsbegriff handelt.

[7] Wir konnotieren den Begriff Wohlstand in seiner kollektiven Bestimmung mit den Begriff Wohlfahrt, Gemeinwohl und Almende (Band II. Kap. 8: Markt vs. Allemend)

[8] SUV, „Sport Utility Vehicle“ kommt ursprünglich aus dem Amerikanischen und steht für „Sport- und Nutzfahrzeug“.

[9] 2021 erwirtschaftete der Pensionsfonds einen Gewinn von 1,58 Billionen Kronen (158 Milliarden Euro) und erreichte damit eine Rendite von 14,5 Prozent. Damit übertraf der Fonds sogar seine Benchmark um 0,74 Prozentpunkte. (Tagesschau vom 27.01.2022)

[10] Der Begriff geht ursprünglich auf Andrew Shonfield zurück, der Deutschland 1965 als „organized private enterprise“ bezeichnete und damit Deutschland als Organisation beschrieb, die „nach innen Konkurrenz begrenzt und nach außen Geschlossenheit anstrebt.“ Siehe: Wolfgang Streeck und Martin Höpner (2003): Alle Macht dem Markt?: Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland AG. Campus-Verlag, S. 16. ISBN 978-3593372655

Als Zentrum der Deutschland AG wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die großen deutschen Finanzinstitute, insbesondere die Deutsche Bank und die Allianz, mit ihren großen Industriebeteiligungen angesehen. GHH, MAN, Veba, VIAG, Thyssen AG, Krupp AG, Klöckner-Werke, Ruhrkohle, Volkswagen, Preussag, BASF, Hoesch, Ruhrgas AG oder Mannesmann verkörperten zusammen mit vielen wichtigen Aktiengesellschaften den industriellen Kern der Deutschland AG. Alfred Herrhausen war zusammen mit Edzard Reuter, Rudolf von Bennigsen-Foerder, Manfred Lennings, Dieter Spethmann und Klaus Liesen einer der letzten herausragenden Vertreter. Beispiele für das Ende der Deutschland AG, das sich vom Zeitpunkt der ungeklärten Ermordung Alfred Herrhausens 1989 bis zur Jahrhundertwende hinzog, sind der Ausbau des Investmentbankings der Deutschen Bank, die Gründung von ThyssenKrupp und E.ON oder die feindliche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone im Februar 2000. Siehe: 15 Jahre Mannesmann-Übernahme — Wie der „Haifisch“ das „Hirn“ besiegte – Artikel beim Handelsblatt, 4. Februar 2015

[11] Willy Brandt, 1969 bis 1974

[12] Friedrich Schiller: Die Bürgschaft