Nachspielzeit

Das Spiel ist aus, wenn die Nachspielzeit abgelaufen ist; so sagt man. Und wir sind in vielen Nachspielzeiten: beim Klima, in der Ökonomie, in der Wirtschafts- und Energiepolitik, im System der Repräsentativen Demokratie, im System des Finanzkapitals – wir lassen geostrategische Gedanken einmal außen vor, so schwer dies zur Zeit auch fällt. Zum Klima gibt es analytisch nichts mehr zu sagen, das Entscheidungsfenster zur Reduktion der Erderwärmung unter 1,5 Grad Anstieg der globalen Erderwärmung ist bereits geschlossen. Wir alle leben bereits im Modus der Gewöhnung an den Klimawandel, aufhalten geschweige denn umkehren können wir ihn nicht mehr. Einige trifft es härter als andere, viele ein letztes Mal. Und von diesen Vielen sind viele wiederum arm. Die Bekämpfung von Armut ist in vielerlei Hinsicht eine Überlebensaufgabe, besonders in Ländern, die zu den ärmeren auf der Welt zählen. Wirtschafts- und Energiepolitik gehören heute zusammen in eine Form der komplementären Ergänzung von Ökologie und Ökonomie, das haben alle verstanden, die meisten auch, dass dazu eine sozialverträgliche Transformationsphase gehört, denn im Hauruck-Verfahren lässt sich hier wenig bewegen, das haben gerade wir in Deutschland mit seiner „Klima-Kanzlerin“ erfahren und einsehen dürfen. So sehr wir auch für direktdemokratische Verfahren in diesem Band plädiert haben, sie allein retten nicht unsere Demokratien. Umso mehr plädieren wir für eine Revolution im Liberalismus, besonders in seiner ökonomischen Form, der liberalen Marktwirtschaft.

Denn unsere Ökonomien sind auch bereits weit in der Nachspielzeit und, lassen wir es uns so sagen, die angelsächsischen Modelle haben die fundamentalen Spannungen des Kapitalismus, wie sie von Marx beschrieben worden sind, zwar historisch über mehr als einhundert Jahre aufgehalten, verhindert haben sie die Sprengkraft der Spreizung zwischen Arm und Reich aber nicht. Die Kapitalrenditen steigen, der tendenzielle Fall der Profitrate (Band II. Kap. 2: Krisen und …) ist in der Sphäre des Kapitals gleich welcher Wertform nicht eingetreten, hat sich u. E. in die Natur verlagert und prozediert dort verheerend. Auch die Soziale Marktwirtschaft, noch deutlich resilienter als die Liberale Marktwirtschaft, kann auf Dauer die inneren Spannungen in der Ökonomie nicht verhindern oder gar auflösen; diese Illusion vom Wohlstand für alle ist nur eine Illusion geblieben. Was wir zeigen konnten, dass Kapital weiter neues Kapital erzeugt und dass dieser Prozess exponentiell ist, zeigt zugleich aber auch, dass Geld, welches nicht im Kapitalkreislauf investiert bleibt, tendenziell gegenüber investiertem Geld an Wert verliert. Gespartes Geld, Bargeld, private Geldvermögen insgesamt halten mit der Wohlstandszunahme aus Kapital langfristig nicht mit. Und kurzfristig sind sie auch immer weniger sicher. Wie auch die Jobs im Mittelstand auf Dauer ein Auskommen entsprechend nicht verbriefen, so wird in Deutschland mehr und mehr auf die Finanzmärkte gesetzt, wohin ein erheblicher Teil des Erbes der jüngeren Generation fließt.

Das Reich der Freiheit, von dem Marx einst träumte, so zeigt sich heute, beginnt nicht dort, wo Arbeit nicht mehr durch Not und andere Zweckmäßigkeiten bestimmt ist. Und auch nicht dort, wo der Mensch sich als Person aus eigenen Bedürfnissen und Zweckmäßigkeiten verwirklicht. Und es wäre auch dem natürlichen Leben zu Wasser, auf dem Land und in der Lust wenig zuträglich, wenn all zu viele Menschen morgens zum Fischen und abends auf die Jagd zu Lande und in der Luft gingen. Marx wusste zudem nur zu gut, dass Freiheit als eine Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft gedacht werden muss: „Erst in der Gemeinschaft [mit Andern hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich“.[1] Nun ja, Marx schwankte wie die Relation zwischen Individuum und Gesellschaft resp. Gemeinschaft sich als schwankend und lose erweist. Dem zu entgehen erlaubte er sich einen Trick, die Vorstellung einer nicht bürgerlichen Gesellschaft in einem nicht kapitalistischen System.

Aus der philosophischen Tradition entnahm er den Begriff der „negativen Freiheit“ (Band VI. Kap. 4), die er als Auswirkung der bürgerlichen Gesellschaft auf das Individuum verstanden wissen wollte. Diese negative Form von Freiheit in ihrer Bedeutung als „persönliche Freiheit“ ist Abgrenzung von den Anderen, um sich im gesellschaftlichen Leben Freiräume offen zu halten. In ihr verselbstständigen sich die Individuen durch ihre Trennung voneinander[2]. Es „handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“. Das bürgerliche „Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung“.[3] So überzeugend es auch heute auf so manchen wirken mag, so evident es auch erscheint, das Muster der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht die „freie Konkurrenz“ die als „die völligste Aufhebung der individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen […] annehmen.“[4] Es scheint gerade das Gegenteil dessen ist eingetreten, die weitgehende Verwirklichung individueller Freiheit scheint so übermächtig über den Gemeinsinn und das Gemeinwohl zu triumphieren, dass selbst das Impfen gegen Corona die Solidarität vieler mit den gefährdeten Menschen zu beenden in der Lage ist. So sind in der bürgerlichen Gesellschaft eben doch die Individuen freigesetzt[5] und in deren freier Konkurrenz zueinander verschwindet die Aufklärung, die noch mit der Brüderlichkeit Gemeinsinn und Gemeinwohl kannte.

So kursiert mit der Freiheit der Individuen auch das freie Kapital stets andernorts, stets da, wo ein Interesse an Rendite es investiert sehen möchte. So ist die Freiheit ein Eigeninteresse, welches sich aber nicht als eine negative Freiheit gegen eine andere richtet; die Freiheit des Kapitals im Selbstbezug ist eher narzisstisch als aggressiv. Sie ist eher inklusiv als ausschließend und richtet sich überall dort hin, wo Kapital eine rentable Anlageform findet. Wir haben verschiedentlich gezeigt, dass die erste große Transformation der aktuellen Geschichte der politischen Ökonomie gilt, also einer Verwandlung und Umformung der Ökonomie in eine Politische Ökonomie, wo bei wir diese großgeschrieben als Begriff behandeln, geht es doch dabei um Grundsätzliches, um die Dominanz von Politik im freien Wettbewerb der Ökonomien und ihrer Antriebs- bzw. Wertschöpfungskräfte; sie aber wird nicht gelingen. Denn Politik wird keine wirkliche Dominanz in den Finanzmärkten ausüben können, dazu ist sie zu schwach, zu heterogen wie die Finanzmärkte selbst. Die politischen Interessen an den Finanzmärkten sind je nach Land sehr unterschiedlich politisch, in den USA mehr von strategischer Natur, in England rein ökonomischer Natur und Deutschland weiß noch nicht so viel von diesen Märkten und deren Möglichkeiten. So langsam beginnt auch in Deutschland ein Nachdenken, was man mit so vielen Billionen an Geld, welches „frei“ zur Verfügung steht, scheu wie ein Reh Ausschau nach frischem Grün hält, machen kann.

Wir schlagen vor, versuchen wir eine Revolution, finanzieren wir mit den riesigen Summen auf den Finanzmärkten neue, gute Ideen. Ideen, die allesamt universell sind und deshalb auch irgendwo auf der Welt anfangen, um dann „ausgerollt“, globalisiert werden zu können wie die Technologien der sozialen Medien, des Internets, der Kryptogelder und Kryptowährungen. Aber die alles entscheidende universelle Idee wäre die, die Armut wirklich zu bekämpfen und Wohlstand für alle zu ermöglichen. Nicht die Armut als Armut soll weiterhin durch soziale „Wohltaten“ bekämpft werden, sondern ihr Grund ist zu beseitigen. Fordern wir von unseren Regierungen Bereitschaft und Konzepte ein, die dem internationalen Finanzkapital – noch immer ein Schimpfwort für viele – sichere und attraktive Anlageformen bietet, die neben Umwelt- und Naturschutz auch Anlagen in wertschöpfenden Fonds bietet, die ihre Wertschöpfungsgewinne aus sozialen Projekten für soziale Projekte verwendet wie z. B. aus der Umgestaltung unserer Städte und Gemeinden. Das Kapital mit sicheren und attraktiven Renditen dafür zu begeistern, dürfte nicht schwer sein, zumal das freie Spiel der Kapital-Allokationen von Jahr zu Jahr immer mehr Möglichkeiten findet und schnell zu handeln weiß, was u. a. bedeutet, dass Kapital in einem Übermaß vorhanden ist. Die „Sparerinnern und Sparer“ dafür zu begeistern ist wohl noch leichter, zumal sie von Zinsen fast verlernt haben anders zu denken als in Träumen. Die Idee zu vermitteln dürfte schwerer sein, geht es dabei doch um einen Paradigmenwechsel, der das ganze Denken betrifft, die Neuorientierung des Denkens am Wohlstand für alle zuerst.

 

[1] Karl Marx: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 5–530. (Die deutsche Ideologie, Kommunismus. – Produktion der Verkehrsform selbst)

[2] ebd. S. 75

[3] Marx: Zur Judenfrage. 1844. In: MEW Bd. 1, S. 36

[4] Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. 1858. In: MEW 42, S. 545

[5] „Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital“ (ebd.)