Schluss mit Frieden

Seit dem 24.02.2022 ist wieder Krieg in Europa. Wir können unsere sieben Bände der  Philosophie des menschlichen Daseins nicht beenden, ohne Bezug zu nehmen, was in der Ukraine und in Russland passiert. Das Erste, was so wie es eingetreten ist und ein altes Sprichwort bestätigt, ist, dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt; das stimmt. Es gibt keinen Grund für einen Krieg; heute sprechen wir von Angriffskriegen. Und weil es keinen Kriegsgrund gibt, wird er erfunden. Weil in der Ukraine Nazis leben, die einen Genozid an der ostukrainischen Bevölkerung begehen und deshalb Russland zur Hilfe eilt – und was nicht noch für groteske Gründe hinzugefügt werden, aber es bleibt dabei, die Wahrheit stirbt mit der Kriegserklärung, weil diese Erklärung in jedem Fall ohne Grund, also im Zustand der Unwahrheit formuliert wird. Dies mag auch eine Erinnerung zu unseren Ausführungen zum Grund schlechthin sein, die wir in fast jedem der sieben Bände aus verschiedenen Blickwinkeln angestrengt haben (siehe Band I. Kap.1: Nichts ist ohne Grund).

Was wir sehen ist, dass dieser Krieg aus einem unbedingten Willen zur Macht entstanden ist. Und wer immer noch der Ansicht ist, dass Macht auch eine private und soziale Angelegenheit sei, soll hinsehen und den mehr als offensichtlichsten Unterschied zwischen politischer Macht und privaten Machtphantasien erkennen; so diese Erkenntnis nicht eintritt, ist alles weitere Reden darüber so nichtig, wie die Verblendung in Uneinsichtigkeit nur groß sein kann. Wir haben am Beispiel des „Milgram-Experiments“ (Band I. Kap. 6: Macht bewusst) den Unterschied zwischen einem politischen und einem soziologischen, der zugleich ein psychologischer  Begriff von Macht als Machtphantasie ist, dargelegt und fügen nun aus aktuellem Anlass noch hinzu, dass Macht in den politischen Formen von Diktaturen und Autokratien den Spielraum der Macht extrem auszudehnen in der Lage sind. Ihre Ausdehnung geht über einen Zeitraum einerseits durch den Aufbau von Machtinstrumenten wie Polizei, Geheimdienste, Spezialeinheiten voran, begleitet durch Formen von Herrschaftsdiskursen, die eine propagandistische Gleichschaltung bzw. Zustimmung zur Macht und ihren Ansprüchen zu erzeugen versucht. Hinzu kommen zugleich auch vielfältige Formen der institutionellen Duldung, wenn nicht sogleich auch offene Zustimmung zu Autokratien oder autokratischen Herrschaftsformen.

Wir haben es mehrfach und an verschiedenen Orten der Welt sehen können. Da war in Russland der Aufbau der Polizei im Jahr 2011 (mit Polizeigesetz vom 07.02.2011) als föderale Organisation, die dem Innenministerium unterstellt war, aber bereits kurz danach unter die Alleinherrschaft Putin geriet. Da ist die „Russische Nationalgarde“, die seit 2016 und die OMON, eine der wichtigsten und militärisch bestens ausgestattete Spezialeinheit, Putins „Privatarmee“ mit etwa 20.000 Mann, die mittlerweile zusammengenommen mit etwa 400.000 Mann direkt dem Präsidenten unterstellt sind. Sie bekämpfen Kriminalität und Terrorismus und der Präsident bestimmt, was kriminell und terroristisch ist. Als kriminell und terroristisch wurden durch verschiedenen Gesetze alles bestimmt, was Widerspruch und Widerstand in der russischen Gesellschaft bedeutet. Das geht heute bis dahin, dass die öffentlichen Aussprache von Worten wie „Krieg“, Kriegserklärung“ usw. im Zusammenhang mit der Ukraine mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können und begann mit der Neutralisierung jedweder Form öffentlicher Proteste und Kundgebungen durch die Truppen des Innenministeriums und den Sondereinheiten der Polizei; es gibt noch eine ganze Reihe anderer Spezialeinheiten wie etwa die GRU SpezNas, eine Spezialeinheit des russischen militärischen Nachrichtendienstes GRU mit den Einsatzschwerpunkten Aufklärung, asymmetrische Kriegführung und Terrorismusbekämpfung, die auch gegen die eigene Bevölkerung zum Einsatz kommen.

Wir haben sehen können, waren gewissermaßen tagtäglich dabei, wie Widerspruch und Widerstand, also demokratischen Kontrollmechanismen in Russland unterdrückt wurden und diese Unterdrückung auch in andere Länder der ehemaligen Sowjetunion mit militärischen Mitteln getragen wurden; 2008 im Kaukasuskrieg, 2009 im Kampf gegen das Kaukasus-Emirat, 2014 Invasion und Annexion der Krim, 2014 militärische Unterstützung der prorussischen Kräfte im Krieg der Ostukraine. Seit 2015: Militärischer Eingriff auf Seiten der Regierung Syriens im Syrischen Bürgerkrieg, seit 2015: Militärische Unterstützung des Kampfes gegen den Islamischen Staat in Syrien, seit 2018: Militärische Unterstützung des Kampfes gegen die libysche Regierung auf Seiten Marschall Haftars mit Wagner-Söldnern der GRU, seit 2019: Militärische Unterstützung des Kampfes gegen die Ahlu Sunnah Wa-Jama in Mosambik mit Wagner-Söldnern der GRU, seit 2020: Truppen in Bergkarabach, Aserbaidschan. 2022: Beteiligung russischer Truppen an der Niederschlagung der Unruhen in Kasachstan 2022. Alles dies gipfelte im Jahr 2022 mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der Verletzung aller bisher gültigen zwischenstaatlichen Regelungen der OSZE und der UN; die Nicht-Einhaltung der UN-Charta ist aber keine rein russische Domaine, die Nato und die USA haben da auch ihre Privilegien, etwa in der Kosovo-Krise oder bei Angriff auf den Irak. Daran ändert auch nichts, wenn die einen sich auf das Menschenrecht und die anderen sich auf das Selbstverteidigungsrecht berufen.

Wir alle waren beteiligt an den schönen Bildern der Treffen der Staatschefs der EU mit dem russischen Präsidenten, an den halbherzigen und ohnmächtigen Versuchen der Befriedung sowie an den vielzähligen Wirtschaftsabkommen, die uns bis heute die Energieversorgung in Europa noch sichern in Zeiten der energetischen Transformation zu EE-Technologie, die lange noch nicht russisches Gas, Erdöl, Steinkohle und sehr viele andere Rohstoffe ersetzen können. Wir haben den Narzissmus der politischen Macht ausgiebig in Wort und Bild erlebt, wenn Staatschefs und Staatschefinnen sich in munterer Runde im „Du“ begrüßen. Politische Macht ist hochgradig selbstbezogen, auch dies ist ein Effekt ihrer Grundlosigkeit. Würden wir es aus psychologischer Sicht beschreiben, dann fällt sofort der phänomenale Narzissmus auf, exaltiert wie bei Berlusconi, Bolsonaro oder donald t., bei anderen etwas kultivierter, bei wenigen bescheiden. Auffällig wird er umso mehr, je größer die Runde der Regierenden ist, die zusammentrifft, denn auch der Narzissmus der politischen Macht ist auf seine Bestätigung, seine Anerkennung durch die anderen angewiesen. Man ist unter sich und weiß, jeder im Raum hat Macht, das ist in der EU, wo jeder Staat eine Stimme hat, vordergründig symmetrisch. Aber auch in der EU ist die ehrerbetene Anerkennung der politischen Macht abhängig von der Machtfülle und deren Durchsetzungskraft, besonders, wenn es um die Wirtschaftskraft eines Landes geht. Vollends asymmetrisch wird die Sache mit der Macht im Show-Biz der Weltmächte, die untereinander sich nie den Handschlag verweigern oder einer Kanzlerin einen Riesenkläffer zur Begrüßung schicken würden. Macht hat im Narzissmus ein Gefälle, nicht jeder Mächtige ist mit jedem anderen Mächtigen gleichrangig auf Augenhöhe. Auch hier sehen wir jene Asymmetrie, die wir herausgearbeitet haben aus der scheinbaren Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft (Band I. Kap. 4: Frei von Natur aus. / Band VI. Kap.3). Der Krieg zeigt auch und mehr als deutlich, dass es keine Dialektik zwischen Regierung und Regierten, zwischen Staat und Gesellschaft gibt. Worin soll diese Dialektik bestehen? Es ist Krieg, es gilt der Befehl zu töten oder zu sterben und das Kriegsrecht für jede Form aufkeimender Dialektik. Macht ist was gilt und die Macht zählt nicht einmal in Menschenleben, allenfalls zwischenzeitlich in Opfern, letztlich aber nur in Sieg oder Niederlage. Die Menschen in der Ukraine, die nicht flüchten oder in den Kellern ausharren, diese Menschen stehen in einer negativen Dialektik des Überlebens. Wenn sie nicht fallen werden sie beherrscht und unterdrückt, müssen einer fremden Macht folgen und ihr Leben fortan aufs Spiel setzen im verborgenen Kampf dagegen oder im offenen Widerspruch und Protest. Sie haben nicht die Wahl, nicht eine freie, selbstbestimmte Wahl, die hat Russland ihnen genommen.

Die Wahl ist mit der Zeit verlorengegangen. Rechte wurden abgebaut oder gar nicht erst gewährt. Aber es gibt auch keine dialektische Beziehung zwischen Macht und Demokratie, also einer effektive Kontrolle der Macht durch freie Wahlen, das allein reicht nicht. Wir mussten auch erkennen, dass in einem demokratischen Staat wie etwa den USA Machtmenschen wie donald t. an die Regierung kommen und binnen einer Legislaturperiode nicht nur die Demokratie im Lande, sondern weltweit nachhaltig beschädigen konnten. Die so gerne zitierten Checks and Balances, die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes, die Medienlandschaft und die inneren Prozesses der Konservativen als Partei sind nach donald. T. nicht mehr so wie vorher. Wir mussten erkennen, dass autokratische bis in Teilen fast schon diktatorische Regime längst nicht die Verfassung eines Staates und einer Gesellschaft wie in Russland voraussetzen, es reichen bereits relative Mehrheiten, die nicht einmal im Ansatz statistisch die Mehrheitsverhältnisse innerhalb eines Landes repräsentieren, um demokratischen Verfahren national wie international großen Schaden zuzufügen. Handelsvereinbarungen und Regeln des internationalen Verkehrs von Waren, Menschenrechte, persönliche Freiheitsrechte bis hin zu zwischenstaatlichen Vereinbarungen, die lange Zeit bestehen, alles dies kann urplötzlich weniger Wert sein wie der so beliebte und geistig gepflegte Wertekanon zivilisierter Gesellschaften. Rassismus, Xenophobie[1],  Homophobie, also Angst vor gleichgeschlechtlichen, erotischen oder sexuellen Beziehungen, Nationalismus mit Einkapselungen nationalsozialistischen bis faschistischen Weltanschauungen, sind Demokratien auch nicht unbekannt.

Nicht nur in den USA, auch in Europa stehen Demokratien auf schwankendem Boden und werden schnell mit der Zunahme der Schwankungen von demokratisch gewählten Volksvertretern missbraucht. Ihnen dienen die Demokratien sprichwörtlich zur Legitimation ihres unbedingten Willens zu Macht, den sie mit den Instrumenten demokratischer Machtinstitutionen und mit Ideologie-Folgern in ihre Richtung zu lenken wissen. Die Besetzung demokratischer Machtinstrumente, vor allem der Polizei, der Gerichte und der Militärs bzw. der Geheimdienste gehen ihnen leicht von der Hand, für unsere Begriffe zu leicht. Schnell folgen ihnen auch die Nachfahren von Göbbels in aller Öffentlichkeit, mancher mit Namen wie Steve Bannon, manches heute bleibt namenlos und anonym, dafür aber nicht weniger wirksam. Die Sperrlisten der unliebsamen Bots[2] werden mittlerweile länger als alle brauchbaren Beiträge zusammengenommen. Gleichschaltung der Gerichte und der Medien lässt sie ihre Kontrollfunktion verlieren, die unterstellende Anbindung der exekutiven Gewalt an die Macht selbst, ohne parlamentarische Zustimmungsverfahren, lassen Macht zur Alleinherrschaft werden, beide Prozesse dauerten in Russland etwa dreißig Jahre und waren bekannt, konnten mitverfolgt werden, blieben ohne politische Konsequenzen; so begleitet die Welt auch diesen Prozess in der VRC wie ein fremder Betrachter eines Geschehens, der doch auch sehr wohl im Geschehen involviert ist, nicht nur durch Handel, wie wir in Hongkong miterleben dürfen.

So fallen Widerspruch und Widerstand durch die Anwendung von Gewalt im Inneren über einen langen Prozess der Repression, so sichert sich der Wille zur Macht im Sinne der Alleinherrschaft und Allmacht gegen das Volk, gegen dessen Machtkontrolle und der Gefahr des Widerstands aus den eignen Reihen ab. Zunächst wird das Volk geteilt in Lager, in Widerspruch und Affirmation, in Gegner und Befürworter der Macht, wie immer diese auch verfasst ist. Gleichschaltung der öffentlichen Meinung, der Wissenschaften, der Kulturschaffenden und  bis hin zu den klerikalen Weltanschauungen wie in Russland übernimmt ab einem bestimmten Grad die Sanktionierung des Widerspruchs und des Widerstand in Eigenregie. Gegen-Proteste, öffentliche Gegenrede brauch irgendwann keine Agenda der Macht mehr, sind irgendwann verinnerlicht. Einen genauen Fahrplan für den Zeitraum der Internalisierung der Botschaften der Macht gibt es nicht, aber einen Zustand der Signifikanz, einen Korridor ihres Gelingens. Stets erkennen wir die Artikulation einen nationalen Stolzes auf die Macht als solche, die in kleinen Gruppen beginnt sich zu artikulieren, bis fahnenwehend sie in breiter Parole Straßen und Medien beherrscht. Die Identifikation mit dem Aggressor braucht keinen Krieg, keine äußeren Feid, ein potenzieller tut es auch. Immer wird ein starker Führer gerufen, immer werden die Eigenschaften der Macht zitiert und bewundert, Größe, Stärke, Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit.

Es gäbe sie nicht, die Macht im Kleinen wie die ultimative im Krieg, wenn der Faktur des Bewusstseins nicht mitschwänge, nicht mitliefe, bevor er zu den Waffen gerufen wird. Selbst offensichtlichste Phantasmen männlicher Organminderwertigkeit (A. Adler) und ihre habituellen Inszenierungen in Wrestling-Arenen, auf Judo-Matten, mit nacktem Oberkörper hoch zu Ross ein kapitales Wildtier im Würggriff oder triumphal präsentiert vermögen dem Willen zur Macht auf sein Imponiergehabe nicht zu durchschauen, gar zu hinterfragen, ist die Identifikation erst einmal gelungen. Überlegenheit und Dominanz als Machtphantasien sind Mitläufer der Macht. Macht selbst sind sie deshalb noch lange nicht. Schauen wir auf das Phänomen der Macht, dann erkennen wir in der Identifikation mit dem Aggressor deren affirmative, im Widerspruch und Widerstand dessen negative Seite. Beide Seiten sind Formen einer Identität, eine affirmative und eine negative Identität, die beide sich im Konsens mit den anderen, mit Gleichgesinnten bilden. Die Affirmation und Identifikation mit dem Aggressor hat viele Gesichter, das hässlichste, abscheulichste aber tragen jene, die versuchen, sich ihre sekundäre Kriegsbeute regelrecht einzusammeln, indem sie an die Grenzen zur Ukraine fahren, Ukrainerinnen mit Kind Unterkunft anzubieten, deren Not für ihre perversen Sexualvorstellungen oder für deren ökonomische Zwecke zu missbrauchen, sie vergewaltigen, schänden oder in die Prostitution verkaufen[3]; was an menschlicher Niedertracht lässt sich darüber hinaus noch vorstellen?

Wir haben erlebt und waren überrascht, wie schnell die Staaten der EU sich unter einer negativen Identität, einer negativen Freiheit versammelt haben, kurz nach der Kriegserklärung des russischen Präsidenten an die Ukraine. Überraschend waren die Schnelligkeit und die große Übereinstimmung der EU- und Nato-Staaten, schnell und entschlossen zu handeln bei Sanktionen gegen Russland und Hilfsleistungen für die Ukraine. Länder, die in fast allen Bereichen ihres Zusammenlebens in einer großen Einheit im Dissens lagen, ja heftig zerstritten mitunter, fanden sich unter einer Identität im Konsens extrem schnell zusammen, und wir halten fest, Identität funktioniert gut gegen eine substanzielle Bedrohung. Brauchen wir mehr Beispiele für die fundamentale Komplementarität innerhalb eines jeden einzelnen Landes wie aller Länder einer Gemeinschaft? Brauchen wir noch eine Bestätigung dafür, dass die UNO noch weit davon entfernt ist, eine Gemeinschaft zu sein? Die Hälfte der Menschheit, nehmen wir die Bevölkerung von Indien, der VRC, Brasilien, Südafrika und ein paar kleinere Staaten zusammen, konnten sich den westlichen Industriestaaten und Teilen Asiens bei den Sanktionen nicht anschließen. Sie waren nicht bereit oder in der Lage, sich der neuen Situation anzupassen und fanden sogar eine gewisse Beständigkeit ihrer Identität in der politischen Enthaltsamkeit. Für die Hälfte der Menschheit sind internationales Recht und staatliche Integrität allenfalls eine Diaspora der eigenen Zweckrationalität, auf deren Bestand ihre Identität beruht.

Lassen wir uns das so formulieren: das alte Narrativ vom äußeren Feind, von einer äußeren Bedrohung zwingt nicht alle Länder und Gemeinschaften zur Anpassung. Während die einen flexibel auf Druck reagieren, verharren die anderen in Position. Aber beide Identitäten, die flexible und die starre sind keineswegs gleichrangige Formen der Anpassung, die starre, indem sie angepasst bleibt. Wir haben es erlebt, die gleiche Zweckrationalität steht im Konsens mit den Industriestaaten, wenn es um die Semantik geht, also um eine Verurteilung der Aggression in staatlichen Noten. Wenn es um Sanktionen geht, steht diese Rationalität im Dissens dazu. Es darf spekuliert werden darüber, wie der Konsens der Nato- und EU-Staaten nach dem Krieg ausfällt, erste Dissonanzen sind bereits leise vernehmbar. Was wir an diesem Beispiel mitnehmen wollen ist, dass Identität aus der Sicht von autokratisch patriarchalen Politiksystemen, also aus einer Sicht von Stärke betrachtet als schwach, als instabil, als kraft- und wehrlos betrachtet wird; welch ein Irrtum! Russland ist schwach, wirtschaftlich heute bereits und mehr noch in absehbarer Zukunft. Das Land als Gemeinschaft, als Föderation ist instabil, überall brechen ihr die Staaten weg, hin zu Demokratien, zur EU, zum Islam, in Richtung Asien und der VRC. Russland ist schwach, weil es in seiner Politik, Wirtschaft und kulturellen Geschichte so gut wie nicht anpassungsfähig ist.

Warum waren Deutschland, die Nato und die USA nicht anpassungsfähig genug, um den Krieg, den wir heute erleben, frühzeitig zu verhindern? Der Westen war arrogant. Der Westen war selbstbezogen, der Westen war nachtragend und von hochmütiger Vermessenheit im Umgang mit Russland. Wir wollen die Geschichte an dieser Stelle nicht wiederholen, aber ein kurzer Verweis lässt sich nicht vermeiden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stand das Fenster nach Russland sperrangelweit offen. Neue Formen der Kooperation in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht wurden möglich, der Westen betrachtete Russland als Energielieferant. Viele meinen, auch das Fenster zu einer neuen Politik, zu einer mehr demokratischen Russischen Föderation sei damals auch bereits weit offen gewesen; wir bezweifeln das. Aber würde der Westen nur mit lupenreinen Demokratien kooperieren, hätte er mit mehr als der Hälfte aller Staaten weltweit keine Beziehungen, weder wirtschaftliche, noch politische und kulturelle, nicht einmal Beziehungen zu Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten.

Aber ein anderes ist uns wichtig. In modernen Zeiten kann man Kriege nach wie vor gewinnen und auch verlieren, den Frieden, so das neue geflügelte Wort, aber gewinnt man nicht mehr. So war das in Afghanistan, im Irak, so ist es im Iran, in der VRC und an anderen Orten der Welt. Die Ukraine dauerhaft besetzen zu wollen, ist bereits heute gescheitert. Und es ist nicht exklusiv Sache der Russen, sich Gedanken zu machen, wie es mit der Ukraine, mit Georgien, mit Belarus auf Dauer weitergehen soll, will man nicht in einen jahrzehntelangen, asymmetrischen Krieg hineingezogen werden; das haben Russland, die USA und einige andere westliche Staaten bitter erfahren müssen. Auch die EU und die Nato werden eine Friedensstrategie brauchen, um nicht andauernd in neue regionale Konflikte hineingezogen zu werden, um letztlich irgendwann dem Dritten Großen Krieg zu begegnen. Auch der Westen wird sich an neue Realitäten anpassen müssen, an ein immer dramatischer arm werdendes Russland, an eine mehr und mehr zügellose, patriarchale Hegemonialmacht. Den Frieden gewinnt man nicht in Kontemplation.

12.03.2022

 

[1] Fremdenfeindlichkeit oder Xenophobie; von griechisch ξενοφοβία „Furcht vor dem Fremden“, von ξένος xénos „fremd“, „Fremder“, und φοβία phobía „Flucht, Furcht, Schrecken“.

[2] Bots nutzen für ihre Aktivitäten u. a. Accounts in sozialen Netzwerken wie etwa Twitter oder Facebook. Ihre Aufgabe ist es, Beiträge zu teilen, zu liken, zu kommentieren, anderen Nutzerprofilen zu folgen oder selbst Nachrichten zu erzeugen und diese in den Umlauf zu bringen, vergleichbar mit Spam im E-Mail-Postfach.

[3] Nicht zufällig wird der „Trug“ bei Dante als eins der hässlichsten und abscheulisten Ungeheuer beschrieben: „Sieh da, das Untier mit dem spitzen Schweif, […]Das ekelhafte Bild des Truges nahte,[…] Hatt‘ ein Gesicht wie Biedermanns Gesicht, gar gütig anzuschaun, von zarter Haut, der übrige Leib war eine Schlange. Zwei Tatzen hatt‘ es, haarig bis zur Achsel… Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Piper, München 1969. S. 81