Aus Kapitel 4: Hallo Mr. Unknown

FRAKTALE EMPIRIE

Dasein ist die Kunst des Vermutens. Eine Vermutung ist eine in Grenzen annehmbare vage Erwartung. Der Grad der Vagheit in unseren Erwartungen hängt überwiegend davon ab, welche Zeitform in unseren Erwartungen vorherrscht. Es gibt kurzfristige Erwartungen wie etwa: ich erwarte, dass die U-Bahn pünktlich kommt. Würden wir hier von einer vagen Erwartung sprechen müssen, dann wären externe Faktoren hochwahrscheinlich am Werke, wovon es zahlreiche gibt. Die spielen implizit die Hauptrolle, wenn ich z. B. davon ausgehe, dass der Zug hochwahrscheinlich auch heute wieder nicht pünktlich ankommt. In beiden Fällen ist die Zeitform meiner Erwartungen kurzfristig. Es gibt natürlich auch langfristige Erwartungen wie z. B.: ich erwarte, dass ich das Haus in dreißig Jahren abbezahlt haben werde und es dann mir gehört und ich damit machen kann, was ich will, ohne eine Bank o. a. danach zu fragen und mir Erlaubnis einzuholen. Langfristige Erwartungen tragen eine ganze Reihe von Vagheits-Faktoren, von auf lange Sicht betrachteten Zufällen in sich. Meine Erwartung hängt ganz wesentlich von solchen Zufällen ab wie: ich erleide keine schwere Erkrankung, ich werde kontinuierlich in Erwerbsarbeit tätig sein und Lohn oder Gehalt in einer gewissen Größenordnung erhalten. Meine Ehe geht nicht kaputt und wir müssen nicht das noch nicht bezahlte Haus aufteilen bzw. einen der Ehepartner ausbezahlen usw.

Zufälle gibt es einige, die meine langfristigen Erwartungen unterlaufen können, die bedeutendste Klasse von solcherart Zufällen aber ist bei Erwartungen finanzieller Art die Politik; heute mehr denn je zuvor. Wir behaupten, es ist nicht die mit den Erwartungen direkt verbundene Empirie, sondern ein unsichtbarer Komplex, den wir als Politik mit ökonomischen Auswirkungen – was Politik ja fast generell heute adressiert – bezeichnen. Wir haben ausführlich dargelegt wie die politische Ökonomie (ein anderer Begriff für Volkswirtschaft) durch Politik sich zu einer Politischen Ökonomie transformiert, also zu einem Faktor wird, der politisch mit ökonomischen Auswirkungen direkt in die Ökonomie eingreift, teils im normalen, teils in einem nicht normalen Geltungsbereich. Politische Normalität ist die Regulation der laufenden, ökologischen Transformation. Nicht normal sind die Eingriffe in die Ökonomie, die über die Geldwirtschaft laufen. Dass dabei die Empirie ungleich schwerer wahrzunehmen und demokratisch zu legitimieren ist, hat viele Faktoren wie etwa den grundlegenden Faktor, dass Ent-scheidungen der Geldpolitik nicht im Europäischen Parlament, sondern im EU-Rat gefällt werden, zu denen wir aber später noch detaillierter kommen.

Unsichtbare Faktoren bzw. Strukturen, die das Dasein der Menschen entscheidend beeinflussen und der demokratischen Kontrolle entzogen sind, kennen wir aus der Ökonomik am besten. Wir kennen das berühmte Saysche Theorem, wonach das Angebot an Waren und Gütern der Nachfrage nach denselben entsprechend gegenübersteht. Dieses Fundament des ökonomischen Gleichgewichts-Axioms ist oft kritisiert worden, vor allem von Keynes, oft theoretisch überwunden worden, doch wie sieht es aus in der Realität nach so vielen Jahren?

Das Saysche Theorem hat in einer Art unsichtbarer Selbstverteidigung überlebt. Es erklärt nicht die Implikation, dass in einer gewissen, aber nicht aus-gewiesenen Weise die gesamten Produktionskosten von Waren und Gütern direkt oder indirekt beim Kauf von Waren und Gütern ausgeglichen werden, aber vieles spricht dafür, das dem so ist, zählen wir Pleiten, Fehlkäufe, Fehlinvestitionen etc. zu den Total Costs hinzu und natürlich auch die Abzinsung von Spar- und Anlagevermögen. Uns interessieren aber nicht diese Detailrechnungen, uns interessiert die Dynamik, die daraus sich eigenständig entwickelt, weil eben Investitionen in Produktion und Logistik und Reallöhne, hier für den privaten Konsum, in keinem relationalen, keinem kausalen Verhältnis zueinanderstehen, sondern die dynamische Entwicklung des Konsums z. B. sich aus deren Komplementarität ergibt. Dann haben wir kein Gleichgewicht, sondern ein asymmetrisches, dynamisches Kräfteverhältnis, welches das Prinzip der effektiven Nachfrage und des effektiven Angebots betreibt. Dass dieses Prinzip aus asymmetrisch sequentiellen Kräften besteht, versteht sich dann von selbst und so können wir dieses Prinzip auch in Anlehnung an den von dem Mathematiker Benoît Mandelbrot 1975 geprägten Begriff: Fraktal nennen.

Fraktale Empirie wird auch in der Logik der Zweiwertigkeit bzw. dem Bivalenz Prinzip adressiert, ist also so selten in ihren Anwendungen nicht. Sie ist gewissermaßen die Logik des Kalküls, die wir im Alltag tagtäglich benutzen, ob uns dies immer bewusst ist oder nicht. Ständig sind wir mit Empirie konfrontiert, die mit einer Wahrheit, einem Wahrheitswert in Opposition zu „falsch“ nicht auskommt. Solche empirischen Zusammenhänge bestehen sowohl in Aussagen, wie zum Beispiel: ich komme um „Fünf“, weiß es aber noch nicht genau, wie in zahlreichen Informationen und Sachverhalten. Immer dann, wenn es um Anschlussaktionen geht, also Folgen für mich aus fraktaler Empirie, werde ich in meinen Kalkülen eine Zuordnung von Wahrheitswerten vornehmen, die die Situation und was daraus folgt in Form von einer Bewertung und einer Wahrheit vornehmen, wobei die Bewertung das Kalkül „wahr“ und die Wahrheit das Kalkül „fasch“ erhält. Wahr ist dann das, was ich im Kalkül aller Wahr-scheinlichkeiten nach als höher wahrscheinlich halte, falsch, was ich eher für wahr halte, dass nämlich etwas mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht eintrifft. Dies gilt oft, weil wie meistens im menschlichen Dasein eine übergeordnete Bewertung im Sinne einer effektiven Bewertung nicht bekannt ist, nicht ermittelt werden kann, manchmal einfach deshalb nicht, weil die Zeit dazu nicht zur Verfügung steht.

Intelligente Navigationssysteme leiten uns einigermaßen sicher zu dem Ort, an dem wir pünktlich erscheinen wollen, wenn der direkte Weg mal wieder durch Stau auf einer Straße dorthin versperrt ist. Das aber ist keine künstliche Intelligenz (KI), sondern die Digitalisierung von Verkehrsfunk und Stra-ßenkarten, auf die wir uns lange Zeit verlassen konnten und unseren Weg, zwar nicht so bequem, aber durchaus sicher fanden, manchmal sogar sicherer, als wenn das Navi sich mal wieder dem Augenschein unterlegen erwies und einen in den nächsten Fluss oder Kanal bzw. Baustelle beförderte; das hat sich heute zum Glück minimiert. Beim Navi ist also alles alte, vertraute Intelligenz, künstlich ist nicht einmal die Darstellung, denn diese ist nichts anderes als ein Zusammenbringen von Nachrichten- und Kartenform. Gleichwohl trifft sie Vorhersagen so gut wie unsere vertraute, menschliche Intelligenz dies tagtäglich tut und geht ebenso gut auch mit den empirischen Zufällen wie Stau, Sperrun-gen, Bauarbeiten, Hochwasser, Überschwemmungen von Straßen etc. um wie der PKW-Fahrer von einst.

Chaotische Verhältnisse

Das alles ist linear. Obwohl zufällige Ereignisse unsere langfristigen, aber auch unserer kurzfristigen Erwartungen ständig durchkreuzen, hat der Mensch gelernt und alle Mittel, damit auf vielfältige und effektive Weise umzugehen. Das gelingt im Alltag aber nur dadurch, dass das, was zu unserem Alltag zählt, auch überwiegend in einer linearen Art und Weise organisiert ist. Wir haben das diskutiert an den beiden grundlegenden Begriffen Zeit und Raum[1] und wie wir Menschen dazu gekommen sind, zwei nicht lineare Phänomene linear zu beschreiben, zu übersetzen und zu organisieren.

Unser Alltag trägt zwangsläufig eine lineare Struktur, eine zeitliche und räumliche Ablaufstruktur, in der der Zufall, Diskontinuität, Chaos nicht vorkommen sollen. Wir gehen hinter- und nebeneinander und wollen nicht ständig einander anrempeln, wir fahren auf der Autobahn in Reih und Glied und reiht sich einer nur nicht ein, kann das zu unvorhersehbaren, großen Unfällen kommen. Der Unfallfahrer hatte bestimmt nicht die Absicht, einen Unfall zu bauen, aber bei einer gewissen Dichte des Verkehrs und zu großen Geschwindigkeitsdifferenzen mehrerer Fahrer erhöht sich das Risiko eines Unfalls drastisch. Menschen fragten sich lange Jahre, warum das nicht bei Staren- bei allen Vogelschwärmen oder im Schwarm der Heringe passiert, wenn diese durch Raubfische angegriffen werden, warum dieses scheinbar chaotische Verhalten stets glimpflich, ohne Unfall wie durchorganisiert stattfindet?

Das liegt daran, dass die Natur Freiheitsgrade, die sie dem Menschen in seiner Evolutionsgeschichte eingeräumt hat, nicht kennt. Schon die alten Philosophen erkannten den Determinismus als innerstes Naturprinzip und setzten die Freiheit als Wesen des menschlichen Daseins dagegen. Man mag diese zu enge Gegenführung kritisieren, gar unter Umständen beklagen, aber darin liegt keinesfalls die Ursünde des Menschen im Umgang mit der Natur. Denn das hieße ja auch, dass der Mensch an seinem Wesen so zu arbeiten, es so zu modulieren vermochte, dass der Mensch sich dem natürlichen Determinismus adaptiv anzugleichen in der Lage gewesen wäre; so ein Unsinn. Wenn es heute zunehmend schick geworden ist, neuere Denkansätze aus den Naturwissenschaften in die Philosophie mit hinüberzunehmen, dann geschieht dies in eben solch unreflektierter Weise und weil die allgemeinsten und konstitutiven Unterschiede zwischen Chaostheorie und einer Theorie der menschlichen Freiheit scheinbar wieder ins dunkle Reich der Vermutungen und Meinungen zurückgefallen sind.

Wir haben mehrmals schon gesehen, dass einmal erworbenes Wissen um die konstitutiven Faktoren des Denkens per se nicht von Bestand sind, erinnern wir nicht ständig daran. Einiges taucht in der Geschichte mehrmals gleicher Art auf, so dass manch Philosoph von der Wiederkehr des ewig Gleichen zu sprechen sich genötigt sah. Nicht nur Nietzsche kommt dieses zweifellos richtige Verdienst zu, aber mehr noch als die Tatsache, dass selbst Positives, von vielen Menschen Erkanntes, Bewährtes keinen dauerhaften Stand im Denken des Menschen findet, zeigt dies, wie chaotisch, wie disruptiv, dissoziativ das menschliche Denken an sich ist bzw. sein kann.

Die Chaostheorie ist – wie viele naturwissenschaftliche Denkansätze – durchaus erhellend auch für die Philosophie. Ihr theoretischer Ansatz innerhalb der mathematischen Physik bzw. der angewandten Mathematik, den nichtlinearen Dynamiken nachzudenken, also dem Wesen, den konstitutiven Kräften von dynamischen Systemen auf die Spur zu kommen, verspricht Neues und Spannendes. Nun muss man aber den ganzen theoretischen Ansatz zur Kenntnis nehmen und der besagt, dass die Chaostheorie das zeitliche Verhalten von Systemen mit deterministisch chaotischer Dynamik beschreibt, es ihr also schon vom Ansatz weg nicht um Freiheit und damit um ein wirkliches Chaos geht.
Sie hat sich gewissermaßen einen Begriff, wahrscheinlich aus Euphorie erschlichen und schleppt diesen nun ständig weiter mit sich herum. Ohne diese Assoziation zur Freiheit als Chaos wäre sie nur eine höher komplexe Beschreibung eines Natur-Determinismus, was sie immer auch vorher schon war.

Das Neue, das vom Chaos hervorgehen soll, wäre verloren; das will sie nicht. Auch für die Philosophie wäre es desillusionierend, fände die Naturwissenschaft nicht mehr ihren Weg zurück zum Nous der alten Griechen, mit dem sie sich ja einst so hervorragend dynamisch (griech. Dynamis) in einer geradezu komplementärer Art und Weise entwickelt hat.
Es soll nicht als Überheblichkeit verstanden werden, aber die Forschungen von Henri Poincaré, Edward N. Lorenz, Benoît Mandelbrot und Mitchell Feigenbaum u. a. sind alle doch neueren Datums und beschäftigen sich mit einer Fragestellung, die bereits von Heraklit, also mehr als zweitausend Jahre vorher ausformuliert worden ist[2].
Hier heißt das das Werden, dort sind das Ordnungen in speziellen dynamischen Systemen, deren zeitliche Entwicklung unvorhersagbar erscheint. Hier heißt dies „Nichtung des Seins“ (Heidegger SuZ), dort „obwohl die zugrundeliegenden Gleichungen eigentlich deterministisch sind.“ Beide, Teile der Naturwissenschaft heute und Teile der Philosophie schon seit immer gehen davon aus, dass Systeme bzw. Ordnungen bezüglich ihrer Anfangsbedingungen sensibel, also instabil sind und somit dynamisch und nicht linear sind in Beziehung zu ihrem Langzeitverhalten. Identisches Wiederholen, Heraklits Satz: man badet nicht zweimal im gleichen Fluss, ist demnach nicht möglich, es sei denn wir ziehen ein Gleichheitskriterium ein, welches diese Identität garantiert, das ist das ceteris paribus, „unter sonst gleichen Bedingungen“, das in der Ökonomik eine ganz zentrale Rolle spielt (Keynes).[3]

[1] Franz Rieder: Philosophie des menschlichen Daseins. Band 1. Kap. Raum und Zeit. S. 21
[2] Franz Rieder: Philosophie des menschlichen Daseins. Band 1. S. 28.
[3] Ceteris-Paribus-Klausel (c.p. oder cet. par.); Analyse eines Zusammenhangs unter der Annahme, dass sich nur die betrachtete Variable ändert bei gleichzeitiger Konstanz aller anderen ökonomischen Variablen.