Calvinistische Wirtschaftsethik

Wirklichsein-MĂŒssen und Wirklichsein-Können sind die zentralen Kategorien calvinistischer Denkmodelle. Angewandt auf den Begriff und die reallogischen Vorstellungen von Arbeit finden wir in der calvinistischen Wirtschaftsethik eine Weiterentwicklung der Vorstellung von Arbeit, wie sie vom großen Reformator Martin Luther aufgehoben, ĂŒbergeben worden war. Luthers Konzept des „allgemeinen Priestertums“ beendete die traditionelle Unterscheidung von Klerus und Laien, Calvin begrĂŒndete die Unterscheidung von Arbeit und Freizeit als Zeit der Regeneration der Arbeitskraft. Nach Luther konnte nun jede menschliche BerufstĂ€tigkeit ein Gottesdienst sein – wie spĂ€ter auch die Nazis diesen Vergleich auf den Kriegsdienst als einen Gottesdienst erweiterten. In Anlehnung an den 1. Korintherbrief soll jeder Mensch „in dem Beruf“ bleiben „darinnen er berufen ist“ , sĂ€kularisiert Calvin die menschliche Existenz in eine Arbeitsexistenz und weil Arbeit (Berufsarbeit bei Luther) generell nun der Beiwohnung des Gottesdienstes und einer göttlichen Ordnung gleichgestellt ist, und der Christ durch sein Streben nach beruflichem Erfolg seiner göttlichen Wahl nachkommt, an dem Ort, an den er beruflich gestellt ist, sein Bestes zu geben hat.

Daraus wurde relativ schnell im angelsĂ€chsischen Puritanismus die religiöse Überzeugung, dass der Mensch selbst wie die soziale Gemeinschaft am beruflichen Erfolg ablesen können, ob er von Gott erwĂ€hlt worden ist, oder nicht, und auch in welcher graduellen GĂŒte Gottes der Mensch bzw. seine Familie stehen. Gut sind die Menschen, die beruflich viel schaffen, besser die, die ĂŒber Generationen Gottes Wohlgefallen verdient haben. Damit ist Arbeit eine nachhaltige und metrische GrĂ¶ĂŸe geworden einerseits und hat Arbeit zugleich eine ethische Dimension gewonnen und man darf Parallelen ziehen in die Antike und erkennen, dass in der calvinistischen Wirtschaftsethik religiöse und antike Vorstellungen zu einem IdeengebĂ€ude zusammenfinden. Denn die metrische GrĂ¶ĂŸe der Arbeit wurde durch Calvin zu einem religiösen, einem gottgefĂ€lligen Prinzip erhoben, welches nicht nur die Arbeit als solche betrifft, sondern eine gottgefĂ€llige Arbeit, die zugleich auch ethische, das heißt allgemeinverbindliche Aussagen beinhaltet, die der sozialen Gemeinschaft dienen. Der Gedanke der Gerechtigkeit war von gleicher metrischer QualitĂ€t, denn was aus Arbeit gewonnen wurde, sollte nun zu einem Teil der Allgemeinheit dienen und so noch mehr zu Gottes Wohlgefallen beitragen.

Thomas Piketty hat zwei Begriffe entwickelt, die wir fĂŒr diesen Zusammenhang ĂŒbernehmen, aber mit leichten VerĂ€nderungen in den Begriffsbestimmungen, Meritokratie und Neoproprietarismus . Calvins Predigt von harter Arbeit und Nachhaltigkeit eröffnet eine sichtbare Metrik von Besitz und Eigentum, die darauf abzielt, die wirtschaftlichen Gewinner in den Himmel zu loben und die Verlierer des ökonomischen Systems zu stigmatisieren, weil es ihnen an Verdienst, Fleiß und sonstigen Tugenden fehlt. So tragen sie auch wenig bis gar nichts zur sozialen Wohlfahrt bei, im Gegenteil, sind sie ein Teil der Wohlfahrt und damit angewiesen auf die Alimentierung durch die Gesellschaft. Der meritokratische Diskurs, also die Rede ĂŒber die messbar ökonomischen Verdienste einer Person und seines Beitrags fĂŒr die allgemeine Wohlfahrt war zu Zeiten Luthers und Calvin natĂŒrlich noch nicht systematisch so ausgeprĂ€gt wie dies heute vor allem in den USA und deren Charity-Meritokratie sichtbar geworden ist. Gleichwohl war mit der meritokratischen Ansicht und der metrischen Bedeutung seiner Arbeit die Grundlage gelegt, wie wir bis heute in weiten Teilen der Welt, auch der westlichen Industriestaaten, gesellschaftliche Unterschiede auf der Grundlage vermeintlich individueller FĂ€higkeiten und angesichts scheinbar messbarer und sichtbarer ReichtĂŒmer bestimmen und rechtfertigen. Die Rede von Eliten reproduziert dieses calvinistische Prinzip: „Überlegenheit ist die Quelle alles Großen und NĂŒtzlichen. Wenn man alles gleich macht, gibt es am Ende nur Tatenlosigkeit“.

Bleiben wir dabei, die Reformation und der Calvinismus wie dann der angelsĂ€chsische Puritanismus haben in immer differenzierteren Formen, angepasst an die politischen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte, Arbeit und Wirtschaft zu einer eigenen Ethik geformt, in der von einem gottgewollten Schicksal der Mensch in seinen Berufsstand gesetzt ist, aus dem er aber durch harte Arbeit und Verdienste an der Allgemeinheit herausfinden, aufsteigen und so gleichsam Gott nĂ€herkommen kann; sein gesellschaftlicher Aufstieg ist also möglich und prinzipiell gesegnet. Aber was ist das fĂŒr eine Möglichkeit, deren Bestimmung allein in der RealsphĂ€re aus einem Wirklichsein-MĂŒssen zu einem Wirklichsein-Können herausfĂŒhrt? Die RealsphĂ€re als Notwendigkeit bleibt unangetastet; RevolutionĂ€re sind unerwĂŒnscht und Ketzer werden brennen.
Man muss arbeiten und wenn man mehr arbeitet, kann man herausfinden aus einer proprietĂ€ren Gesellschaftsordnung, in der messbares Eigentum, geldwertes Eigentum wie Kapitaleigentum zĂ€hlen. Um einem Irrtum gleich vorzubeugen, wenn wir von BesitztĂŒmern an Land wie Immobilien sprechen, dann sind solche BesitztĂŒmer im eigentlichen Sinne unserer modernen Rechtsauffassung Privateigentum, es sei denn, sie sind aus Sicht des Besitzers eine Mietsache. Das Anwesen, auf dem man wohnt, muss kein Privateigentum sein, sondern kann auch als Mietsache zum Besitz zĂ€hlen, gleichwohl dessen Charakter als Privateigentum durch steuerliche oder juristische Gestaltungsmöglichkeiten verschleiert ist. Wir können daher nur annĂ€hernd zwischen Besitz und Eigentum unterscheiden; es bleibt eine UnschĂ€rfe, die wir spĂ€ter noch einmal beleuchten werden.

Der Calvinismus hat Arbeit personalisiert und individualisiert, es ist eine Person, die hart arbeitet, um sich aus der Armut zu befreien und es sind alle Armen, die so tun mĂŒssen und tun können, jeder Einzelne. Der Proprietarismus des monetĂ€ren Reichtums ist sogleich als Summe aller Individuen durchgezĂ€hlt eine Gesellschaftsschicht. Aber dieses Schichtenmodell des Monetarismus steht beileibe nicht allein, ihm zur Seite stand damals neben der Wirtschaftsethik auch eine politische Ethik, die vor allem im Zensussystem der politischen Machtreproduktion bestand. WĂ€hlen durfte damals nur der, der zĂ€hlbare Finanzmittel nachweisen konnte. Wie heute, zĂ€hlte auch damals nur der Staat, jeden Einzelnen bzw. jeden, der zu einer bestimmten Einkommensgruppe gehörte und verlieh ihm bzw. den Gruppen das Wahlrecht oder sprach es ihnen ab. Steueraufkommen, Vermögen, im antiken Griechenland vor allem Grundbesitz wurden gezĂ€hlt oder es wurden, wie im preußischen Dreiklassenwahlrecht auch Mindervermögende zur Wahl zugelassen, deren Stimme aber wie im antiken Griechenland bei den Nicht-VollbĂŒrgern (Band I. Kap.6: MachtverstĂ€ndnis) weniger Gewicht bei der AuszĂ€hlung hatte.
Das politische Zensussystem aber war nicht nur ein Wahlsystem, sondern ein soziales Klassensystem und dies bereits wie wir zeigen konnten in der attischen Demokratie. Denn bereits dort waren die politischen Rechte an Einkommen, Vermögen bzw. ein Mindestvermögen gebunden, ohne dessen Nachweis man z.B. an keiner Volksversammlung teilnehmen durfte . Eine Folge des Zensussystem war, dass die wohlhabenden Schichten einer Gesellschaft auch die höchsten StaatsĂ€mter und politischen Entscheidungsebenen unter sich aufteilten und die Theten, die Ă€rmeren Schichten, keine Beteiligung an Entscheidungen genossen und so die politische Macht stets als fremd und notwendig erfahren mussten. Und vielbedeutender noch als das, sie konnten damals ihre Möglichkeiten nicht als einen Teil ihres Daseins erfahren. Wie in der attischen Demokratie war auch das römische Zensussystem von dieser strukturellen Einteilung der BĂŒrger der römischen Republik in Zensus- und damit auch in soziale Klassen. Das bedingte, dass in der wichtigsten Volksversammlung der Römischen Republik, der Comitia Centuria, auch nur BĂŒrger der wohlhabenden Schichten, die NobilitĂ€t (u.a.) vertreten waren und mit ihrer Stimmenmehrheit politisch stets der realen Mehrheit der einfachen, der gemeinen BĂŒrger im Volke, den sogenannten Plebs stets ĂŒberlegen blieben. Der Überlegenheitsgedanken ist also alt und lebt bis heute, gleichwohl in den modernen Gesellschaften die Prinzipien der Meritokratie, des Proprietarismus‘ und des Zensussystem nicht mehr auf die antike Art miteinander verbunden sind.

Diese Struktur aber blieb bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, in manchen Staaten bis Anfang des 20. Jahrhunderts sogar erhalten und wurde in der Moderne ĂŒberraschenderweise und ausgerechnet von dem Land entscheidend geprĂ€gt, das in der Tradition der Französischen Revolution stand. Neben Frankreich gab es das Zensuswahlrecht in LĂ€ndern wie Schweden, den USA, Luxemburg, Norwegen und Spanien, die lange Zeit daran festhielten in einer Art imitatio veterum, die zugleich aber nicht im Widerspruch stand zu allen anderen calvinistischen Vorstellungen eines gottgefĂ€lligen Staates. Bis heute besteht in den USA die Auffassung, dass wohlhabende Familien, die einst als Immigranten in die neue Welt kamen und ihren amerikanischen Traum verwirklicht haben, also aus eigener Arbeitskraft zu großem Wohlstand gekommen sind, auch zu höchstem Ansehen und höchsten politischen Ämtern prĂ€destiniert sind. Auch in den USA von heute regieren wohlhabende Schichten, seien sie Demokraten oder Republikaner und reproduzieren die politischen Machtstrukturen sowie die einflussreichsten öffentlichen Ämter innerhalb einer, durch Vermögen erworbenen Mitgliedschaft, einer Zugehörigkeit zu einer strukturellen, vor allem sozial-nativistischen und informellen MachtsphĂ€re, hier besonders die FinanzmĂ€rkte, die neuen Medien und die neuen Technologien von KI und Krypto-Technologien. Wir haben immer wieder sehen mĂŒssen, wie einflussreiche Geldgeber bestimmen, wer in die Vorauswahl als PrĂ€sidentschaftskandidat kommt und dann mit milliardenschwerer UnterstĂŒtzung in den Wahlkampf geht; mit dem Geld könnte man aber wahrlich Besseres anfangen, als donald t. auf den Sitz zu heben.

Das calvinistische Konzept der Meritokratie besteht zusammengefasst aus augenfĂ€lligen, messbaren GrĂ¶ĂŸen scheinbar individueller Leistung und nĂŒtzlichen Verdiensten, aus einer Art Überlegenheit, die Respekt teils fordert aber stets gebietet, aus FĂ€higkeiten, deren man sich vernĂŒnftigerweise nicht berauben oder ersatzlos beraubt werden kann, wozu Herkunft und heute mehr denn je auch der Bildungsabschluss gehören. Alle informellen Errungenschaften, manche auf den Elite-Schulen bereits eingefĂ€delt, halten ein Leben lang und bilden die in den angelsĂ€chsischen LĂ€ndern weit verbreitete Alumni-Kultur, die sich auch als Förderkultur so sehr entwickelt hat, dass ohne sie die LĂ€nder regelrecht zusammenbrechen wĂŒrden. Wir sehen hier etwas, was man schnell mit den Wohlfahrtsstaaten europĂ€ischer PrĂ€gung vergleichen möchte, dem aber ist so schnell auf diese Weise nicht beizukommen. Der Wohlfahrtsstaat ist prima Vista bereits deutlich zu erkennen, ein steuerfinanzierter Solidarpakt und keine private, freiwillige Angelegenheit; wir haben sehr ausfĂŒhrlich dazu gehandelt (Band II. Kap. 8 und 9). Die calvinistische Wirtschaftsethik basiert also auf einem reformatorischen Arbeitsbegriff und der Auffassung, dass der Mensch selbst es ist, der durch sein Handeln einer vorgegebenen göttlichen Ordnung bestmöglich zu entsprechen hat; Egoismus und Selbstbezogenheit gehören nicht dazu. Im Gegenteil, Calvins Wirtschaftsethik besteht nicht nur darin, dass ohne Arbeit kein Einkommen und ohne Einkommen kein Beitrag zur Gesellschaft möglich ist, sie ist auch ein Kulturmandat. Sie beschĂ€ftigt sich daher nicht nur mit dem persönlichen Glauben und dem Zustand der Kirche, sondern hat eine gleichsam prophetische Stimme in allen Lebensbereichen, in Politik, Industrie, Handel, Wissenschaft, Kunst, Bildung, Gesundheitswesen, usw.

Unter dem Zeichen eines „New Calvinism“ agieren US-amerikanische Prediger mit hohem Einfluss auf alle Lebensbereiche der Vereinigten Staaten und auf die Politik und verkĂŒnden eine Wirtschaftsethik, die mehr Verantwortung will fĂŒr Eigentum, Besitz und Gewinn. Die das alttestamentarische Festhalten am Zinsverbot soweit relativiert, dass die Zinsnahme dann uneingeschrĂ€nkt gelte, wenn die Kapitalgewinne bzw. große Anteile davon spĂ€ter der Gemeinschaft gespendet werden und zugutekommen, etwa in der Finanzierung von Bildungseinrichtungen. Das Zinsnehmen ist also möglich, wenn es im Geiste Gottes sich vollzieht und den Regeln der Gerechtigkeit diene, wobei die Befolgung der Regeln der Gerechtigkeit dem Einzelnen freiwillig einzuhalten obliegt. Wie im Zins so steht auch die Kirche ambivalent zur Entscheidungsfreiheit des Einzelnen. Sie Ă€chtete den Zins, nahm aber davon gerne und reichlich, besonders von den Reichen, von den Fuggern und den Florentiner Di Medici Dynastien, den historischen VorlĂ€ufern der modernen Global Companies. Solange es dem Gemeinwohl diene, könne auch Geldverleihen gegen Zinsen einen nĂŒtzlichen Beitrag leisten, ganz im Sinne der neuen Religion und so sah nicht nur Max Weber Parallelen zwischen Kapitalismus und calvinistischem Arbeitsethos und darin auch die Grundlage der kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Das Leben der GlĂ€ubigen ist ein Leben, geprĂ€gt von Dankbarkeit und Gehorsam, gekennzeichnet durch Fleiß, Selbstdisziplin, Sparsamkeit, GenĂŒgsamkeit. Das fĂŒhrt zu einer guten ökonomischen Entwicklung und zur Entwicklung der Wissenschaften. Alle menschliche Arbeit, die Wissenschaft und eine gute Bildung sind wertvoll und zur Ehre Gottes und haben deswegen Sinn. Aber damit Arbeit auch einen gesellschaftlichen Sinn hat, darf harte Arbeit nicht sofort zu wildem Konsum fĂŒhren, wie auch zu faulen Krediten in einem entfesselten Pumpkapitalismus, so fĂŒhren moderne Calvinisten heute aus, nicht im Sinne Gottes sind.

Verzicht auf sofortige Befriedigung der KonsumbedĂŒrfnisse, ein gegen den Schuldenkapitalismus gerichteter Sparkapitalismus auf privater Ebene, ein Investitionskapitalismus auf der Unternehmensebene, so in etwa lesen heute Schweizer Banker und Industrieelle Calvins Wirtschaftsethik neu und meinen, auch wenn das religiöse IdeengebĂ€ude zwar weitgehend eingestĂŒrzt ist, es trotzdem sinnvoll sei, sich an die Lehre Calvins neu zu besinnen; die enge Beziehung zwischen Calvinismus und angelsĂ€chsischem Puritanismus aber bleibt unbeschadet, als wĂ€re sie ein Zufall in der Geschichte. Fakt ist, der moderne Mensch lebt auf Pump (USA) oder spart zu viel, wie andere von Deutschland sagen. Schreibt man den Deutschen ein Höchstmaß an SekundĂ€rtugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Ordnungssinn und ZuverlĂ€ssigkeit zu, wĂ€ren die Hedonisten und Geldverschwender aus den USA ja geradezu eine Alternative dazu; mitnichten. Deutsche wie Amerikaner arbeiten beide hart und beide geben massenhaft Geld aus, um einen Fetischkonsum zu befriedigen, indem sie Waren kaufen, die völlig ĂŒberflĂŒssig sind, um Besitz und Eigentum zu erwerben, die die Leere der Freizeitkultur nicht zu fĂŒllen vermögen und die einem Kapitalfetischismus aufsitzen, der rĂŒcksichtslos gegen Menschen und Natur am eigenen, gottĂ€hnlichen Stautuserwerb arbeitet.

Der Tanz ist beendet - Das MĂ€dchen ist tot