Wenn zwei so unterschiedliche Auffassungen in der obersten Rechtsprechung z. B. von EuGH und dem deutschen Bundesverfassungsgericht sichtbar werden wie im Falle der Geldpolitik der EZB, dann liegt hier kein Mangel an Rechtsauffassungen vor, sondern ein politisches Problem. Das Problem ist allen bekannt, seit vielen Jahren, ja bereits bei der Einführung des Euros und noch weiter zurück bei der Gründung der EU war die Asymmetrie zwischen dem Wirtschaftssystem und dem politischen System Europa die zentrale Bruchstelle des europäischen Experiments. Diese Bruchstelle eint oder trennt den Wirtschafts- und Kulturraum Europa. Heute sieht es überwiegend so aus, dass der Wirtschaftsraum selbst bei der Hälfte der Briten willkommen ist, eine politische und somit kulturelle Integration aber auf zunehmende Ablehnung stößt.
Die Idee von Europa als eine integrierte Wirtschaftszone, bestehend aus 28 bzw. 27 autonomen Staaten, scheint an der Vorstellungskraft aller beteiligten Staaten und auch in den Reihen der Ökonomik an zu schwacher Vorstellungskraft zu scheitern. Zum Scheitern verurteilt, weil an der Geldpolitik der EZB sich die Diskussion über die Notwendigkeit einer politischen Integration entzündet hat, weitgehend repräsentiert in den französischen versus deutschen Auffassungen. Frankreich will die politische Integration in der Nähe seines Zentralstaates, Deutschland ein dem bundesstaatlichen System nahes Modell. Im Kern aller Modelle einer möglichen, politischen Integration aber spaltet die Frage der Fiskalpolitik die Gemüter und schwächt deren Vorstellungskraft. So wirklich niemand will einen europäischen Zentralstaat, jedenfalls nicht die Mehrheit der europäischen Staaten. Das Modell eines Bundesstaates aber stand von Anfang an in der Diskussion und war unterschwellig unter der Wirtschaftsunion auch immer die Blaupause für die politische Integration. Blaupause für die Vereinigten Staaten von Europa nach USA-Vorbild, oder nach dem Vorbild des Schweizer Kantonsmodell. Nehmen wir den Stand heute, dann sind ein gemeinsames, europäisches Rechtssystem, eine europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bei aller detailversessenen Auseinandersetzung bei deren Umsetzung kein wirkliches Problem bei der europäischen Integration mehr. Aber Ökonomen wie Sinn (2015) fordern eine „zentrale Gewalt“ für eine europäische Fiskalpolitik und haben dabei konservativ den Blick auf eine regelbasierte Vertragsgemeinschaft im Auge, die als Schuldenregime fungiert und die Geldströme im Zaum hält. Ein Zweikammersystem der politischen Legislative ist dabei ebenso nachrangig wie ein geregelter Finanzausgleich zwischen den europäischen Staaten. Vorrangig ist und bleibt die Einhegung jeder Art von überlaufender Schuldenfinanzierung zwischen den Staaten, die zu einer Umschreibung öffentlicher zu privaten Schulden führt.
Was wir bis hierhin festhalten können, ist, dass nicht das europäische Wirtschaftssystem oder das europäische Finanzsystem an und für sich den problematischen Kern einer nicht wirklich gelingen wollenden Integration darstellt, sondern die bislang nicht gelungene politische Integration. Wenn aber eine Integration nicht auf eine Zentralgewalt, auf eine repräsentative Demokratie hinauslaufen soll, die für ganz Europa gleichsam zuständig ist, welches Modell soll denn dann alternativ dazu den Bürgern Europa vorgestellt werden? Das amerikanische Modell kann es nicht sein, da dieses Modell nicht einmal die Vergemeinschaftung der Schulden, die die amerikanische Politische Ökonomie alljährlich erzeugt, verhindern kann. Die offiziell berichteten Schulden der USA laufen in diesem Jahr 2019 über die Eine- Billionen-Dollar-Grenze hinaus, gleichwohl deren Abbau erklärtes Ziel der US-Regierung war und die zugleich ein deutlich höheres Niveau haben dürften, würde in den USA seriös bei den Haushalten bilanziert. Vergleicht man den US- mit dem EU-Haushalt werden schnell unterschiedliche Bilanzvorstellungen sichtbar, auf die wir hier nicht näher eingehen möchten.
Was wir festhalten ist, dass die USA mit knapp 327 Millionen Einwohnern deutlich größere Schwierigkeiten im Haushalt und besonders in den Umverteilungs- und Wohlfahrtspositionen haben als im Vergleich dazu Europa mit knapp 523 Mio. Einwohnern. Und wer heute über eine Reform jedweder politischen Integration nachdenkt, sollte zwei Aspekte nicht aus den Augen verlieren. In einer immer weiter zunehmenden Integration von Staaten weltweit und wenn auch ’nur‘ in ökonomischer Hinsicht, ist kleinteiliges Nationaldenken ebenso rückständig wie ein Modell Europa, das nicht ganz Europa einbezieht. Dann sprechen wir sofort über eine Integration von über 750 Mio. Menschen, also knapp dem Zweieinhalbfachen der USA. Von diesem Aspekt aus betrachtet sind die Vereinigten Staaten von Europa nach US-Vorbild keine Alternative. Zu einem alternativen Modell Europa gehört neben der Berücksichtigung der Globalisierung natürlich auch die Entwicklung auf den Geldmärkten, zu der wir gleich zurückkommen werden. Vorab aber notieren wir, dass der Umverteilungsgedanke in Europa keine wirklich große Rolle bislang gespielt hat und also keine fiskalisch operierende Zentralgewalt notwendig macht.
Eine fiskalische Zentralgewalt würde in den Kern der europäischen Integration das nationalstaatliche Gläubiger-Schuldner-Verhältnis einschreiben. Genau genommen würde eine transnationale Integration auf dieses nationale, geldpolitische Schuldverhältnis zurückgeschrieben. So sehr das Rechtsverhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern auch das Zeitalter der Entwicklung der Nationalökonomien geprägt und beherrscht hat, es ist für die Zukunft nicht mehr in dem Ausmaß wie bisher nützlich noch notwendig. Wie immer auch die innereuropäische Umverteilung von Vermögen und Kapital kolportiert wird, es gab keine nennenswerte Umverteilung, die eine zentralstaatliche Gewalt zur Einhaltung von Haftungsregeln und zur Einhaltung von Umverteilungsgrenzen hätte erfordert. Was wir heute sehen, ist zwar defacto eine Transferunion, aber diesen Ausdruck einmal entideologisiert, erkennt man, dass die Transfersummen wohl keine zentrifugalen und zerstörerischen Kräfte in die Eurozone und darüber hinaus in die gesamte EU hinein entfalten. Was die Bürger, wenn überhaupt, beschäftigt, ist die politische Dimension dieser Transfers. Kaum eine handfeste Kritik geht in Richtung Griechenland, keine nach Irland, Spanien und Portugal; alle richtet sich, so hörbar, in Richtung Italien. Und wenn man genau hinhört, dann geht es nicht um die Transfers als solche, sondern gegen die unterstellte Nicht-Reziprozität. Die Bürger glauben nicht, dass in einem Fall, wenn etwa die Niederlande oder Deutschland auf italienische Transfers angewiesen wäre, diese auch von Italien aus in alle Richtungen fließen würden – wir haben an dieser Stelle bewusst das große Problem der Migration ausgeblendet.
Zurück zum Schuldenregime. Ein Schuldenregime wie etwa das der USA war gut in vergangenen Zeiten. Da galt, es gibt kein Subsidiaritätsprinzip wie wir das im bundesstaatlichen Modell Deutschlands kennen, sondern allein das privat-haftungsrechtliche Prinzip. So sind die US-Bundesstaaten gegenüber ihren Gläubigern im Prinzip wie zwei private Vertragspartner, die im Geldgeschäft untereinander zu einer Einigung kommen, betreffend Höhe, Laufzeit und Zins von Krediten. Der Zins, so haben wir sehr viel früher ausgeführt, ist prinzipiell der Preis dieses Geschäftes, der sich klar nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten ausrichtet. Gelten also reine marktwirtschaftliche Kriterien, dann müssten viele US-Bundesstaaten, weil sie wenig vertrauensvolle resp. sichere Schuldner sind, so hohe Zinsen für die Refinanzierung ihrer Haushalte aufbringen, dass sie wohl schnell in die Zahlungsunfähigkeit geraten würden; Bankrotte in Reihe wären die Folgen, wenn die USA strikte nach dem No-Bail-out Prinzip verfahren würden.
Wir haben detailliert gezeigt, dass solch ein Schuldenregime nun wahrlich kein Vorbild für das europäische Finanzsystem abgeben kann. In diesem Prinzip nämlich werden die selbst föderal miteinander verbundenen Mitglieder einer integrierten, selbst nur wirtschaftlichen Einheit, geldpolitisch sich selbst überlassen und wenn sie sich auf den Finanzmärkten überhoben haben, in die folgende Insolvenz überlassen. Gerade an den USA erkennt man, dass es eben nicht so ist, wie Sinn ausführt:
So paradox es klingen mag, das Insolvenzrisiko ist ein stabilisierendes Element, das alles zusammenhält, weil es eine Schuldendisziplin hervorruft.“1
Gerade die Bundesstaaten der USA stehen gegenüber ihren Gläubigern in einem Gläubiger-Schuldner-Verhältnis, das aber längst und in Wahrheit so nicht mehr besteht, weil das bundesstaatliche Modell der USA seit Jahren schon keinen Bestand mehr hat. In dieses Verhältnis hinein regiert eine Politische Ökonomie, die die föderalen Partner belastet und ihnen keine Autonomie mehr belässt, dem Treiben im Oval Office und in Washington den nötigen Einhalt zu gebieten; die checks and balances haben auf dieser Ebene komplett versagt. Was können die Staaten des Rust Belts gegen Donald t. machen, gegen seine wahnwitzigen Handels- und Währungskriege, die er in notorischem Getwitter fast täglich an die Adresse der Fed am liebsten noch verschärfen würde? Was reitet die, die Europa die Politik der USA zum Modellvorbild, zum politischen Mustersatz für die Zukunft nahelegen will?
Was die USA uns zurzeit aufführen ist aber nicht das Modell Donald t. Dieser Präsident ist kein Unfall oder Ausfall in personam. Das amerikanische Modell, so haben wir gezeigt, kommt in der infantilen Vorstellungswelt von Donald t. an seinen kumulativen Endpunkt; die USA werden heute ohne Politik regiert. Wenn auch nur irgendetwas an Politik der USA noch zu tun hat mit der Idee Platons und ihrer näheren Bestimmung durch Aristoteles, Donald t. hat damit nicht mehr zu tun. Wenn Politik wie die Zinsen in einen negativen Bereich durch Handeln kommen können, dann hat das politische Establishment der USA in 2019 sein vorläufiges Allzeittief erreicht. Und wenn es noch eines Beispiels zur Bestätigung der politischen Stagflation bedurft hätte, dann steht das jüngste nur allzu plakativ dafür: Der Präsident der USA hatte wahrlich ins Kalkül genommen, das zu Dänemark staatlich gehörende, autonome Grönland zu kaufen. Nicht nur, dass der selbsternannte Immobilienmogul – das meiste ist Pleite gegangen – zur Kaufanfrage mit der dänischen Premierministerin die falsche Adresse gewählt hat, nach einem höflichen Hinweis auf den Sachverhalt hat der von dieser durchgeknallten Schnapsidee voll überzeugte, verhaltensauffällige, ältere Mann im Rentenalter mit verdächtigen Größenwahnphantasien gleich den Staatsbesuch in Dänemark beleidigt, kurzfristig und brüsk abgesagt. Thomas Tuma schreibt dazu erhellend:
„Auf diesem Niveau wird normalerweise in Krabbelgruppen um sich geschlagen. Und wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass die US-Außenpolitik mittlerweile selbst die Konfliktlösungsmechanismen von Kitas in sozialen Brennpunktvierteln unterbietet, wäre er mit dem Grönland-Streit erbracht.“2
Wir erwähnen dies deshalb so ausführlich – auch weil es extrem blöde ist – weil wir darin erkennen, dass Regierungen durchaus ohne Politik auskommen können, dass die Politische Ökonomie umso wichtiger wird, als sie von der Politik im traditionellen Sinne kaum noch korrigiert werden kann. Wenn daher – und dies gilt leider nicht nur für die USA – die Politische Ökonomie am Ausfall der demokratischen Strukturen partizipiert und am Ausfall internationaler Regeln und Vereinbarungen einem blinden und blöden Merkantilismus anheimfällt, der den kühnsten, eschatologischen Vorstellungen von der liberalen Marktwirtschaft bereits heute recht nahe kommt, dann kann wahrlich darin kein Modell für die Zukunft der Welt erkennt werden; just das Gegenteil ist das Fall.
Der Weg zur einer politisch engeren und geldpolitisch stärkeren Integration in Europa hatte nie eine gemeinsame Richtung, allein schon deshalb nicht, weil Europa sich nicht einheitlich auf eine Währung geeinigt hat; dies wird auch bei der Integration einer zukünftigen, weltwirtschaftlichen Regelung transnationaler Wertschöpfungsketten zu berücksichtigen sein. Einheit ohne gemeinsame Währung anzustreben, macht die Sache nicht leichter. Auch deshalb schon kann Amerika keine Matrix für Europa sein, hat es doch den Dollar und der entmystifiziert das oft als multikulturelle Einheit verstandene US-Staatsmotto: E pluribus unum – Aus vielen das Eine – als der US-Dollar in Wahrheit die Grundlage der amerikanischen Gesellschaft bildet; weit mehr als die Sprache, die Kultur, die Rechtsformen der amerikanischen Demokratie. Das „Eine“, dieser metaphysische Begriff – wir kommen später darauf zurück – bildet als scheinbar höchste Abstraktion des „Vielen“ die konkreteste Form dessen, was die amerikanische Gesellschaft als Idee, als amerikanischer Traum zusammenhält, nämlich der mögliche Aufstieg der Bürger in einen materiellen Wohlstand. Dabei ist es jedem selbst überlassen, dies anzustreben. Nicht jedem selbst überlassen aber sind die sozio-kulturellen und die materiellen Unterschiede, die die Voraussetzung für die Verwirklichung der amerikanischen Gesellschaftsidee bilden. Geldsoziologisch könnte man formulieren, dass als eine Voraussetzung zum materiellen Aufstieg die Bonität der Bürger maßgeblich geworden ist. Die Zeiten, als die Siedler und Abendteuer alle zusammen dem Goldrausch folgten, ohne Ansicht der Herkunft, sind definitiv vorbei. Herkunft und Wohlstand beflügeln heute den sozialen und materiellen Aufstieg und sind bereits im Bildungssystem vom ersten High-School-Jahr verankert. Diejenigen, deren Eltern oder Verwandten die Studiengebühren nicht bezahlt haben, kommen mit einem nicht unerheblichen Kredit belastet in die amerikanische Zivilgesellschaft und dies in einem Ausmaß, dass die Verschuldung durch Studiengebühren mittlerweile ein erstes Finanzproblem in den USA darstellt. Selbst für den privaten Ausbildungsbereich gilt also das Prinzip der privat schuldnerischen Haftung und das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner; der Aufstieg ist zum Kostenfaktor geworden.
In varietate concordia – so lautet das Motto Europas. Concordia, also Eintracht meint einen friedlichen Zusammenhalt innerhalb einer heterogenen Gruppe, keine Konversion. Europa ist und wird auch eine Gruppe von europäischen Völkern bleiben, die sich idealerweise in einen friedlichen Zusammenhalt, einem, einer Föderation ähnlichen Staatenbund zusammenschließen, vielleicht mehr als heute erkennbar ist. Europa hat im Widerspruch zum europäischen Bildungsbürger keine einheitliche Geistesgeschichte, etwa wie die USA. Hier sind die geistesgeschichtlichen Unterschiede etwa der indigenen Völker eingeebnet worden und die USA trennt eine historische Zäsur, die die Zeit nach der Eroberung durch die europäischen Siedler von der Zeit davor trennt. Zähler wir drei wichtige Besiedlungsphasen, dann sind die Phasen ein und zwei klar getrennt von Phase drei. Die erste geht zurück auf eine Zeit mindestens 18.000 Jahre vor der Besiedlung durch Europäer, die zweite datiert etwa um sechshundert Jahre davor, als der Sage nach schon Wikinger in Neufundland anlandeten. Amerika ist bekanntlich etwa fünfhundertfünfzig Jahre alt; genau genommen beginnt die Geschichte der USA mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, die am 17. September 1787 verabschiedet und im Laufe des Jahres 1788 ratifiziert worden ist und die die politische und rechtliche Grundordnung der USA festlegte, an der sich bis heute im Kern nichts Wesentliches geändert hat.
Angesichts der doch erheblichen Unterschiede zwischen der Geschichte der USA und Europa haben viele Autoren starke Zweifel angemeldet, ob ein Modell der Vereinigten Staaten von Europa anzustreben überhaupt sinnvoll und vernünftig sei. Viele Autoren bevorzugen das Schweizer Modell als Muster für eine europäische Integration. Ein dezentral organisierter Staat mit vielsprachigen Ethnien, der nach klassischem, griechischen Vorbild Macht und Militär organisiert. Jene in Form der griechischen Gewaltenteilung, diese einheitlich als gemeinsames Schutzbündnis. Ein Staat mit einer gemeinsamen Währung im Unterschied zur EU, einer gemeinsamen Außenpolitik und einer fiskalischen Zentralgewalt, die wir nicht als ein Muster für die europäische Integration erkennen können. Auch in der Schweiz existiert wie in den USA ein No-Bail-out Prinzip, also ein einigermaßen rigoroses bzw. sanktionssensibles Schuldenregime, das finanzielle Transfers zwischen den einzelnen Kantonen ausschließt, zumindest erschwert. Und wieder steht das Prinzip der finanziellen Nicht-Subsidiarität im Zentrum des wirtschaftspolitischen Staatsmodells, dass also zugleich als die Gretchenfrage des bestehenden wie des zukünftigen Modells imponiert, als gäbe es hierzu keine Alternative.
Das Modell Europa hat seinen alternativen Charakter in vielerlei Hinsicht aber bereits bewiesen. Es waren die Vorzüge der EU, die den europäischen Staaten bereits viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bis auf die Balkankriege einen langanhaltenden Frieden gebracht haben; wenn das kein Argument für Europa ist…? Nicht nur die Umwandlung einer schrecklichen Vergangenheit in eine Periode des Friedens, sondern dass dieser Frieden auch für die europäischen Staaten einherging mit einer Wohlstandsentwicklung, die weit über den Erwartungen rangiert, alles dies wird geflissentlich ein wenig unterbewertet. Länder, die in sozialistischer Pleite und vor allem weit abgeschlagen von den ökonomischen und technisch-technologischen Entwicklungen auf der Stelle tretend sich immer tiefer in die ökonomische Misere gruben, sind heute auf vielen Ebenen moderner Wirtschaftsnationen angekommen. Selbst kleine, bettelarme und rückständige Länder sind heute Teil einer europäischen Wertschöpfung, die sich vor keinem Land der Welt verbergen muss. Die vernetzte Fertigung in Europa hat den Ländern über technische, technologische, logistische, finanzielle und natürlich über die offenen Marktanbindungen zu deutlichen Vorteilen verholfen, die noch vor wenigen Jahren allein großen Volkswirtschaften im Westen und in Asien vorbehalten waren.
Hierbei sehen wir, dass Skalenerträge durchaus wenig bis nichts notwendigerweise mit Größe oder mit Nationalstaaten zu tun haben, die Kooperation über staatliche Grenzen hinweg wirft die Skalenerträge auch für die kleinen Volkswirtschaften exponentiell zu ihrer isolierten Wirtschaftskraft ab. Aber es kamen auch politische Skalenerträge dazu. Die Angleichung von Rechtssystemen, von Warenzertifizierungen, Sicherheits- und anderen Produktstandards usw. erbrachten Zeit-, Kosten- und Prozesseinsparungen in hohen Maßen, ohne auch nur in einem geringen negativen Sinne die kulturelle Autonomie unter Anpassungsdruck zu bringen und so die Vielfältigkeit der europäischen Kulturen einzuschränken. Nicht jede Anpassung innerhalb integrativer Prozesse ist also notwendig eine Anpassung mit kulturellen oder sozialen Verlusten und Einschränkungen.
Das europäische Rechtssystem ist ein weitreichendes System, welches sehr unterschiedliche Rechtsgebiete umfasst. Dazu gehört das Recht der Mitgliederstaaten, dass seine Bürger sich frei über die innereuropäischen Grenzen hinwegbewegen können, wie dies auch den Waren- und Dienstleistungsverkehr betrifft. Wie weit entfernt diese Rechtsgebiete voneinander sind, sieht man daran, dass im Brexit die Mehrheit der Briten zwar den freien Warenverkehr am liebsten behalten, den freien Verkehr der Bürger am völlig einschränken wollen; welch ein Affront an die Freiheit.
Natürlich hat Europa am meisten davon profitiert, dass alle wirtschaftlichen Aktivitäten grenzüberschreitend fast reibungslos funktionieren, gleichwohl Europa noch immense Potenziale bislang hat liegen gelassen, weil gemeinsame Infratstrukturprojekte noch die Minderheit sind. In wenigen Jahrzehnten hat Europa bewiesen, dass bei Wahrung weitreichender politischer, wirtschaftlicher und kultureller Autonomie eine Integration zumindest in Kontinentaleuropa möglich ist. Und im Vorgriff auf Späteres sei hier vermerkt, dass in dieser kurzen Zeit auch eine nicht ganz so selbstverständliche Expansion nationalstaatlicher Identität stattgefunden hat, die immer mehr Menschen ohne Angst erlaubt zu sagen: Ich bin Pole und Europäer.
Wir halten fest: Europa hat mit dem im Maastrichter Vertrag verankerten Subsidiaritätsprinzip und dessen nicht immer leichten aber konsequenten Umsetzung über Jahre hinweg mehr als nur ansatzweise bewiesen, dass eine transnationale Integration möglich ist und dass diese Integration auf gar keinen Fall einen Super- oder Zentralstaat als notwendige Voraussetzung hat; im Gegenteil. In Europa sind überwiegend die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entscheidungen noch prinzipiell und meist auch defacto im Sinne einer subsidiären und damit demokratischen Verfasstheit geregelt. Demokratisch insofern, als die kulturellen wie die ökonomischen Entscheidungen bei den Bürgern Europas liegen. Da wo auf dieser tiefsten Ebene der Subsidiarität Europas Bürger ihre Entscheidungen über die Art und Weise, wie sie ihr Dasein vollziehen möchten, treffen, gelten individuelle Entscheidungen nicht nur im politischen Sinne der Demokratie, sondern im Sinne alltäglich gelebter bürgerlicher Freiheit. Vom Individuum aufwärts, über die Familie, so das Individuum z. B. als Kind oder als seinen Willen nicht mehr vollziehenden, kranken, alten Menschen diese Entscheidung nicht mehr frei getroffen werden kann, über die lokalen Institutionen, so die Familie aus dieser Entscheidungshierarchie herausfällt, dann die Institutionen auf Landes- und dann auf Bundeseben bis schließlich als letzte Eskalationsstufen der Entscheidungen des freien Willens die europäischen Institutionen Entscheidungen für und so verfasst im Sinne der europäischen Bürger und seiner Subsidiäre treffen.
Wir werden noch sehen, wie wichtig die Aufrechterhaltung dieser Eskalationshierarchie ist, wenn es um EU-weitreichende Entscheidungen geht, Entscheidungen, die die Bürger der EU insgesamt betreffen. Wir haben gesehen, dass dies so einfach nicht ist, vor allem aber, dass die Politik der EU fast regelmäßig die intellektuelle und die kulturelle wie die ökonomische Tragweite von EU-Entscheidungen unterschätzt. Wollen wir also keine böse Absicht oder Partikularinteressen unterstellen, dann sehen wir die Brexit-Entscheidung und die Entscheidungen zur finanziellen Rettung der GISPIZ-Staaten in diesem Licht. „In varietate concordia“3 ist also ein immenser Anspruch an die europäische Politik, der ohne ‚Opfer‘ nicht zu bewerkstelligen ist. An deren paneuropäische Aufgabenlisten, die nur in Eintracht realisiert werden können wie etwa die Verteidigung, die europaweiten, polizeilichen Maßnahmen wie Terrorabwehr, Bekämpfung von Bandenkriminalität, Steuerhinterziehung und viel andere grenzüberschreitende, kollektive Aufgaben. Mit zu den ökonomischen Kollektivfeldern zählen wir auch die grenzüberschreitenden Infrastrukturmaßnahmen sowie, weit vorne, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, insofern diese eine europaweite Regulierung, etwa der europäischen Banken und Finanzmärkte verlangt sowie alle geldpolitischen Aktivitäten der EZB sowie die Rechtsauffassungen bezüglich der informellen Selbstbestimmung der Bürger Europas und schlussendlich die Aufrechterhaltung des baren Zahlungsverkehrs. Wenn wir also von einem Kollektiv sprechen, dann haben wir die Bedeutung der Eintracht, Concordia im Sinne, deren Symbole das Füllhorn, die Opferschale und die ineinander verschlungenen Hände sind.
Es gibt kein Recht auf Bargeldzahlung. Dies sei vorweggeschickt. Es gibt auch kein Recht auf einen positiven Sparzinssatz. Es gibt letztlich auch kein Recht darauf, dass die Bürger Europas nicht in Form einer Sozialisierung von Schulden eine finanzielle Haftung für Verluste und Pleiten der Politischen Ökonomie, ja bislang sogar der Privatwirtschaft wie etwa von Banken eingehen, ohne dies zu wissen und ohne dem überhaupt irgendwann und irgendwo einmal direkt zugestimmt hätten. Wir wissen das als ein Feld der Repräsentativität innerhalb demokratischer Gesellschaftsordnung, ein Feld von Vertrauen in Entscheidungen von Parlamenten unter dem Primat des Mehrheitsprinzips. Wir müssen daher prinzipiell davon ausgehen, dass die Entscheidungen, die im Rahmen der Staatenrettungen in Europa und der diversen Bankenrettungen im Sinne der Mehrheit der Bürger Europa getroffen worden sind; oder nicht? Was wäre, wenn sich diese Entscheidungen eines Tages als Repräsentation von Partikularinteressen entpuppen würden?
Selbst die Rettung von Griechenland hat sich in der Eurozone und darüber hinaus als einigermaßen einträchtig erwiesen. Die Menschen, die auf die Straßen gingen, waren groteskerweise die Griechen selbst; verständlich zwar, da die Griechen nun einmal die übelschmeckenden Pillen besonders in ihren Wohlfahrtssystemen schlucken mussten, aber gerechtfertigt gegenüber jenen Staaten, die in diesem wie in vielen anderen Fällen vorher die Eintracht der Eurozone unter Beweis gestellt haben.
Das bestehende föderale System impliziert, dass alles, was z.B. Banken in ihrem ordentlichen Geschäftsbetrieb machen, auf nationaler Ebene beschlossen worden ist. Wir haben diese Struktur ausführlich besprochen, halten aber noch einmal fest, dass gleichwohl die europäischen Bankenkontrolle nun bei der EZB liegt, die Banken aber stets autonom handeln und somit auch im Geschäftsbetrieb mit nationalen Notenbanken und nationalen Regulierungsbehörden Gewinne und Verluste schreiben, die dann, wenn ein Institut in Schieflage gerät, der europäischen Solidarhaftung sehr schnell unterstellt wird. Was wäre mit Griechenlands Bürgern und ihren Vermögen passiert, hätte die europäische Bankenrettung nicht gegriffen? Und dabei ist es völlig egal, ob diese Banken in griechischer oder in ausländischer Anteilsmehrheit operieren.
Wenn wir aus diesen Krisen, Beinahe Pleiten und Rettungen etwas lernen können, dann die beängstigende Erkenntnis, dass die Banken in ihren lokalen Beziehungen zu Regulierungsbehörden und politischen Institutionen keine marktwirtschaftlichen Risikobewertungen vorgenommen haben; im Gegenteil. Banken gemeinsam mit Regierungen sind dem Anreiz gefolgt, auf Risikostandards zu verzichten und so zu einer geradezu ruinösen Kreditvergabe, zu einer schier exzessiven Ausgabenpolitik der Regierungen und zu eine selbstbedienerischen Bonusverteilung untereinander zu kommen. Die Welt fokussiert in moralischer Entrüstung die maßlose Selbstbedienung und die Vergemeinschaftung der Verluste aus den öffentlichen und privaten Selbstbedienungsreihen; zurecht, übersieht aber den Fortgang dieser Handlungsstruktur. Denn in den letzten Finanzkrisen und der Eurokrise schält sich ein zentraler Krisenkern heraus, der sich als der wesentliche, einschränkende Faktor in der Weiterentwicklung der Politischen Ökonomie erwiesen hat. Das ist die begrenzte Menge an haftendem Vermögen bzw. der schwindende Wert der Kreditpfänder. Dabei ist den Regierungen, den Banken und den dienenden Wissenschaften nicht entgangen, dass die Begrenztheit der Pfandmenge bzw. der Pfandwerte darin liegt, dass man einmal nicht über das Wissen über die Gesamtmenge der privaten Vermögenswerte verfügt und zum anderen nicht über die Verfügungsgewalt über die privaten Vermögen. Wüsste man wie hoch die Privatvermögen einer Nation sind und könnte diesen Wert als Sicherheit für Kredite hinterlegen, wäre für Regierungen und Banken das Zeitalter des Paradieses auf Erden angebrochen. Wer glaubt, dass bei solchen Aussichten auf schier grenzenlose, fast nie versiegenden Geldströme die Agenten des Geldes nicht an der Verwirklichung dieses Erdenparadieses arbeiten, der bleibe religiös oder Romantiker.
Regierungen glaubt man keine religiösen Gedanken oder romantischen Gefühle. Regierungen sind am Erhalt ihrer Macht, an der Fortsetzung ihrer Jobs, an der Umsetzung ihrer Vorstellungen von Gesellschaftsideen interessiert. Dabei hindert Regierungen am meisten jenes Moment, jener Prozess, der sie an die Regierung gebracht hat, das Mehrheitsprinzip. Das ist es auch, das sie wieder von den Sitzen in den Parlamenten, von den Kabinettstischen vertreibt. Das Mehrheitsprinzip als Kern der repräsentativen Demokratie ist also Fluch und Segen zugleich für die Politik und betrifft in Europa auch die Kernproblematik zwischen der höchsten Entscheidungsebene im Subsidiaritätsprinzip und der höchsten Ebene der Umsetzung von Entscheidungen. Die subsidiären Entscheidungsprozesse innerhalb von Europa setzen einerseits ein hohes Maß an Kooperation sowie Koordination voraus, zumal in einer derart hoch interdependenten Währungsunion wie der Eurozone. Kooperation und Koordination betreiben daher sowohl die politischen wie auch die ökonomischen Entscheidungen, sind aber nicht in einer Linie zugleich verbindliche Grundlage ihrer Umsetzungen.
In Europa und ganz besonders in der Eurozone sehen wir eine große, aus den politischen Gegebenheiten herrührende Lücke zwischen Entscheidung und Umsetzung. Die europäischen Institutionen sind ohne Zweifel, wenn auch manchmal recht schwierig und schwerfällig wenig begrenzt in ihrer Entscheidungsfähigkeit, dafür massivst limitiert bei deren Umsetzungen. Es fehlen demokratische legitimierte, unabhängige Institutionen, die die Umsetzung politischer Entscheidungen betreiben, für die Sanktionierung der Durchsetzung der europäischen Beschlüsse zuständig sind.
In einem Europa der 27 autonomen Staaten wird es immer zu historischen, kulturellen und politischen Ungleichzeitigkeiten kommen, die die nationalen Präferenzen auf vielen Ebenen gemeinsamer Entscheidungen relativieren bis konterkarieren. Die nationalen Präferenzen bei der Umsetzung gemeinsamer Mehrheitsentscheidungen im Parlament und den europäischen Institutionen werden umso virulenter, als die Mehrheitsentscheidungen sich als unpopulär, also als nicht mehrheitsfähig in den nationalen Parlamenten erweisen. Dies ist das generelle Problem aller föderalen Systeme, dass Mehrheitsentscheidungen und die Umsetzung dieser Entscheidungen quasi „vor Ort“ nicht per se im Mehrheitsmodus passieren. Föderale Systeme kennen also verschiedenen Mehrheitsmodi, sind quasi subsidiär zwischen Entscheidung und Umsetzung. So haben sich in den letzten Jahrzehnten zahllose Diskrepanzen zwischen Entscheidung und Umsetzung in nationale bzw. lokale Politik ergeben und letztlich den Glauben an die repräsentative Demokratie in Europa geschwächt. Ob wir von der Entscheidung über die Obergrenze von drei Prozent der nationalen BIPs für laufende Defizite im Staatshaushalt sprechen, von der Obergrenze von sechzig Prozent für den jährlichen nationalen Schuldenstand, von der Einhaltung der Regeln für den europäischen Fiskalpakt, der Austeritätsvorgaben, den gemeinsamen Vereinbarungen zur europäischen Bankenregulierung; was immer an gemeinsamen Beschlüssen erging, es erging ihnen nicht gut im Prozesse der nationalen Um- bzw. Durchsetzung, lediglich Bruchteile der europäischen Beschlüsse fanden ihren Weg durch die nationalen Parlamente in die Wirklichkeit bzw. ins Gesetz.
Die Eintracht Europas steht also nicht auf der Beschlussebene in Frage, sondern ist strukturell eine nicht zu bewältigende, systemische Schwierigkeit in der Umsetzung. Nüchtern betrachtet ist die Schwierigkeit die beklagenswerte Dynamis aller demokratisch-föderalen Gesellschaftssysteme und zeigt lediglich den Hiatus ihrer subsidiären Struktur. Sie entnervt so manchen Politiker und bringt so manchen Bürger auf die Palme, weil zwischen Entscheidung und Umsetzung der Entscheidung kein hinreichender, nicht einmal ein notwendiger Prozess existiert4. Die Bürger sind dem müde, die Politik kocht darauf ihr Süppchen. Und diese Suppe ist versalzen. Die laschen Pfänder, die EZB-Chef Draghi in immer größer werdenden Teilen der immensen Kredite für die europäische Staatenrettung hinterlegt ist eine notwenige Folge dieser politischen Asymmetrie zwischen kollektiver Entscheidung und nationaler Umsetzung in der europäischen Geld- bzw. Fiskalpolitik. Selbst in einem föderalen System wie die Schweiz, käme Draghi kaum um solche Refinanzierungstricks nicht herum. Es ist stets das originäre Dilemma bürgerlicher Freiheit, dass kollektive Entscheidungen, die innerhalb subsidiär übergeordneter Entscheidungsgremien getroffen werden, selten kollektiven Nutzen im Sinne Nutzen für jeden Einzelnen erbringen. Dies gehört aber mit zur Hybris bürgerlicher Freiheit, dies zu fordern.
So ergibt sich durch die Nichteitlösbarkeit dieser Forderungen nach erkennbarem Nutzen für jeden Einzelnen aus Mehrheitsentscheidungen einerseits der unendliche Frust der Bürger, nicht „mitgenommen“ worden zu sein, vergessen, abgeschoben, übergangen zu sein die Forderung nach einem starken, autoritären Zentralstaat oder andererseits die Forderung, jene Leistungen aus den Mehrheitsentscheidungen für die nationalen Interessen einzuklagen, also die Forderung nach einer starken, nationalen Regierung, die die Ressourcen der Gemeinschaft in die lokalen Institutionen umleitet. So baut dann eine lokale Regierung durch ungerechtfertigte Umverteilung vor allem der finanziellen Ressourcen der Gemeinschaft ihre billige Macht aus und missbraucht das Vertrauen, dass die Subsidiarität allein aber gewährt5.
Wenn Draghi also vom Big Shift spricht, dann ist mit dieser großen Veränderung in der europäischen Geldpolitik eben dieses bislang unlösbare Problem der „Concordia“ verbunden. Das alte Problem von freier Willensbildung und Handlungsfreiheit bekommt in föderalen Gesellschaftssystemen schon eine problematische Dimension, wenn Willen und Handeln zur Kongruenz gebracht werden sollen und dazu noch einen dramatischen Oberton in semidemokratischen, föderalen Währungsräumen, wenn es ums Geld geht. Mehrheitsentscheidungen in geldpolitischer Hinsicht sind umso virulenter, wenn sie mit einer geldpolitischen Staatsraison verbunden sind. Haushaltsdisziplin ist gerade in verschuldeten Staaten kaum bei den Bürgern einzuhalten, da sie mit Leistungsabbau in den Wohlfahrtssystemen verbunden sind. Neben Inflation und steigender Arbeitslosigkeit stehen die steigenden Kosten für die Staatsfinanzierung im ständigen Konflikt untereinander und werden gerne den unterschiedlichen Ebenen des Subsidiaritätsprinzips zugeschrieben. Gegen diese Zuschreibungsverschiebung sind föderale Systeme nie immun, ganz im Gegenteil sogar anfällig. In Europa haben wir es zudem mit einer strukturellen Problematik zu tun, die eine gemeinsame Geld- und Fiskalpolitik erschwert. In den maßgeblichen europäischen Institutionen gilt mit dem Subsidiaritätsprinzip auch das Prinzip des Minderheitenschutzes, insofern als Prinzip gilt: ein Land, eine Stimme. Autonomie der handelnden Staaten bedeutet im föderalen System der EU zugleich Schutz von Minderheiten oder politisches Empowerment kleiner Mehrheiten durch die Erfordernisse der Einstimmigkeit von Entscheidungen bzw. der Herbeiführung von Entscheidungen durch qualifizierte Mehrheiten.
So kommt es aber in Europa und der Eurozone zu einer doppelten qualitativen Verschiebung, da z.B. die Entscheidungen im EZB-Rat nicht durch demokratische Mehrheiten zustande gekommen sind, sondern durch eine qualifizierte Mehrheit im EU-Rat, in der kleine Länder so viele Stimmen repräsentieren wie große. Wie dem auch sei, repräsentieren die Ratsentscheidungen und die EZB-Entscheidungen einen für die Mehrheit der EU-Bürger nicht mehr nachvollziehbaren Prozess, der als Prozess von Minderheitsvoten kritisch betrachtet wird. So entscheidet Malta durchaus mit darüber, was an geldpolitischen Konsequenzen durch die EZB-Politik in Deutschland getragen werden muss. Die einfachen oder qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in den europäischen Institutionen, die zum Schutz der europäischen „Minderheiten“ eingeführt worden sind, tragen aber nur eine Seite der Problematik. Wenn also die Entscheidungen etwa zu den ELA-Krediten auf der Basis einer „Minderheitsentscheidung“ de jure getroffen worden sind, so betreffen sie defacto die Mehrheit der EU-Bürger. Wenn innerhalb der Eurozone gewaltige Geldsummen verschoben werden, war diese Entscheidung eine Minderheitenentscheidung mit kollektiven Auswirkungen. Und immer wird diese Seite der Problematik in den Vordergrund gestellt und ideologisiert. Vermögensverschiebungen eignen sich hervorragend zur Ideologisierung, selbst wenn die Umverteilung als ein kollektiver Vorteil aller Staaten begriffen und als solcher auch qualifiziert werden kann. Dann wird die föderale Staatengemeinschaft wie eine Versicherungsgesellschaft zum Schutze von in finanziellen Nöten geratenen Staaten betrachtet und die die höchsten Versicherungsbeiträge leistenden Staaten, die sog. Geber-Länder, den Versicherungsnehmern gegenübergestellt.
Wir aber wollen den Blick auf das werfen, was unserer Meinung nach essenzieller und weitreichender ist in der Zukunft und alle Bürger Europas betreffen wird, insofern sie zunächst als Sparer oder als Bürger mit privaten Vermögen, Sichteinlagen oder Immobilien betreffen wird, nämlich die Problematik bei der Umsetzung von Mehrheitsentscheidungen, seien diese nun demokratisch, einstimmig oder qualifiziert gewonnen. Wir haben gesehen, dass die Entwicklung in der Eurozone den Weg genommen hat, dass geldpolitische Entscheidungen zur Gemeinschaftshaftung geführt haben und dass diese Form der kollektiven Haftung ihre Grenze darin gefunden hat, dass die Haftungspfänder zur Haftung gegenüber einem zunehmenden Kreditbedarf der Staaten nicht mehr ausreichen. Wir haben gesehen, dass die unterlegten Pfänder nicht mehr aus den nationalen Quellen allein gehoben werden, sondern dass die Haftungspfänder oder -sicherheiten aus der gesamten Eurozone herrühren. Wenn Draghi Anleihen von Staaten und Unternehmen im großen Stil aufkauft, um notleidenden Staaten und Volkswirtschaften mit Liquidität zur Refinanzierung ihrer ökonomischen bzw. administrativen Handlungen zu versorgen, dann kommt sein „what ever it takes“ dann an seine Grenzen, wenn Kreditbedarf und Sicherheitsleistungen auseinanderdriften.
Wie also kann diese Drift vermieden oder beherrscht werden? Wie kann die Gefahr gebannt werden, dass einige Staaten der Eurozone oder gar der EU aus der Solidarität der Staatenfinanzierung irgendwann einmal aussteigen? Bislang hatte die EZB nur die Möglichkeiten, Banken und Krisenstaaten ihre exzessiven Refinanzierungswünsche zu gewährleisten, indem sie die von den Finanzmärkten geforderten Bonitätsmaßstäbe umging und selbst als Lender of last resort auftrat und beim Aufkauf von Kreditsicherheiten das unterste Maß forderte. So wurden aus Pfändern, die Sicherheit gewährleisten sollten, Sicherheiten auf Schrottniveau.
Jeder vernünftige Investor suchte natürlich das Weite und die Staaten der Eurozone und die EZB waren nun ganz auf sich gestellt. Nüchtern betrachtet müsste das Subsidiaritätsprinzip nun als gescheitert bewertet werden. Zu sehr sind Kreditbedarf und Sicherheitsleistungen auf getrennten Wegen unterwegs. Zu hoch ist die Gefahr, dass die Geber-Länder den Nehmen-Ländern dereinst den Geldhahn zudrehen. Zudem addiert sich als Dauergefahr der Eurokrise die strukturelle Asymmetrie zwischen Entscheidungen in Brüssel und Straßburg und der zunehmenden Unwilligkeit bei der Umsetzung der Entscheidungen in nationale Politik. Diese Umsetzung geschieht zudem noch ante festum, also bevor nationale Parlamente überhaupt die Brüsseler Entscheidungen als parlamentarischen Entscheidungsprozess vorweg diskutieren können; wie auch? Und wenn Verlängerungen einmal getroffener Entscheidungen anstehen und seien auch nur Fristverlängerungen transportieren sich die strukturelle Defizite in die nächste zeitliche Dimension. Damit haben Rat und EZB wahrscheinlich spekuliert, denn sonst, unter demokratischen Prozessen, wären die Rettungsprogrammen wohl nie durch die Parlamente gegangen. Die großen Gläubiger bekamen so den nötigen, zeitlichen Aufschub, um ihre Bilanzen zu bereinigen und sich aus den toxischen Kreditbiotopen zu entfernen. Die Parlamente degradierten zu Umsetzungs- und Erfüllungsgehilfen der europäischen Entscheidungsinstitutionen. Das kann natürlich nicht ewig so fortgeschrieben werden. Die Lücke zwischen Entscheidung und Umsetzung muss geschlossen werden. Zugleich muss die Asymmetrie im Subsidiaritätsprinzip zwischen den beiden „Mehrheitsprinzipien“, den quasi kleinen und großen Mehrheiten umgangen werden und die ständige Problematik von übernationalen Entscheidungen und nationalen Umsetzungsdivergenzen ein Ende haben.
Es gibt nur einen Ausweg aus dem Dilemma für Staaten und Banken gleichermaßen und der ist perfekt; das ist die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
1 Sinn, 2015, S.500
2 Handelsblatt print: Nr. 161 vom 22.08.2019 Seite 012 / Meinung.
3 Concordia ist die Personifikation der Eintracht in der römischen Mythologie (entspricht der Ὁμόνοια (Homonoia) in der griechischen Mythologie). Der römischen Vorstellung nach fördert und erhält sie die Eintracht und die Einheit der Bürger Roms.
4 Auf der untersten Ebene funktioniert das Subsidiaritätsprinzip in Europa nur bruchstückhaft, wenn überhaupt. „(…) wir wissen doch, dass es nicht funktioniert, Poul, weil diese Leute einer Vereinbarung zustimmen und am nächsten Tag wieder davon abrücken.“ Gesprächsmitschrift zwischen Delia Velculescu und Poul Thomsen; siehe wikileakks.org und weiter spiegel.de, abgerufen beide am 26.08.2019
5 „We are more than one and a half years after the summit that launched the EFSF as part of a financial support package amounting to 750 billion euros or one trillion dollars; we are four months after the summit that decided to make the full EFSF guarantee volume available; and we are four weeks after the summit that agreed on leveraging of the resources by a factor of up to four or five and that declared the EFSF would be fully operational and that all its tools will be used in an effective way to ensure financial stability in the euro area. Where is the implementation of these long-standing decisions?“ Continuity, consistency and credibility.
Introductory remarks by Mario Draghi, President of the ECB,
at the 21st Frankfurt European Banking Congress “The Big Shift”,
Frankfurt am Main, 18 November 2011, abgerufen beide am 26.08.2019.
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