TĂĽrmer – Seite 6ff

Sie saß einfach dort im Schatten unter der Kastanie und ihm war schnell bewusst, dass dieses Bild kein Bild in der Gegenwart sein konnte. Der Herbst hatte längst schon seine Farben über die Landschaft ausgegossen, aber dieses leuchtende Rot und Gelb der Blätter der alten Kastanie hatte er lange nicht mehr gesehen, es existierte nur in seinen Erinnerungen wie alles, was er glaubte, heute und all die Tage vorher wahrgenommen zu haben, nur mehr Erinnerungen schienen.
Sie winkte ihn zu sich, so jedenfalls erschien es ihm, als sie den Zeige- und den Mittelfinger ihrer rechten Hand in einer sanften Bewegung auf sich zu bewegte und gerne wäre er aufgesprungen und ihr entgegengeeilt, aber er zögerte, etwas hielt ihn fest unter der alten Kastanie, die ihm den ganzen Tag schon kühlenden Schatten spendete vor einer brütend heißen Sonne und einer leichten Brise, die aber zu schwach war und keine Anstalten machte, ihm etwas Erleichterung zu verschaffen.
Er atmete schwer und heiße Luft ein, wenn er den Schatten des Baumes verließ, wenn auch nur für kurze Zeit, war es, als ginge er über den Schatten hinweg, wie über eine Grenze in ein anderes Land, in eins, das er früher kennengelernt hatte auf seinen Reisen in den Süden. Er sah das Gesicht dieser jungen Frau, dessen Haut von keinem Sonnenstrahl gebräunt, wie heller Marmor aus Carrara fast transparent die feinen Ästelungen ihrer Gesichtszüge überspannte, seit er früh am Morgen aus einem schweren Traum erwachte.
Wie froh, ja, wie glücklich er in diesem Moment war, als das Gesicht der Frau die nächtlichen Geister mit einem Mal vertrieben hatte. Es hatte sich über seinen Traum gelegt, wie eine zweite, eine schöne, makellose Haut, und er hatte ihr Gesicht mit sich nach draußen unter die alte Kastanie mitgenommen, und dort saß er nun schon stundenlang.
„Du hattest mich schon seit Langem vergessen“, sagte die Frau mit sanfter und ein wenig vorwurfsvoller Stimme, so als wollte sie ihre Klage sogleich wieder zurückziehen. Er sollte es nur wissen, dass sie es nicht vergessen hatte, dass sie so leichtfertig nicht war im Umgang mit ihrem Leben, mit ihren Erfahrungen mit ihm.
„Wie konnte sie glauben, dass er leichtfertig war? Nichts hatte er im Leben vergessen, was einmal wichtig ihm schien, und dazu gehörten auch alle die Menschen, die ihm irgendwann einmal begegnet waren, mit denen er Stunden, Tage und Wochen verbracht hatte, mit manchen auch längere Zeiten seines Lebens“, sprach er zu sich selbst.
Er blickte ihr wieder ins Gesicht und sah, wie ihr Mund sich bewegte, hörte ihre Worte und wusste zugleich, dass diese Worte nicht aus ihrem Mund kamen, sie kamen auch aus seinen Erinnerungen, aber hatten auch dort keinen wirklichen Ort, denn er wusste nicht, ob sie jemals diese Worte zu ihm gesprochen hatte. Es konnte sein.
Er schaute – waren das ein paar Tage oder ein ganzer Monat später; er wusste es nicht, auf die Kastanie und sah ihr vertrocknetes Laub, das schwach an den Ästen hing, braun, ohne Kraft, ohne die Energie des Wechsels in die kalte Jahreszeit, gleichsam all ihre Kraft dem neuen Jahr vorausschickend und sich für alle Zeiten zu verabschieden. Das neue Laub würde alles Leben in sich tragen, würde sich entfalten, große Blätter ausbilden, die Früchte vor der sengenden Sonne schützen, um dann selbst wieder zu vergehen. So war der Wechsel. So der Wandel.
Viele Wandlungen hatte er erlebt und immer hat das Neue sich über Altes gelegt, hat es mal mehr und mal weniger verdeckt, mehr oder weniger unkenntlich gemacht. Am meisten aber machte ihm das Vergessen Verdruss, wenn neue Erfahrungen sich über alte legten und diese regelrecht überschrieben, wie in einer alten Sprachfassung irgendwo in den Erinnerungen ablegten, wo sie nicht mehr zugänglich waren, ohne die Zuordnung zu den echten Namen, die die Erlebnisse, Erfahrungen und Eindrücke wiederauffindbar sein ließen.
Er hatte ihren Namen vergessen. Und mit dem Namen waren auch seine Erlebnisse in seinen Erinnerungen nicht mehr wahr, sondern überzeichnet mit Erlebnissen aus anderen Zeiten. So sehr er versuchte, sich an die Zeit mit der schönen jungen Frau zu erinnern, so sehr entschwand sie im Dunkel seines ungeordneten Gedächtnisses. Und so sehr er sich auch anstrengte, die Wege, die sie mit ihm gemeinsam gegangen war, nachzuzeichnen, so wirr wurde die Landschaft in seinem Gedächtnis und glich alsbald einem undurchdringlichen Dschungel ehr als einer gepflegten Kulturlandschaft. Er brauchte unbedingt einen Namen, unter dem er die Bruchstücke seiner Zeit mit ihr identifizieren konnte, also nannte er das Mädchen Albertine.
Der Name Albertine kam ihm nicht zufällig, erinnerte er doch an das Werk von Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, das ihm stets in seinen bruchstückhaften Erinnerungen an die Zeit mit seiner ersten Liebe einfiel, was also lag näher, dieses Kapitel seines Lebens mit dem Namen zu versehen, der seinen Erinnerungen wenigstens etwas von der Zeit zurückzugeben vermochte, die sonst in einem heillosen Durcheinander am Boden seines Gedächtnisses lagen.
Albertine erinnerte ihn an eine unbeschwerte Zeit. Nicht nur die Zeit der Kindheit, sondern an eine Phase seines Lebens, die mit Albertine begann, die seelischen Schmerzen seiner Kindheit zu vergessen. Sie legte sich wie ein warmer Mantel um ihn, als er verfroren aus der Zeit der Kindheit mit den vielen fremden, beängstigenden und unheimlichen Erlebnissen in einer neuen Zeit auftauchte und es ihm schien, als bräche jetzt eine schönere Zeit an, vielleicht eine des Glücks, von Vertrauen gegenüber Menschen, das er so selten, wenn überhaupt einmal erlebt hatte.
Aber wie konnte man eine ganze Zeitphase vergessen, sogar eine, die so wichtig ihm erschien in seinem Leben? Er musste unweigerlich wieder an das Werk von Proust denken, in dem es auch darum geht, eine Zeit aus dem Vergessen zurückzuholen. Aber nicht nur das, die Zeit sollte in ihrer Wahrheit wieder erinnert werden, ohne diese ganzen Überzeichnungen mit Bildern und Worten, Erinnerungen und Emotionen, von denen man nie wirklich weiß, wohin sie gehören und mit wem und mit was sie wirklich in Verbindung stehen; so wollte er es.
Wie kann man die Erinnerungen bewahren, die einem wichtig sind, wie dem Vergessen Einhalt gebieten? Albertine merkte seine ihn selbst quälenden Gedanken und forderte ihn auf, ihr doch besser zuzuhören: „Was bringst du nur alles so durcheinander?“ Er hörte ihre Worte hell und klar, wie sie ihn früher auch so oft hell und klar erreichten, so, als spräche sie gerade mit ihm.
Wie nah sie ihm manchmal war, so, als wäre die Zeit doch irgendwann einmal stehengeblieben, mit ihrer Stimme zu ihm zurückgekehrt. Aber so konnte es nicht sein, so nicht. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, versuchte, seinen Kopf zu verlassen, in die Welt hinauszuziehen, auf seinen Worten zu reisen wie das Schiff auf Strömung und Wellen vorantreibt, und kamen doch wie sie ihn verlassen hatten zurück. Sie waren nicht in seinem Hals steckengeblieben, das kannte er auch, früher, als er mit Menschen sprach und beim Sprechen bemerkte, dass das, was er zu sagen versuchte, nicht das war, was er sagen wollte. Hier aber kamen ihm seine Gedanken und Worte wie ein Echo zurück ans Ohr.
Hier saß er, umgeben von Mauern an dem einzigen Fenster und schaute hinaus in die Landschaft vor ihm, auf Wiesen und Felder, bis weit entfernt sanfte Hügel sich aus der mit saftigem Grün gemalten Landschaft erhoben. Einige Bäume waren dort, Apfel, Birne und Kirsche hauptsächlich, die wunderschön blühten im Frühling und selbst wenn die Luft noch erfror einen warmen Hauch des nahenden Frühlings vorausschickten in sein Zimmer. Er öffnete das Fenster nicht, um nicht diesen magischen Moment des Tages mit dem blauen Himmel und den ersten grünen Anzeichen der endenden Winter- und den Übergang in die wärmeren Tage zu stören. Nur bei geschlossenem Fenster fühlte er das Wiedererwachen der Natur und hörte die Stimmen in seinem Zimmer lauter und klarer.