Das Proton Pseudos als Welterkenntnis

Der erste Kontakt mit der Wirklichkeit geschieht in deren Erschlossenheit als Proton Pseudos. Das meint Erschlossenheit, dass wir immer wieder vor eine komplexe, mehrschichtige Wissens-Formation gestellt sind, wenn wir Wirklichkeit begegnen, in der Sache wie intersubjektiv. Interaktiv und intersubjektiv sind wir vor etwas gestellt und diese Vorstellung ist eine Assemblage aller möglichen Formen des Umgangs mit der Welt, zum Beispiel mit der Corona-Pandemie. Unser erster Umgang ist also nicht „unser“ Umgang, sondern ein schon intersubjektiver Umgang und eine kooperative Form der Auseinandersetzung. Jeder ist somit in einem doppelten Sinne gestellt, vor etwas und in etwas. Vor etwas meint eine grundlegende Form des Hinausstellens vor viele Deutungskomplexe, wobei jede einzelne Deutung bereits eine verschlossene Form der Auslegung der Wirklichkeit ist. Insgesamt betrachtet ist unser erster Kontakt mit der Wirklichkeit bereits hypercodiert; individualgeschichtlich beginnt dies bereits in der Kita und der Familie im Vorschul-Alter; und wir weisen mit Nachdruck darauf hin, dass wir hier bewusst nicht von Entfremdung sprechen, um gar nicht erst eine Vorstellung einer einfachen Authentik oder OriginalitĂ€t aufkommen zu lassen, die bereits beim ersten Nachgedanken sich als ein Zustand einer ziemlich leeren Person oder Sache, einer Tabula rasa entpuppt.

Wir begegnen der Welt also in einer hypercodierten Form, in die wir hinein- bzw. hinausgestellt sind und die natĂŒrlich zugleich auch in uns hineinwirkt, unsere Vorstellungen codiert. Dies ist zwar inhaltlich sehr verschieden und abhĂ€ngig von der sozialen Interaktion, also der Art, wie die Menschen in unserem Umfeld oder Milieu im weitesten Sinne mit Sachverhalten und anderen Menschen umgehen. Aber der Umgang, so sagten wir vorher, ist universell und als dieses universelle Faktum ist auch die Einbildung dessen, vor die wir gestellt sind. Wir mĂŒssen daher nicht nur selbst mit unseren Angelegenheiten umgehen, sondern auch herausfinden, ob und inwieweit die vorhandenen Deutungen der Wirklichkeit fĂŒr uns brauchbar sind, auch im Sinne der „brauchbaren IllegalitĂ€t“, insofern es brauchbarer ist, gegen strafbewĂ€hrte Erwartungen abzuweichen; „Bitte nicht spielen“. StrafbewĂ€hrte RegelverstĂ¶ĂŸe, die Hausordnungen der AlltĂ€glichkeit, begegnen uns von frĂŒhester Kindheit an, sind aber selten bis gar nicht hypercodiert. Ein Tag im Leben eins modernen Kindes mit zweisprachiger Erziehung, Violine-Unterricht nebst Sportunterricht, muss dagegen bereits als Übercodierung bezeichnet werden. Und es ist leicht verstĂ€ndlich, dass das Hinausstellen vor oder in einen komplex ĂŒberdeuteten Alltag nicht nur eine hohe Stimmungsvarianz nach sich zieht, sondern auch in die Situation stellt, dass unterschiedliche Wege der Wirklichkeitswahrnehmung in der Vielschichtigkeit der vorgestellten Deutungen sich nicht aus den eigenen Vorstellungen mehr erschließen können, weder unmittelbar noch spĂ€ter durch Decodierungsarbeit.

Das Proton Pseudos ist nicht unmittelbar erschließbar; im Gegenteil. Unsere Wirklichkeit wird bereits in unserer Beobachtung erster Natur, wenn wir selbst die Welt wahrnehmen und uns vorstellen, als Proton Pseudos erschlossen, was so viel heißt, dass nicht wir selbst, sondern die Anderen in ihren Formen des Umgangs mit der Welt uns erschließen; vermeiden wir den Terminus Anpassung. Es war in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts, als die Philosophie, die Literatur und die Psychoanalyse diesen Gedanken aus der Linguistik aufgegriffen haben, wonach nicht der Mensch spricht, wenn er spricht, sondern hineingestellt ist in eine Sprache, die nicht die seine ist, die bereits da war, bevor der Mensch als ein Sprechender die BĂŒhne des Daseins betritt. Heidegger, Lacan, Beckett erkennen diese Grundstruktur des Daseins, in etwas Fremdes gestellt zu sein wie die Sprache, von der Deleuze treffend sagt: dass sie „nur eine fremde sein kann.“ Im Sprechen, so die Konklusio, ist der Mensch von Beginn an ein fremdsprachiges Wesen, welches unablĂ€ssig Übersetzungsarbeit zu leisten hat. Aber es gibt damit noch keine Heimat in einer Sprache, selbst wenn man das VerhĂ€ltnis von Sprache und Sprechen als entfremdet und befremdet erkennt und versucht, den Menschen gleichsam herauszuholen aus seiner Fremdsprachigkeit, als gĂ€be es so etwas wie ein Ankommen, z.B. in der Literatur oder Poesie.

Ich bin nicht die Sprache, wenn ich spreche und das Sprechen ist nicht meine Sprache; es bleibt ein VerhĂ€ltnis der relativen UnschĂ€rfe, eine UnschĂ€rferelation zwischen Sprache und Sprechen und dem Sprecher, weil es keine lineare Struktur gibt, die im Erlernen der Sprache und im Sprechen den Sprecher zu sich selbst fĂŒhrt. Das klingt nicht zufĂ€llig kompliziert und als wĂ€re man auf unabsehbare Zeit auf Umwegen zu sich unterwegs, dies gilt auch fĂŒr die Begegnung mit anderen Menschen. Wir verstehen einander also unmittelbar nicht, um uns aber umso besser zu verstehen, vielleicht; wer diesen Umweg nicht gehen will, bleibe bei seiner Wahrnehmung und seinen Vorstellungen und der ausgesetzten Gewissheit, einmal die eigenen Vorstellungen und Gewissheiten als nicht die seinen erkennen zu mĂŒssen.

Das Proton Pseudos hat noch eine andere, wie so oft auf dem ersten Blick unangenehme Seite, die „Average Social Sensitivy“ . Respect nennt das emphatisch der Hip Hop und der Rap in der Tradition der BĂŒrgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten zwischen den spĂ€ten 1950er und dem Ende der 1960er Jahre, die auch fĂŒr Europa in weiten Teilen große Auswirkungen hatte, mithin sozial- und kultur-revolutionĂ€re Auswirkungen. Es hat besonders patriarchale und darauf grĂŒndende repressive Strukturen gebrochen, hat Gesetze und Regeln, Vorschriften und informelle Konventionen aus ihrer Gefolgschaft in eine neue Interpretation gestellt. Das war damals sichtbar als eine Abkehr von bestehenden Ordnungen und Prinzipien des Umgangs miteinander, entwarf sich als eine viele LĂ€nder ĂŒbergreifende sozio-kulturelle Praxis in verschiedenen AusprĂ€gungen und formulierte sich in allen Formen des sozialen und kulturellen Ausdrucks von der Musik, ĂŒber das Theater, den Tanz, die Literatur und die Malerei bis hin in die Architektur der Moderne und kann daher als eine Form der Überschreibung, der Hypercodierung wiederum angesehen werden.
Jede Form der Überschreibung, so weist bereits das Wort darauf hin, setzt einen Abstand zu einem bestehenden Code und ist zugleich auch ein Behalten des ĂŒberschriebenen Codes, nicht unbedingt als Zustimmung. Es werden ganze normative Systeme ĂŒberschrieben, aber wie auf einer Festplatte im PC lassen sich die ĂŒberschriebenen Inhalte leicht rekonstruieren; sie sind nicht endgĂŒltig gelöscht. Das sieht man allerorts heute, dass die ĂŒberschiebenen Themen wieder auftauchen, die Fragen, die damals in den 68er Jahren mit Abstand behandelt und in neue Zeichenketten ĂŒbertragen wurden: der Rassismus (I can‘t breath), der Feminismus bzw. die Frauenfeindlichkeit (Mee too), der Antisemitismus („No hate, no fear“) usw. haben erneut die BĂŒhnen der Zivilgesellschaften in den USA und in Europa betreten, dort zugespitzt in der Regierungszeit von donald t.

VerĂ€nderungen heißt beides, Abstand nehmen durch Zeichen und Haltungen, zusammengefĂŒhrt im Protest. Und das ist auch schon der Wesenskern von VerĂ€nderungen, dass sie sicher zu sein scheinen, woher ihre neuen Aussagen, ihre neuen Codes und ihre abstĂ€ndigen Haltungen kommen, genauso unsicher aber sind diese wie auch die Ziele, das „Wohin“ des Protests. Noch ohne Perspektive bleibt das „Wohin“ ohne Aussage. Es stehen Aussagen des Abstands im Raum: Weg mit Rassismus, Schluss mit Antisemitismus usw. aber damit ist gleichzeitig noch keine Perspektive auf ein „Wohin“ formuliert; Heidegger hat das festgehalten in dem schönen Satz zum VerhĂ€ltnis von Irrationalismus und Rationalismus: „Der Irrationalismus – als das Gegenspiel des Rationalismus – redet nur schielend von dem, wogegen dieser blind ist.“ Auf einem Augen zu schielen aber ist erheblich viel besser, als auf beiden Augen blind zu sein, möchte man anschließen und dann doch auf das vertrauen, was mitgenommen wird durch die Codes und Haltungen, sei es in öffentlichen Protesten auf den Straßen, in den KĂŒnsten oder im privaten zivilen Ungehorsam an Herd, Tisch und im Bett. Es ist der Respekt, also die RĂŒcksicht auf die, die ausgeschlossen oder benachteiligt sind wegen Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit. Respekt meint dann eine neue Hinsicht, ein neuer Abstand gegen einen vorhandenen sozio-kulturellen und politischen Abstand, den man mit Diskriminierung umschreibt. Erst in einem neuen Abstand kann das, worĂŒber geredet wird, neu gesehen und als solches auch ĂŒber die Jahre hinweg erinnert werden, bleibt eine Bedeutung als Bedeutung und damit in der Möglichkeit des Sagbaren erinnert.

Was die Google-Untersuchung versuchte, unter Effizienzgesichtspunkten besserer Teamarbeit gegenĂŒber hierarchischen Organisationen mit klarer Entscheidungsdelegation herauszufinden: „As long as everyone got a chance to talk, the team did well. But if only one person or a small group spoke all the time, the collective intelligence declined” Dabei geht es nicht um Recht, sondern mit Respekt ist ein Grundrecht gemeint. Es ist das Grundrecht sozialer Interaktion, der Kern von IntersubjektivitĂ€t, das grundsĂ€tzliche Recht zu existieren. Darauf hat Simone de Beauvoir mit Nachdruck hingewiesen im Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ , dass jede biologische oder physiologische Evidenz Proton Pseudos, ein grundlegender Irrtum ist. Und dieser Irrtum geht soweit, wie Lacan in seinem vielfach strittig diskutierten Satz ĂŒber die Frau: „la femme n’existe pas“ festgehalten hat, dass gerade dann, wenn es unendliche viele Aussagen ĂŒber die Frau gibt – und zu keinem Thema gibt es mehr – und diese Aussagen relationale sind, Aussagen aus dem Blickwinkel des Mannes formuliert, der Abstand so groß sein kann, dass das worĂŒber gesprochen wird, nur in relativen Aussagen und in einer mĂ€nnlichen Deutung existiert. Die Frau existiert nicht, meint also, sie hat keine eigene Sprache, insofern auch sie selbst noch ungewollt die Sprache des mĂ€nnlichen Blickwinkels spricht; das hat viel Widerstand hervorgerufen und so schon einmal den Abstand verkleinert und das geschlossene GefĂ€ĂŸ der Sprache ĂŒber die Frau ein wenig geöffnet; zumindest war der Spalt so groß, dass man hineinschielen konnte in die blumige Welt der Codierung der Frau bzw. der Weiblichkeit.