Irgendetwas führte ihn abwärts. Es war nicht der Gestank und das Stöhnen, dieses röchelnde Würgen an leeren Mägen, dieses bizarre und ekelerregende Bild schierer menschlicher Existenz und gebrochenem Lebenswillen, das eine kollektive Seekrankheit malt. Es war etwas anderes, dass er jetzt auf seiner Yacht wieder spürte. Und er fragte sich, ob dieses Todesverhängnis, welches die meisten sterblichen Menschen in der Mitte des Lebens erfahren, etwas Spezifisches mit der Seefahrt verbindet? Gefahr war ihm nicht fremd. Gefahren hatte er durchlebt, ja manchmal sogar gesucht. Ihm war das Risiko stets eher Freund, denn furchteinflößend. Hier wie damals auf der Fähre, inmitten des weithin wogenden Meeres aber war es anders, hier zählte seine Stärke nicht, nur sein Können. In Grenzen, das wusste er.
Er passierte das Bullauge, das Geländer fest im Griff, und sah kurz dem Ein- und Auftauchen des Schiffes im Focus des winzigen Ausgucks ins offene Weltmeer zu. Die Furcht nicht, nicht die Angst, aber das Verhängnis des Todes hat eine Ă„sthetik, hat seine eigene Schönheit, seinen Rhythmus und Klang wie der Chor, der den Weg der Gefangenen und Todgeweihten an ihr Ziel begleitet. Schicksal kann zum besten aller möglichen Freunde werden, zum wahren Begleiter… da schauderte er erschreckt bis ins Mark zurĂĽck. Er hatte die erste TĂĽre zu einer der vielzähligen Schlafkabinen geöffnet und was er sah und wahrnahm verschlug ihm den Atem und traf ihn wie ein Hammer. Waren das noch Menschen, oder waren das bereits Wesen, aus denen alles Menschliche gewichen war, wo der Tod bereits die BĂĽhne beherrschte.
Er dachte an Hieronymus Bosch, an die Sixtinische Kapelle, ihm schossen die Bilder durch den Kopf, als Truppen des Diktators seines Landes die Übungen der Demokratie auf den Straßen Athens erledigt hatten. Er schlug die Tür zu, um dem Gestank zu entgehen, öffnete sie gleich danach sanft und entschuldigte sich höflich, ohne eine Regung der Angesprochenen zu entdecken.
Es zog ihn weiter abwärts, dorthin wo die LKWs standen. Er sah nur schwankende Formen von Blech, Stahl, Aufschriften und Ketten. Lange Ketten und kurze Ketten, starke Stahlketten, die beidseitig die schweren Fahrzeuge halten sollten. Mehrere dieser simplen, doch technisch ungemein hochentwickelten Werkzeuge menschlicher Intelligenz, die allesamt wie lächerliche Gummifäden ihm hier auf hoher See erschienen, konnten nicht verhindern, dass die Fahrzeuge unter ihren Gewichten hin und her schwankten. Die Ketten schienen sich wie Expander zu dehnen. Jederzeit könnte eine davon brechen und dann war die Katastrophe unvermeidlich. Das sah er, ohne zu denken. Nur eine, wenn reißt, dann schiebt sich das ganze Gewicht des einen LKWs auf den nächst stehenden und unweigerlich müssen dort die Ketten brechen; eine Kettenreaktion wäre unausweichlich, die auch größere Fähren wie diese in den Abgrund ziehen könnte. Und irgendwie glaubte er, schon den Sog des Wassers zu spüren. Hier, inmitten des untersten Decks, glaubte er sich rettungslos verloren dem Grund im Wasser entgegenschweben.
Das metallische Schlagen der Ketten und das quietschende Vibrieren der Federn der LKWs klangen wie Dominanten einer Todesfuge. Hier, ganz nahe am Orchestergraben des Schiffes, konnte er den verlockenden Gesang des ewigen Meeres hören, der die Todesfuge klangvoll überdeckte und hätte fast seinen Frieden gemacht mit seinem Leben, mit seiner bedrängenden Vergangenheit. Er schüttelte sich, rieb sich die Augen und kam wieder zurück in seine Gegenwart. Hastig stieg er die Treppen wieder hoch, schaute auf die Uhr; noch drei Stunden auf diesem Schiff, wie sollte er das aushalten?